Die Klassenfahrt - Was sich liebt, das neckt sich [3/4]

So richtig erholsam waren die vergangenen Stunden natürlich nicht gewesen. Zwar hatte Tim die Nacht nicht in seinem Bett verbracht, aber da waren schließlich noch zehn andere Jungs mit im Zimmer, die nicht gerade leise waren. Kaum lag einer wieder in seinem Bett, stand der nächste auf, um aufs Klo zu gehen, oder um was zu trinken, oder um zu rauchen oder um was auch immer zu tun.
Außerdem hatte ich sehr verwirrendes Zeug geträumt. In meinem Traum hatte Tim mich immer wieder und wieder geküsst. Nur waren wir diesmal nicht auf Klassenfahrt und spielten Flaschendrehen, sondern lagen bei mir Zuhause im Bett. Nach jedem Kuss hatte Tim mir gesagt, dass er nicht will, dass wir uns küssen und dass ich sofort damit aufhören soll. Dabei lag er auf mir und hielt meine Hände fest, sodass ich überhaupt keine Chance hatte, irgendwas dagegen zu tun.
Ich hatte absolut keine Ahnung, was ich von diesem Traum halten sollte und versuchte, ihn ganz schnell wieder zu vergessen.

Es fühlte sich so an, als hätte ich nur eine Stunde geschlafen, aber um mich herum erwachte so langsam schon wieder Leben. Ich seufzte gequält und zog mir den Zipfel meiner Decke vors Gesicht. Da ich nicht damit zugedeckt war, sondern sie zusammengeknüllt vor mir liegen hatte und wie einen anderen Menschen umklammerte, war mir total kalt. Die Tatsache, dass mir das Shirt im Schlaf weit nach oben gerutscht war, machte das auch nicht unbedingt besser.
Ich versuchte, es wieder runter zu ziehen, aber es gelang mir nicht, da ich irgendwie total komisch darin verheddert war und irgendwo festhing. Verpeilt und völlig unkoordiniert, wie ich kurz nach dem Aufwachen immer war, gelang es mir erst nach dem vierten Versuch und nachdem meine Bettdecke auf den Boden und ich fast daneben gefallen war.

Genervt öffnete ich die Augen, um meine Decke wiederzufinden. Dabei sah ich, dass Tim gegenüber von mir auf seinem eigenen Bett saß und mich grinsend in meiner vollen Ungeschicklichkeit beobachtete.
„Was ist?", fragte ich und zog meine Decke wieder nach oben ins Bett.
„Was soll sein?", fragte Tim total unfreundlich zurück.
„Warum glotzt du mich an?"
Er erhob sich von seinem Bett und nahm seine Zigaretten an sich. „Ich glotz dich nicht an. Das hättest du wohl gern, du kleine Schwuchtel", blaffte er und verzog sich nach draußen auf den Balkon.
So langsam konnte ich den Ratschlag meiner Mutter, ihn einfach zu ignorieren, echt nicht mehr weiter befolgen, weil er mich echt aufregte. Also zog ich mir was über und ging ihm nach.

„Warum nennst du mich so?", fragte ich ihn wütend. Tim drehte sich um und sah mich völlig verwirrt an.
„Was willst du hier?"
„Ich will jetzt verdammt nochmal wissen, was für ein Problem du mit mir hast! Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe, wenn du mich nicht magst? Und warum machst du ständig irgendwelche dummen Schwulensprüche, wenn du derjenige bist, der mich viel übertriebener und länger geküsst hat, als es gestern Abend sein musste?"
Tim ging auf mich zu und blies mir so eine fette Rauchwolke ins Gesicht, dass ich davon husten musste. „Du fantasierst dir da was zusammen. Ich war mehr als froh, als es vorbei war und ich bemitleide jedes Mädchen oder eher jeden Jungen, der dein ekelhaftes Geschlabber da ertragen muss."
Dann schnipste er seine Kippe über das Balkongeländer und ging wieder rein.
Fassungslos über diese Beleidigung starrte ich eine ganze Weile nach unten auf die belebte Gasse und brauchte ewig, um mich wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen.
Was sollte ich denn jetzt tun? Es hatte ja offenbar überhaupt keinen Sinn, mit ihm zu reden und das wollte ich auch sowieso garantiert nie wieder tun.

Als ich später unten beim Frühstück saß, sah man mir direkt an, dass irgendwas nicht stimmte, denn ich aß kaum was und sprach auch mit niemandem, sondern starrte einfach nur auf mein angebissenes Brötchen runter und traute mich nicht mal, den Blick zu heben.
Als mein Lehrer fragte, ob irgendwas mit mir sei, verneinte ich jedoch. Aus dem Alter, sowas bei einem Lehrer zu petzen, war ich schließlich schon raus und ich konnte ja auch schlecht sagen, dass Tim mich gestern geküsst hatte und mich jetzt deswegen fertig machte.
Irgendwann guckte ich mich doch mal vorsichtig um und als mein Blick an Tim vorbeihuschte, begann dieser sofort wieder damit, Bibi abzulecken. Diesmal sogar mit etwas mehr Einsatz, als bei den Malen davor. Er hörte erst wieder damit auf, als unsere Lehrerin Frau Peters ihn aufforderte, das zu unterlassen, weil es beim Frühstück mehr als unangemessen sei. Nachdem er dann geantwortet hatte, dass es auch ziemlich unangemessen sei, wenn zwei Lehrer sich zum Ficken im Zimmer einschlossen, statt auf die Klasse zu achten, wurde er aus dem Frühstücksraum geschmissen.
Zwar war ich danach ein kleines bisschen erleichtert, aber so richtig freute mich das auch nicht.

Auch später am Strand war bei mir von guter Laune noch keine Spur. Während die anderen sich im Wasser vergnügten, Beachvolleyball spielten oder sich auf ihren Handtüchern unterhielten, saß ich in Badehose und Shirt am Rand und versuchte, in meinem Roman zu verschwinden.
Es war zwar nur eine Aufgabe beim Flaschendrehen gewesen und niemand aus der Klasse hatte bisher auch nur ein einziges Wort darüber verloren, aber trotzdem schämte ich mich heute deswegen fast zu Tode.
Wenn es für Tim so offensichtlich gewesen ist, wie wenig ich küssen konnte und er sogar sagte, es sei eklig gewesen, hatten die anderen das bestimmt auch soweit mitbekommen. Und da jeder irgendjemanden aus einer anderen Klasse kannte, würde sich das wahrscheinlich irgendwann im ganzen Dorf herumgesprochen haben und ich würde noch als Jungfrau von der Schule gehen müssen.

Ich war schon so weit in Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker" - unser aktuelles Stück im Schauspielkurs - vertieft, dass ich die Person über mir erst bemerkte, als ein paar Wassertropfen auf die Seiten fielen und diese an den Ecken durchweichten.
„Boah ey, was...", meckerte ich, erstarrte dann aber sofort, als ich die Person, die direkt neben mir stand, als Tim erkannte.
„Was machsten da?", fragte er und tropfte mein Buch und mich weiter mit kaltem Meerwasser voll.
Ich rückte ein Stück zur Seite und versuchte, ihn zu ignorieren. Doch er ließ sich natürlich nicht sofort abwimmeln, sondern stelle sich direkt vor mich.
„Alter, du stehst mir in der Sonne, hau ab", sagte ich und drehte mich von ihm weg. Dass ich nicht mit ihm reden, geschweige denn ihn sehen wollte, schien ihn nicht im geringsten zu interessieren, denn nun setzte er sich einfach direkt neben mich. So nah, dass unsere Oberschenkel sich sogar berührten.
Völlig genervt legte ich mein Buch auf die Seite, um es vorm endgültigen Wassertod zu beschützen und sah Tim ins Gesicht. „Was hast du denn für Schmerzen? Verpiss dich endlich!"
Er guckte erst etwas erstaunt, dann starrte er auf seine Knie runter und blieb stumm. Ich wartete noch ein paar Sekunden ab, dann stand ich auf.
„Ähm... Lukas, hat dich das verletzt, was ich da auf dem Balkon zu dir gesagt habe?"

Statt ihm zu antworten, schüttelte ich nur ungläubig den Kopf und verzog mich rüber zu Tobi, Carlo und Dennis. Was war das denn für eine dumme Frage? Wen würde das nicht verletzen? Wenn ich ihm erst erklären musste, dass das verletzend war, war er wirklich noch viel blöder, als ich bisher gedacht hatte.

Ich redete kurz mit meinen drei Freunden, driftete aber schnell ab und hörte gar nicht mehr richtig zu. Tim hatte mich gerade zum allerersten mal mit meinem Vornamen angesprochen. Sonst nannte er mich immer nur beim Nachnamen. Hatte das irgendwas zu bedeuten? Wenn ja, was?
Wollte er sich vielleicht gerade entschuldigen? Tat ihm das wirklich leid, was er gesagt hatte?
Ich beobachtete Tim dabei, wie er sich wieder von meinem Handtuch erhob, nachdem er einen skeptischen Blick auf mein Buch geworfen hatte.
„War ja klar, dass du damit nichts anfangen kannst", murmelte ich leise vor mich hin.
„Was wollte der gerade von dir?", fragte Tobi neugierig, als ich Tim dabei zuschaute, wie er sich zu ein paar Mädels setzte.
„Weiß ich nicht, ich hab nicht mit dem geredet", antwortete ich ihm ein bisschen ruppiger, als beabsichtigt.
Tobi hob abwehrend die Hände in die Luft. „Okay, okay... ich frag nicht mehr."
„Sorry", seufzte ich und stand auf, um zum Wasser hin zu gehen, bevor ich aus lauter Frust noch Streit mit jemandem anfing.
Doch auch dort hatte ich nicht lange meine Ruhe, weil Tim mit Bibi im Arm an mir vorbei lief, um mit ihr schwimmen zu gehen.

Ich zog mein Shirt aus, warf es hinter mich in den warmen Sand und setzte mich ganz nach vorne ins Wasser, um die beiden ein bisschen zu beobachten.
Bibi machte immer wieder Annäherungsversuche, aber Tim wollte sich nicht so richtig darauf einlassen. Er ließ sich zwar ab und zu küssen, aber wenn sie ihn anfasste, nahm er entweder ihre Hände weg oder lenkte sie irgendwie anderweitig davon ab.

Irgendwann hatten die beiden offenbar genug Wasser abbekommen und sie kamen wieder Richtung Ufer. Obwohl Bibi einen sehr knappen Bikini trug, schenkte ich ihr kaum Beachtung, weil mein Blick an Tim hängen blieb. Seine Haare standen ihm kreuz und quer vom Kopf ab, das Wasser lief glitzernd an seinem nassen Körper nach unten und seine Badehose hing gefährlich tief, so dass seine weit hervorstehenden Hüftknochen komplett frei lagen und weiter unten ein paar Härchen zu erkennen waren.
Ich starrte ihn an und konnte absolut nichts dagegen tun. Ich spürte mein Herz ein wenig schneller schlagen und musste an diesen Kuss zurückdenken, ob ich wollte, oder nicht. Sogar meine Lippen kribbelten ein bisschen, als ich mich daran zurückerinnerte.
Irgendwie hätte ich ja schon gerne gewusst, was er mir vorhin sagen wollte. Und irgendwie wollte ich auch, dass er sich bei mir entschuldigte. Aber warum das so war, konnte ich mir nicht erklären. Ebenso wenig konnte ich mir erklären, warum ich mir gerade eine Wiederholung von dem Kuss wünschte, obwohl er gesagt hatte, er sei eklig gewesen. Außerdem hasste er mich und ich hasste ihn. Warum in aller Welt sollten wir uns da nochmal küssen? Davon abgesehen war es ja kein richtiger Kuss, weil wir das nur gemacht haben, um diese kindische Aufgabe beim Flaschendrehen zu erfüllen. Also haben wir doch theoretisch nur so getan, als ob wir uns küssen würden. Oder?

Tim und Bibi kamen immer näher und ich zwang mich dazu, auf ihren gigantischen Busen zu schauen. Mein Blick rutschte aber immer wieder wie von selbst auf Tims nackten, nassen Oberkörper. So im direkten Vergleich fand ich seinen Körper irgendwie viel schöner, als ihren.
Warum fand ich ihn überhaupt schön? Er nervte mich und ich konnte ihn nicht leiden. Normalerweise fand ich auch die hübschesten Mädchen abstoßend, wenn sie einen beschissenen Charakter hatten. Und den hatte Tim ja wohl auf jeden Fall.

Als Tim mich vorne im flachen Wasser sitzen sah, griff er sofort nach Bibis Hand und zog sie ein Stück näher zu sich heran. So langsam bekam ich den Eindruck, dass er mit Absicht irgendwas mit ihr machte, wenn ich es mitbekam. Aber warum sollte er das denn tun? Wahrscheinlich, weil er mich ja immer als Loser darstellen wollte, der kein Mädchen bekam. Da wollte er mir bestimmt beweisen, dass das bei ihm nicht der Fall war.

Die beiden waren nun direkt auf meiner Höhe und Tim flüsterte Bibi irgendwas ins Ohr, woraufhin sie ein schrilles, nerviges Kichern von sich gab. Alleine dieser Ton machte mich schon aggressiv. Dazu kamen noch ihre kaputt gefärbten blonden Haare, die sie zottelig bis über die Hüfte trug, der Busen, der so krass nach oben geschnallt war, dass es wirkte, als hätte sie mit sechzehn schon fünf OP's gehabt und das total übertriebene und billige Make Up. Auch bei anderen achtete sie nur auf Äußerlichkeiten und jeder, der ihr nicht ins Schema passte, wurde gnadenlos gemobbt.
Bibi war einfach eine durch und durch unangenehme Person und ich fand, sie passte somit perfekt zu Tim.
Eigentlich wollte ich meinen Blick schon abwenden, als er mich ansah. Doch dann beschloss ich, dass ich nicht immer den Kopf einziehen konnte. Denn er konnte mich nur zum Opfer machen, wenn ich mich selbst zum Opfer machen ließ. Also schaute ich ihn mit festem Blick an. Ich bemerkte, dass er mir gar nicht in die Augen schaute. Sein Blick wanderte mehrmals an meinem Oberkörper hoch und runter und auch, als er schon an mir vorbei war, drehte er seinen Kopf noch ein wenig, um mich länger ansehen zu können.
Das seltsamste an der Sache war, dass er Bibi zeitgleich ein Kompliment für ihren Arsch machte, obwohl er gar nicht zu ihr hinsah.

Eigentlich konnte mir ja auch egal sein, wo der Idiot hinsah. Warum interessierte mich das überhaupt?
Ich versuchte, meinen Kopf für einen Moment auszuschalten und konzentrierte mich ganz alleine auf die Umgebung um mich herum. Es ging nur ein leichter Wind, weswegen das Meer vor mir ziemlich ruhig war. Nur ein paar ganz sanfte Wellen schafften es ab und an zu mir rüber. Ich schloss die Augen und atmete die klare Luft ein, während ich ein paar Möwen zuhörte, die weit über mich hinweg flogen. Es war heute sehr heiß, darum musste ich mir ab und zu Wasser über den Oberkörper laufen lassen, um mich ein wenig abzukühlen. Das Rauschen der Wellen, der warme Sand unter mir und der Geruch nach grenzenloser Freiheit brachten mich in wenigen Minuten wieder vollkommen runter. Deshalb war ich sehr froh, dass ich es auch Zuhause nicht weit bis zum Meer hatte. Ganz oft, wenn ich Zeit für mich brauchte, fuhr ich zu dieser einen bestimmten Stelle, an die sonst fast nie jemand kam. Neben diesem Plätzchen am Wald, an dem Tim mich seltsamerweise gezeichnet hatte, war das mein absoluter Lieblingsplatz. Dort gab es nur Ruhe und Frieden, das Meer und mich. Ich wusste jetzt schon, dass ich das mit am meisten an meiner Heimat vermissen werde, wenn ich nach dem Abi nach Berlin ging, um dort meine Wunschausbildung zu machen.

Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich ein Pärchen, das Hand in Hand am Wasser entlang ging. Immer wieder blieben sie stehen, um sich verliebt anzusehen und zu küssen. Ich fragte mich, wann ich wohl endlich mal zu diesen glücklichen Menschen gehören würde. Mein bisheriger Erfolg in diese Richtung ließ nämlich zu wünschen übrig.
Bis auf ein bisschen betrunkenes unkoordiniertes knutschen und fummeln mit Mädchen, die mich nicht wirklich interessierten, hatte ich noch nichts zustande gebracht. Ich hatte schon für die ein oder andere geschwärmt, aber so richtig verliebt war ich noch nie gewesen.
Etwas weiter entfernt sah ich ein anderes Pärchen im Wasser stehen, das sich gerade leidenschaftlich küsste. Als sie den Kuss, der sehr innig aussah, beendet hatten und sich auch die andere Person jetzt zeigte, erkannte ich, dass es sich bei den beiden um zwei Männer handelte.
Warum war der Kuss mit Tim für mich so viel aufregender, als die ungeschickten Küsse, die ich mit Mädchen hatte? Warum spürte ich ihn noch immer heiß auf meinen Lippen und konnte mich an alles ganz genau erinnern, wenn ich mich zeitgleich nicht daran erinnern konnte, dass mir ein Kuss mit einem Mädchen jemals so richtig gut gefallen hatte?

„Lukas?"
Ich drehte mich zur Seite und sah Tina, das Mädchen aus der Klasse, mit dem ich mich am besten verstand, neben mir sitzen.
„Oh, ich hab dich gar nicht kommen hören."
„Du sahst auch ziemlich weggetreten aus", antwortete sie grinsend.
„Kann sein", seufzte ich.
„Was ist denn los mit dir? Du bist schon den ganzen Tag so komisch drauf."
„Nichts, ich bin ganz normal."
Nachdenklich sah sie eine kurze Zeit aufs Meer hinaus, dann schaute sie mich wieder an.
„Stimmt das, dass du gestern beim Flaschendrehen Tim geküsst hast?"
„Na super, weiß es jetzt jeder, der gestern nicht dabei war? Wo warst du eigentlich?"
„Ich war mit ein paar von den Mädels in einer Cocktailbar um die Ecke. Eigentlich sollten wir ja so spät nicht mehr raus, aber die Lehrer waren irgendwie verschwunden, also war es uns egal."
Ich grinste ein bisschen und fummelte dabei an einem besonders hübschen Stein herum, den ich gerade unter mir aus dem Wasser gezogen hatte.
„Äh ja, die waren mit sich selbst beschäftigt, sagt man."
Tina lachte und begann ebenfalls damit, ein paar Steine aus dem Sand herauszusuchen.
„Ja und, wie war das, Tim zu küssen?", fragte sie mich nach ein paar Minuten schweigen.
„Scheiße", log ich. „Ich bin ihm viel näher gekommen, als ich es jemals wollte. Eigentlich bin ich froh, wenn ich nicht mit ihm die gleiche Luft atmen muss."
„Ist das der Grund, weswegen du heute so drauf bist?"
„Nein. Keine Ahnung. Ach, er regt mich auf. Du kriegst ja mit, wie er immer zu mir ist. Und heute Morgen hat er dann gesagt, dass ich eklig küsse und dass er Mitleid mit jedem Mädchen hat, das in der Zukunft von mir geküsst wird."
Eigentlich hatte Tim von Mädchen und Jungs gesprochen, aber den Teil ließ ich aus.
„Das ist echt ziemlich gemein gewesen", sagte Tina mitleidig und legte mir eine Hand auf den Arm.

„Ähm... Tina. Du... du stehst nur auf Mädchen, oder?", fragte ich, nachdem ich ewig gebraucht hatte, mich dazu zu überwinden.
„Ja. Wieso?"
„Würdest du mich vielleicht mal küssen und mir dann sagen, ob das wirklich so eklig ist?", fragte ich und starrte dabei weit weg aufs Wasser hinaus.
„Lass dir doch nicht so einen Quatsch einreden. Du küsst bestimmt nicht eklig."
„Woher willst du das wissen?"
„Wenn es dich beruhigt, küss ich dich eben."

In Wahrheit ging es mir gar nicht so sehr darum, zu erfahren, ob ich küssen konnte, oder eben nicht. Viel interessanter war für mich, was ich dabei fühlen würde. Tina war mit Abstand das Mädchen, welches ich in meiner Klasse am hübschesten fand. Wenn ich was fühlen würde, dann am ehesten bei ihr.
„Gleich hier?", fragte sie und sah mich erwartungsvoll an. Ich drehte mich und sah mich ein wenig um.
„Ja, warum nicht? Es ist grade keiner hier und es guckt auch niemand her."

Ganz langsam rutschte sie komplett an mich heran und nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände. Wir grinsten uns nochmal kurz an, dann küssten wir uns vorsichtig. Erst langsam und testend, mit der Zeit dann etwas intensiver und mit Zunge. Und obwohl sie mich sogar an Nacken und Rücken streichelte und ich meine Hände an ihrem hübschen Körper auf und ab wandern ließ, spürte ich rein gar nichts. Keine Aufregung, kein Kribbeln, kein Herzklopfen. Absolut überhaupt nichts.
Als ich merkte, dass das hier gerade gar nichts brachte, schob ich sie ein Stück von mir weg.

„Seltsam", murmelte ich und starrte auf ein Segelboot, das ganz hinten am Horizont vor der roten Abendsonne entlang schipperte.
„Nein, gar nicht", meinte Tina.
„Was?"
„Das war nicht seltsam."
„Doch, war es."
„Nein, Lukas. Hör auf, du küsst nicht seltsam."
„Ähh, achso", sagte ich schnell, als mir der offizielle Grund für diesen Test wieder einfiel. „Wirklich nicht?"
„Naja, man merkt halt, dass du kaum Erfahrung hast. Aber es war nicht eklig. Überhaupt nicht, ehrlich!"
„Hm. Okay. Danke."

Später, als wir wieder in unsere Jugendherberge zurückgefahren waren, stand ich in einer Duschkabine in der großen Gemeinschaftsdusche und war verwirrter, als ich es sowieso schon die ganze Zeit über war. Vielleicht hatte ich ja nur nichts bei Tina gespürt, weil ich sie nicht liebte? Das machte aber irgendwie auch keinen Sinn. Bei Tim hatte ich eindeutig ein Kribbeln gehabt und den liebte ich natürlich nicht. Außerdem musste man sich ja auch nicht zwangsläufig lieben, wenn man sich küsste, oder miteinander ins Bett ging, oder was auch immer. Aber wenn ich bei Tina nichts spürte, würde ich wahrscheinlich bei keinem Mädchen was spüren. So war es ja bisher auch gewesen.

Eigentlich war ich schon längst fertig, aber da ich das Gefühl hatte, dass das Wasser meine Gedanken vielleicht ein bisschen klären könnte, stellte ich die Dusche noch ein bisschen kälter und blieb eine halbe Ewigkeit weiter darunter stehen. Außerdem war gerade niemand hier, der die Dusche brauchte und abgesehen davon gab es noch vier andere unbesetzte Kabinen im Raum.
Ich weiß nicht, wie lange genau ich da stand. Irgendwann wurde ich aus meinen Gedanken, beziehungsweise aus meinen Nichtgedanken gerissen, weil jemand nicht gerade sanft die Tür öffnete und wieder hinter sich zuknallte.
Ich drehte das Wasser aus und trocknete mich grob ab, dann ging ich aus meiner Kabine raus und stand direkt vor Tim. Normalerweise machte es mir überhaupt nichts aus, wenn mich jemand nackt sah. Aber bei ihm war es mir total unangenehm, weswegen ich mir hektisch mein Handtuch, das ich nur in der Hand gehalten hatte, um die Hüfte wickelte.

„Bah, Alter. Muss das sein?", fragte er und verzog das Gesicht.
„Dann... dann... guck doch... ähm... halt wo anders hin", stotterte ich peinlich berührt und ärgerte mich im gleichen Moment darüber, dass ich mich jetzt schon wieder so von ihm einschüchtern ließ.
„Wie denn, wenn du nackt fast in mich rein rennst...", sagte er und zupfte an meinem Handtuch, dass es einfach so auf den Boden fiel.
„Du bist so ein Arschloch", sagte ich und hob es wieder auf. Da es nun völlig nass war, war es unbrauchbar, also nahm ich mir schnell mein Shirt und die Boxershorts, die ich vorhin auf einen Hocker gelegt hatte und zog mich so hektisch an, dass ich mich auf dem rutschigen Boden mehrmals fast ablegte.
„Ah, bücken in der Dusche, damit kennste dich bestimmt gut aus, hm?", kommentierte Tim die Sache. „Bist du 'ne Schwuchtel, oder nicht? Bestimmt, oder?"
Ich wollte ihm in diesem Moment so viel sagen, aber ich brachte kein einziges Wort über meine Lippen. Stattdessen wurde ich so wütend, dass ich schon leicht deswegen zitterte. Außerdem fühlte ich mich so unfassbar unwohl, weil er mich gerade einfach so entblößt hatte und dass er mich ständig so abfällig als Schwuchtel bezeichnete, verletzte mich total.
Ich hatte es vorher nie erlebt, dass jemand so dermaßen gemein zu mir war. Mich mochte zwar nicht jeder, aber ein solcher Hass wurde mir noch nie entgegen gebracht und ich wusste absolut nicht, wie ich noch weiter damit umgehen sollte.
Tim schikanierte mich zwar seit vier Wochen in der Schule, aber immer nur kurz und Zuhause sah ich ihn ja dann auch nicht mehr. Aber jetzt hier in Amsterdam war er nun schon seit zwei ganzen Tagen immer in meiner Nähe und das war mir in diesem Moment viel zu viel.
Wenn ich nicht sofort den Raum verlassen würde, würde ich wohl einfach vor ihm in Tränen ausbrechen, was ich an meiner bereits bebenden Unterlippe merken konnte.
Mittlerweile war es mir auch total egal, dass mir der Kuss eigentlich irgendwie gefallen hatte. Ich wollte nur noch weg von ihm und das alles ganz schnell wieder vergessen.

„Heulst du jetzt etwa?", fragte Tim, dem mein Zustand offenbar nicht entgangen war.
„Nein!", sagte ich mit bemüht fester Stimme, spürte aber, wie mir eine Träne aus dem Augenwinkel rollte.
Tim sah mich leicht geschockt an, als ob er sich gerade ehrlich wundern würde, warum ich so reagierte. „Oh, scheiße", sagte er leise.
Ich schluckte schwer und ging ein paar Schritte nach hinten. „Wenn du... wenn du mich so scheiße findest... dann... dann... warum", stotterte ich angestrengt und meine Stimme brach immer wieder.
Tim kam mit ziemlich neutraler Miene auf mich zu, während ich immer weiter nach hinten ging. So weit, bis ich mit dem Rücken an die Wand traf. Wie weit würde er noch gehen? Wollte er mich vielleicht zur Krönung auch noch zusammenschlagen?
„Ähm, sag mal, hast du Angst vor mir?", fragte er mich total erstaunt.

„Nein! Verdammt, was willst du? Lass mich doch einfach in Ruhe. Warum tust du das alles? Was hab ich dir denn getan?", fragte ich, als ich meine Stimme einigermaßen wiedergefunden hatte.
Mittlerweile stand er extrem nah vor mir. Viel zu nah.
„Lukas. Es... es tut mir Leid, okay?"
„Dann lass es doch einfach sein!"
„Ich weiß ja auch nicht, warum ich das mache. Es ist nur... es ist nur so, dass... ach verdammt... ich..."
„Was denn?", fragte ich und drückte ihn ein Stück nach hinten, weil ich seine Nähe nicht eine Sekunde länger ertragen konnte.
„Seit ich in deiner Klasse bin... ich... also... hatte das noch nie bei einem... bei einem...", murmelte er leise vor sich hin. Dann atmete er tief durch und umarmte mich einfach. Völlig verwirrt und unfähig, mich zu bewegen, blieb ich einfach stehen und ließ ihn machen. Doch der scheinbare Anflug von sowas ähnlichem wie Frieden hielt nicht lange und er stieß mich von sich weg, als ob ich ihn gerade zu einer Umarmung gezwungen hätte.
„Ach fick dich, ich mag dich einfach nicht, das ist alles, okay? Du gehst mir abartig auf den Sack, Lukas! Und du kannst deine Ruhe haben, ja?"
„Was ist denn mit dir kaputt?", fragte ich fassungslos und hielt mir die Schulter fest, die gerade ziemlich heftig gegen die Wand gekracht war.
„Das weiß ich doch nicht! Sag du es mir!", schrie er plötzlich.
„Warum umarmst du mich und sagst mir dann, dass du mich hasst und schubst mich gegen die Wand?"
„Ich hasse dich nicht, Lukas! Ich hasse das, was du mit mir machst!"
Mir wurde das ganze so langsam zu verrückt und es reichte mir nun vollkommen. „Aber ich mach doch gar nichts, verdammte Scheiße! Du bist doch völlig gestört!", sagte ich und ging kopfschüttelnd Richtung Tür.

Als ich die Türklinke schon fast runter gedrückt hatte, wurde ich nochmal zurück gezogen und an die Wand gedrückt. Bevor ich realisieren konnte, was passierte, küsste dieser Gestörte mich.
Ich wollte ihn nicht so nah bei mir haben und gleichzeitig war es mir nicht nah genug.
Ich wollte, dass er sofort damit aufhörte und gleichzeitig wollte ich, dass er ewig damit weitermachte.
Das gleiche Kribbeln wie gestern fand den Weg zurück in meinen Körper, während er mich leidenschaftlich küsste und damit begann, unter meinem Shirt rumzufummeln.
Was war bloß los mit ihm? Was war nur los mit mir? Warum wollte ich mich von jemandem küssen lassen, der mich wie Scheiße behandelte?
„Ich hass dich nicht", murmelte er zwischen den Küssen gegen meine Lippen. „Und deswegen... hasse ich dich... weil ich dich absolut... nicht... hasse."

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