Die Klassenfahrt - Was sich liebt, das neckt sich [2/4]
Als ich meine Runde durch den Bus beendet hatte und feststand, dass - leider - alle angemeldeten Schüler anwesend waren, fuhr unser Bus los in Richtung Holland.
Ein halbe Stunde lang hatte ich noch ekelhafte Schmatzgeräusche ertragen müssen, weil Tim Bibi auf dem Sitz vor mir fast verschlungen hatte. Dann war er endlich eingeschlafen. Das wunderte mich nicht im geringsten, denn wahrscheinlich hatte er die Nacht vorher bei den Asis am Bahnhof verbracht und Heroin geraucht, oder er ist halt irgendeiner anderen Freizeitbeschäftigung dieser Art nachgegangen. Irgendwie fände ich das nämlich sehr passend für ihn.
„Lass dich nicht ärgern", flüsterte Tobi, dem mein angepisster Gesichtsausdruck aufgefallen war.
„Ich lass mich gar nicht ärgern", behauptete ich.
Tobi drehte sich ein Stück zu mir hin. „Naja, sieht aber anders aus."
„Ich frag mich halt...", setzte ich an, dann rückte ich noch ein Stück zu Tobi rüber, damit auch nur er alleine meine Worte hören konnte. „Ich frag mich halt, was ich dem getan habe. Ich wurde noch nie in meinem Leben irgendwo gemobbt, oder so was in der Art. Ich versteh es einfach nicht."
„Keine Ahnung. Weiß ich auch nicht", war Tobis geistreiche Antwort. „Aber du solltest dir das nicht bis zum Abi gefallen lassen. Er ist jetzt gerade mal seit vier Wochen in der Klasse, da kommen noch drei Jahre."
Ich kicherte und winkte ab. „Als ob der so lange bei uns bleiben würde..."
Als sich Tim vor mir ein bisschen streckte, hätte ich ihn am liebsten direkt wieder bewusstlos geschlagen. Aber natürlich fiel diese Option aus. Er drehte sich kurz um und sah, dass Tobi und ich unsere Köpfe noch immer recht nah beieinander hatten, damit er uns nicht hören konnte.
„Uh, wird hier gleich geknutscht?", fragte er und grinste.
Ich wollte eigentlich was sagen, entschied mich dann aber doch dagegen. Meine Mutter sagte immer, dass man Menschen mit Ignoranz am meisten straft. Vielleicht hörte er ja tatsächlich irgendwann auf, wenn ich ihn einfach nicht mehr beachtete?
Ein paar Sekunden sah Tim mich noch abwartend an, dann schnaufte er genervt die Luft aus und setzte sich wieder auf seinen Platz.
Zumindest den Rest der Fahrt ließ er mich in Ruhe und ich konnte entspannt ein bisschen Musik hören und aus dem Fenster schauen, ohne von ihm genervt zu werden.
Nach rund fünf Stunden kamen wir an unserer Jugendherberge in Amsterdam an. Als ich die Straßen während der Fahrt so betrachtet hatte, war auch ein kleines bisschen von meiner Vorfreude wieder zurückgekehrt. Blieb nur zu hoffen, dass mir diese nicht gleich wieder vermiest werden würde.
Der Fahrer ließ uns direkt vor dem Haus aussteigen, weil die enge Gasse, in der die Jugendherberge lag, viel zu schmal war, um dort mit dem Bus parken zu können. Von außen sah es gar nicht mal so schlecht aus. Eigentlich sogar genau so, wie es auf den Fotos im Internet angepriesen wurde.
Das Haus wirkte von außen ziemlich alt, hatte aber trotzdem eine sehr gepflegte Fassade. Wie die meisten Häuser, die direkt an einer der Grachten lagen, war es eher schmal, dafür aber sechsstöckig. Direkt gegenüber war eine kleine Brücke, die zum anderen Ufer der Gracht führte.
Im Wasser lagen viele verschiedene Boote, unter anderem ein paar sehr hübsche Hausboote. Außerdem waren da noch etwas größere Boote, mit denen Touristen über die Grachten geschippert wurden, und etwas weiter entfernt konnte ich auch ein paar Tret- und Ruderboote entdecken.
Was mir außerdem sofort auffiel war, dass in dieser Stadt hier viel mehr Leute mit Fahrrädern unterwegs waren, als in Berlin. Ich stand zwar erst knapp zwei Minuten auf der Gasse, um mir anzuschauen, wo genau wir hier gelandet waren, wurde aber schon drei mal fast von eilig vorbeirauschenden Fahrradfahrern umgefahren.
Es standen einige, noch immer satt grüne Bäume am Ufer, in denen ich ein paar Lichterketten erkennen konnte. Zudem gab es viele kleine Laternen, die entweder direkt an der Gasse standen oder an Häusern angebracht waren. Ich stellte mir die Umgebung hier im dunkeln extrem schön vor und war schon ein wenig gespannt darauf, ob das heute Abend wirklich so toll aussah, wie jetzt in meiner Fantasie.
Was ich ziemlich verwunderlich fand war, dass die Parkbuchten für die Autos nur mit einer ganz niedrigen Eisenstange abgesichert waren, bevor es einen knappen Meter nach unten ins Wasser ging. Wahrscheinlich hatte der ein oder andere Fahranfänger hier beim Parken schon sein Auto in der Gracht versenkt.
„Lukas, kommst du jetzt auch mal?", fragte mein Klassenlehrer etwas ungeduldig und ich löste mich aus meinen Gedanken, um festzustellen, dass alle anderen schon in der Jugendherberge waren und ich der einzige war, der noch immer draußen vor der Tür stand.
„Träumer", seufzte Herr Clement und schob mich grinsend über die Türschwelle.
Als wir unsere Zimmerschlüssel ausgehändigt bekamen, fiel mir so ziemlich alles aus dem Gesicht, als mir eine Sache klar wurde. Ich musste gar nicht erst fragen, in welchem Zimmer Tim sein würde, denn ich hatte die Klassenfahrt mit geplant und wusste daher schon, dass wir aus Kostengründen nur drei Zimmer genommen hatten. Eins für zwölf Jungs, eins für zwölf Mädchen und eben ein Zweibettzimmer für die beiden Lehrer, die uns begleiteten.
Vor den Sommerferien wäre das kein Problem gewesen, weil wir, auch wenn wir nicht alle super gut befreundet waren, miteinander auskamen. Jetzt jedoch, wo Tim ein paar von den Jungs um sich geschart hatte, gab es mehr oder weniger zwei Lager mit viel Konfliktpotenzial dazwischen.
Da mir die Stadt aber auf den ersten Blick total gut gefallen hatte, wollte ich mir auf keinen Fall die Tage komplett versauen lassen und einfach damit weitermachen, Tim weitestgehend zu ignorieren. Im Bus hatte er ja deswegen direkt aufgehört, das würde dann hoffentlich auch in Zukunft so sein.
Als dann auch der Letzte seinen Schlüssel bekommen hatte, schleppten wir uns und unser Gepäck in den fünften Stock und begutachteten unser Zimmer. Obwohl es auf so viele Personen ausgelegt war, war es auf den ersten Blick gar nicht so ungemütlich, wie gedacht. Der große Raum hatte hellgrüne Wände und der Boden war mit dunklem PVC in Holzoptik ausgelegt. Zur Gracht hin gab es eine riesige Fensterfront und sogar einen Balkon, auf dem wir locker alle Platz finden würden, wenn wir das wollten. Als ich mich testweise auf eins der Betten setzte, stellte ich fest, dass sie viel bequemer waren, als man das von Jugendherbergen so kannte. Es standen sogar ein paar kleinere Pflanzen herum und einige Bilder waren aufgehängt worden, was dem Raum eine persönliche Note verlieh. Obwohl die Zimmer verglichen mit anderen Unterkünften in Amsterdam eher zu den billigeren gehörten, gaben sich die Besitzer des familiengeführten Hauses sehr viel Mühe, damit es die Gäste hier gemütlich hatten.
Inzwischen war ich doch mehr froh, als genervt darüber, dass ich mitgefahren war. Auch der Umstand, dass Tim sich das Bett direkt gegenüber von mir gekrallt hatte, juckte mich gerade gar nicht. Wenn er mich unbedingt beim Schlafen beobachten wollte, sollte er das eben tun.
Für den ersten Tag hatten wir keine gemeinsamen Pläne für die Klasse gemacht, sondern jeder durfte tun, was er wollte. Lediglich zum Abendessen sollten wir alle anwesend sein, damit wir die Rahmenbedingungen für den folgenden Tag besprechen konnten.
Nachdem wir noch von den Lehrern davor gewarnt wurden, dass hier wirklich sehr ruppig Fahrrad gefahren wird und man dabei keinerlei Rücksicht auf Touristen nimmt, machte ich mich mit Tobi und zwei anderen Jungs, Dennis und Carlo, auf den Weg.
Natürlich bekamen wir die Auflage, uns von den Coffeeshops fernzuhalten, aber nach einer Touri-Fahrt durch die Grachten - auf die ich bestanden hatte, damit wir wenigstens irgendwas kulturelles gemacht hatten - fanden wir uns, wie war es auch anders zu erwarten, trotzdem in einem dieser Läden wieder. Wir hatten ein wenig suchen müssen, aber am Ende dann doch noch einen Besitzer gefunden, der uns minderjährig in der letzten Ecke was rauchen ließ.
Irgendwie fanden wir, gehörte das doch zu einem echten Amsterdam-Trip dazu.
Während ich das zweite Mal schwach an dem Joint zog, stellte ich mir vor, dass Tim bestimmt auch gerade in einem dieser Schuppen saß, oder dort vielleicht auch schon unter dem Tisch lag.
„Als ob ich so langweilig wäre", motzte ich, während ich den Joint an Tobi weitergab. Gut möglich, dass das Gras diesen Wunsch in mir weckte, aber ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, mit Tim reden zu müssen. Ich hatte überhaupt keine Lust, die nächsten drei Jahre in einem solchen Unfrieden zu leben und wollte endlich von ihm wissen, was sein gottverdammtes Problem mit mir war. Und was eignete sich dafür besser, als eine Klassenfahrt?
„Vielleicht sollte ich mal mit ihm reden", sagte ich und sah Tobi todernst in die Augen. Dieser guckte mich auch kurz ernst an, brach dann aber in schallendes Gelächter aus, das er erst fünf Minuten später wieder, mit Tränen in den Augen, stoppen konnte. Auch wir anderen drei hatten uns davon anstecken lassen und lagen uns amüsiert in den Armen.
„Nein, jetzt mal im Ernst", meinte ich dann und hielt mir meinen vor Lachen schmerzenden Bauch fest. „Ich will wissen, was er sich bei dem Scheiß denkt, Mann."
„Wahrscheinlich gar nichts", antwortete Tobi und rieb mit seinem Finger ganz fasziniert meine Nasenspitze.
„Alter, was machst du?", wollte ich lachend wissen und schubste seine Hand weg.
„Du hast eine wirklich...interessante Nase, Lukas!"
„Und du hast, glaube ich, genug geraucht, mein Lieber", entgegnete ich und befühlte ebenfalls leicht fasziniert meine Nase.
Eine Stunde später saßen wir dann in der Pizzeria, die ganz in der Nähe unserer Unterkunft gelegen war. Es war ein absolutes Wunder, dass wir es pünktlich zur vereinbarten Zeit geschafft hatten, dort hin zu kommen. Als wir den Coffeeshop vorhin verlassen hatten, hatte sich schnell herausgestellt, dass Carlo gerade das erste Mal in seinem Leben gekifft hatte. Hätte er uns das vorher verraten, hätte man ihn ein wenig bremsen können, aber er hatte gezogen, als gäbe es keinen Morgen mehr und wirkte ziemlich sicher, in dem, was er da getan hatte. Die Tatsache, dass er dann eine viertel Stunde lang mit dem Oberkörper über einer Mauer hing, um in eine Gracht zu kotzen, sprach dann halt eine andere Sprache.
Als das endlich überstanden war, begann Dennis damit, Tauben extrem lustig zu finden. Wann immer eine Taube unseren Weg kreuzte, brach er Tränen lachend zusammen und konnte uns nicht mal genau erklären, was genau er da so lustig fand. Wir anderen wurden dann natürlich jedes mal von seinem lauten Gelächter angesteckt, sodass wir nur sehr schleppend voran kamen, denn es gab wirklich sehr, sehr viele Tauben hier.
Da wir uns zu viert direkt zwei komplette Familienpizzen reinzogen, lag es natürlich auf der Hand, wo wir gerade gewesen sind. Unser Lehrer schüttelte jedoch nur grinsend den Kopf und nahm das schweigend zur Kenntnis. Er war noch ziemlich jung, gerade mal seit wenigen Jahren als Lehrer an unserer Schule und somit die ideale Aufsichtsperson auf dieser Klassenfahrt. Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass die zweite Lehrkraft, unsere Englischlehrerin Frau Peters, hoffnungslos in ihn verknallt war und ohnehin nur Augen für ihn hatte, sodass auch sie in den nächsten Tagen nicht den Part der Spaßbremse übernehmen würde.
„Wenn du weiter so frisst, wissen die doch direkt, dass wir gekifft haben", raunte Tobi mir zu und lachte sich dann lautstark kaputt.
„Wenn du weiter so irre vor dich hin gickelst, dann erst recht", gab ich zurück und sah zufällig zu Tim rüber, der etwas schräg gegenüber von uns saß. Er war schon fertig mit seinem Essen und knutschte mal wieder mit Bibi herum. Besser gesagt, Bibi knutschte mal wieder mit ihm herum. Ab und zu hörte man ein nerviges Schmatzen, das aber eher nur von ihr auszugehen schien. Tim bewegte nämlich seine Lippen kaum und es war sie, die ihn fast auffraß.
Ob das heute Morgen auch schon so war? Ich hatte ja hinter ihnen gesessen und außer diesen ekligen Geräuschen nichts weiter davon mitbekommen. Er hatte beide Hände auf ihren Schultern liegen und es sah nicht aus, als ob er sie beim Küssen zärtlich berühren würde. Eher wirkte es so, als ob er sie damit ein wenig auf Abstand halten wollte. Während sie die Augen durchgehend geschlossen hatte, blinzelte er immer mal wieder und machte im Allgemeinen nicht den Eindruck, als ob ihm das besonders viel Spaß machen würde.
Er ließ sie noch einen Moment, dann schob er sie sanft, aber bestimmt von sich weg und verzog sich mit seinem Kippenpäckchen nach draußen, wo er sehr lange blieb und erst wieder reinkam, als wir schon am Zahlen waren.
Wir liefen gemächlich und mit übervollen Bäuchen wieder an unsere Herberge zurück, wo ich noch eine gute halbe Stunde vor der Tür sitzen blieb, da sich die ganzen kleinen Lichter wirklich so schön im dunklen Wasser spiegelten, wie ich mir das am Morgen vorstellt hatte.
Die meiste Zeit starrte ich einfach nur gedankenverloren auf die Wasseroberfläche, auf der die Lichter der Laternen mit den scheinbar unzähligen Sternen, die sich ebenfalls dort spiegelten, um die Wette glitzerten. Ab und zu zog ich meinen Notizblock aus meiner Hosentasche, um einzelne Worte oder Satzteile, die mir so durch den Kopf schossen, aufzuschreiben.
Als ich Tim sah, der gerade aus der Tür unserer Unterkunft kam, befürchtete ich schon, dass meine Ruhe jetzt ihr Ende hatte. Doch glücklicherweise sah er mich gar nicht erst und lief einfach an der Bank vorbei, auf der ich saß. Er ging direkt an den Rand der Gracht, setzte sich dort hin und ließ seine Beine nach unten, Richtung Wasser, hängen. Nachdem er sich viel Zeit damit gelassen hatte, eine Zigarette zu rauchen, zog auch er zu meinem Erstaunen Papier und Stift hervor. Eigentlich dachte ich, das wären zwei Dinge, mit denen er so gar nichts anzufangen wusste. Ich sah nicht, was er da genau zu Papier brachte, aber anhand seiner Arm- und Handbewegungen, die ich nur von hinten beobachten konnte, musste er wohl gerade irgendwas zeichnen.
Mich interessierte brennend, was genau er da zeichnete, aber natürlich würde ich ihn niemals danach fragen.
So saßen wir bestimmt über eine Stunde lang gemeinsam draußen in der lauen Amsterdamer Nacht und schrieben, beziehungsweise zeichneten ein paar Seiten voll, ohne weiter Notiz vom anderen zu nehmen. Als Tim fertig zu sein schien, riss er zu meinem Erstaunen alle Seiten raus und zerknüllte sie seufzend, um sie achtlos in einen Mülleimer neben sich zu werfen.
Als er dann aufgestanden war und wieder im Haus verschwand, wartete ich noch einen Moment und stand dann auf, um langsam Richtung Mülleimer zu schleichen. Meine Neugier war einfach zu groß, um sie unterdrücken zu können. Ich lief immer wieder ein paar Meter hin und her, den Mülleimer nicht aus den Augen lassend, und sah dabei ständig zur Tür.
Irgendwann war ich mir sicher, dass er definitiv nicht mehr rauskommen würde und nahm die Blätter an mich, die glücklicherweise auf einem geschlossenen Pizzakarton gelandet waren.
Ich setzte mich an die Stelle, an der Tim gerade noch gesessen hatte, und sah mir an, was er da zustande gebracht hatte. Und auch, wenn es mir sehr schwer fiel, dass zuzugeben, fand ich die Zeichnungen mehr als gut.
Auf das erste Blatt hatte er nahezu originalgetreu die Charaktere von South Park gezeichnet und es war schwer zu übersehen, dass er sich bei Towelie, dem kiffenden Handtuch, am meisten Mühe gegeben hatte.
Die zweite Seite zeigte ein psychedelisches Muster mit sehr vielen kleinen Details, wie man es in Filmen an den Wänden sieht, wenn jemand gerade einen LSD Trip durchlebt. Es war so gut gemacht, dass mir beim längeren Hinschauen ein wenig schwindelig davon wurde. Grinsend legte ich die ersten beiden Blätter neben mich auf den Boden und stutzte ziemlich, als ich dann das dritte sah. Es war nicht ganz so gut geworden, wie die ersten beiden Zeichnungen, aber es war kein Hexenwerk, zu erkennen, dass das mich zeigen sollte.
Warum zur Hölle malte er mich? Es hätte mich ja nicht gewundert, wenn er mich irgendwie lächerlich dargestellt hätte, aber dieses Bild hier war eher das Gegenteil. Ich sah eigentlich sogar ziemlich gut aus, vielleicht sogar ein bisschen hübscher als in der Realität. Außer der Tatsache, dass er mich gezeichnet hatte, verwirrte mich noch etwas anderes daran.
Es gab ganz in der Nähe meines Elternhauses einen Platz am Waldrand, wo ein kleiner Bach floss, in dem ein großer Felsen liegt. Darauf saß ich oft und lernte dort, weil mir das Plätschern des Wassers und die ruhige Umgebung dabei halfen, mich besser zu konzentrieren. Ich hatte noch nie irgendjemanden dorthin mitgenommen und erst recht hatte ich Tim dort noch nie gesehen. Und doch saß ich auf der Zeichnung an genau dieser Stelle, von der ich bisher geglaubt hatte, dass nur ich sie kannte.
Völlig ratlos darüber, was das ganze sollte, zerknüllte ich die Seiten wieder und legte sie dorthin in den Eimer zurück, von wo ich sie hergeholt hatte. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis, die Blätter zu behalten, aber als ich mir vorstellte, dass Tim mich damit erwischen könnte, ließ ich das lieber sein.
Ich warf noch einen letzten Blick auf das ruhige Wasser und ging dann in die Herberge hinein. Erst jetzt bemerkte ich, wie müde ich schon war. Aber am ersten Abend einer Klassenfahrt konnte ich mir einen frühen Schlaf in einem Zwölfbettzimmer wohl direkt abschminken.
Diese Vermutung stellte sich als Tatsache heraus, sobald ich auf unserem Stockwerk ankam. Aus unserem Zimmer waren viele amüsierte Stimmen zu vernehmen und als ich die Tür öffnete, stellte ich fest, dass auch ein paar von den Mädels den Weg zu uns gefunden hatten, von denen zwei auf meinem Bett saßen. Zuvorkommend, wie ich nun mal war, ließ ich sie dort sitzen und ging stattdessen zu Tobi rüber, der gerade alleine auf seinem Bett lag.
Er setzte sich auf und machte mir grinsend Platz. „Die Lehrer haben uns gerade darum gebeten, nicht allzu laut zu sein und sich dann mit einer Flasche Rotwein auf ihrem Zimmer eingeschlossen."
Ich schüttelte grinsend den Kopf und erinnerte mich direkt an die Worte meiner Mutter zurück - Die Klassenfahrt ist der praktische Teil des Sexualkundeunterrichts. Dass das auch für die Lehrer zu gelten schien, hätte ich bis dato nicht vermutet.
Die folgenden Stunden waren, obwohl Tim auch im Raum war, recht entspannt. Er redete die meiste Zeit leise mit Bibi oder anderen Leuten, die in unmittelbarer Nähe saßen und ließ mich komplett in Ruhe.
Irgendwann ging eines der Mädchen rüber und kam kurze Zeit darauf mit gleich drei Flaschen Tequila zurück, über die wir uns direkt hermachten.
Als die meisten von uns gut angetrunken waren, schlug Bibi vor, dass man doch mal Flaschendrehen spielen könnte - das wohl typischste Spiel, mit dem man sich die Abende auf einer Klassenfahrt vertreiben konnte.
Die Stimmung wurde immer besser und wir erfuhren von Dennis, dass er sich schon mal die Unterwäsche seiner Mutter angezogen hatte, als er zur Kirche gegangen war. Außerdem beobachteten wir Bibi dabei, wie sie bis auf BH und Slip strippte und hielten den Atem an, als Carlo sich am Regenrohr von fünften Stock bis ins Erdgeschoss runterrutschen ließ.
„Okay, was fehlt denn noch...?", überlegte Anja, eine kleine unscheinbare Blondine, als sie die Flasche in ihren Händen hielt. „Küssen! Es hat sich noch gar keiner geküsst", sagte sie grinsend. „Die nächsten beiden, die es trifft, küssen sich eine Minute lang so leidenschaftlich wie nur möglich!"
Ich überlegte schon, ob ich einfach aufs Klo gehen sollte, bis das überstanden war, da ich bisher noch nicht so oft geküsst hatte und nicht wollte, dass jemand erfuhr, wie wenig ich das beherrschte. Doch als ich die unsicheren Blicke der anderen sah, schloss ich daraus, dass es wohl nicht nur mir so ging, also blieb ich auf meinem Platz sitzen. Außerdem war die Chance bei neunzehn Mitspielern jetzt auch nicht so groß, dass es mich überhaupt treffen würde. Schließlich war ich bisher auch von allen anderen Aufgaben verschont geblieben.
Doch das Schicksal meinte es nicht besonders gut mit mir und die Flasche blieb direkt als erstes bei mir stehen.
Ich schluckte schwer und bekam ziemliches Herzrasen. Jetzt noch zu kneifen, wäre aber wohl mehr als peinlich.
„Gut, dann schauen wir doch direkt mal, wer Lukas küssen muss. Oder küssen darf, je nachdem, wie man das sehen will", sagte Anja grinsend und gab der leeren Colaflasche neuen Schwung.
Da es jeden treffen konnte, waren die meisten Anwesenden genauso angespannt wie ich und wir starrten gemeinsam auf die Flasche, die sich immer langsamer und langsamer drehte und schließlich stehen blieb. Ganz vorsichtig hob ich Stück für Stück meinen Blick. Ich sah erst ein paar schwarze Chucks, gefolgt von einer sehr locker sitzenden Hose, schaute dann weiter nach oben über ein einfaches, weißes Shirt und kam dann mit meinen Augen beim mehr als überrascht dreinblickenden Gesicht von Tim an.
Während die anderen vor sich hin kicherten, starrten wir uns einfach nur unsicher an. Ich sollte Tim küssen. Eine Minute lang. Sechzig Sekunden. Sechzigtausend Millisekunden. Das war eine ganz schön lange Zeit.
Tim konnte sich als erstes aus seiner Starre lösen und setzte sein typisches Grinsen auf, das immer vor einem dummen Spruch in seinem Gesicht zu sehen war.
„Naja, ähm... dann zeig ich dem halt mal, wie man das macht", sagte er und rutschte auf den Knien zu mir rüber. Irgendwie war mir klar gewesen, dass er so tun würde, als ob ihm das gar nichts ausmachte.
Je näher er mir kam, umso mehr war mein Herz am Eskalieren. Er würde gleich merken, dass ich nicht küssen konnte. Damit würde er mich wohl den Rest meiner Schullaufbahn aufziehen, wenn er nicht vorher schon aus der Klasse flog.
Er setzte sich neben mich und grinste mir frech ins Gesicht. Mir war unglaublich heiß und ich war nervös, wie ich es nur selten zuvor gewesen war.
„Na los, macht schon", drängelte Carlo schadenfroh.
Tim sah kurz genervt zu ihm rüber, dann wieder zu mir. Plötzlich grinste er nicht mehr so selbstsicher. Einen kurzen Moment lang war ihm deutlich anzusehen, dass er ähnlich nervös war, wie ich. Er schluckte hörbar und sah mit zitternder Lippe auf meine herab. Dann fing er sich wieder.
„Ich hoffe für dich, du hattest keine Zwiebeln oder so nen Scheiß auf deiner Pizza, Sommer. Darauf steh ich so gar nicht."
Ich verdrehte die Augen und wollte das einfach nur noch hinter mich bringen. „Hör auf zu labern, Wessinger. Oder traust du dich etwa nicht?"
Ich hatte den Satz kaum ausgesprochen, da hatte er seine Lippen fest auf meine gepresst. Erst als Bibi anmerkte, dass das ja wohl kein richtiger Kuss sei, fing er damit an, wirklich sanfte, kurze Küsse auf meinen Lippen zu verteilen. Mein Herz raste unfassbar schnell und mir wurde noch viel wärmer dabei. Ich starb fast, als ich spürte, wie er plötzlich ganz zärtlich mit seiner Zunge über meine Lippen strich.
„Lukas, Mund auf", kicherte Bibi und ich spürte, dass Tim gerade ein bisschen grinste. Dann legte er mir eine Hand ans Kinn und drückte meinen Kiefer vorsichtig nach unten, damit er mir einen richtigen Zungenkuss geben konnte. Diese Hand fand anschließend den Weg in meine Haare, während ich zeitgleich seine andere Hand an meiner Hüfte spürte. Ich musste mich sehr anstrengen, um meinen aufgeregten Atem ruhig zu halten. Nicht, dass er noch auf die Idee kam, dass das ganze mir gefallen würde.
Tim schien unseren Klassenkameraden eine besonders gute Show bieten zu wollen, denn nun zog er mich richtig nah an sich heran, während er seinen Kuss nochmal um einiges intensiver werden ließ. Als würde das noch nicht reichen, nahm er meine Arme und legte sie sich auf seine Schultern. Dann legte er seine Arme wieder um mich und drückte mich noch enger an sich heran.
Diese Minute schien sich endlos in die Länge zu ziehen. Jedenfalls kam es mir so vor. Ich konnte die Blicke der anderen förmlich auf meiner Haut spüren. Ab und zu pfiff jemand leise, ansonsten blieb es um uns herum ruhig. Tims Atem wurde ein wenig schneller und mir war so, als würde sein Körper um einige Grad wärmer werden, solch eine starke Hitze ging jetzt von ihm aus. Entweder, er war ein ziemlich guter Schauspieler, oder ihm gefiel es, mich zu küssen.
Aber warum sollte ihm das gefallen? Er mochte mich nicht und ich mochte ihn genauso wenig. Umso erschreckender fand ich es, dass mein Körper langsam auf diesen Kuss zu reagieren begann.
Sein erhitzter Körper, sein aufgeregter Atem, seine warmen Hände auf meinen Hüften, die erstaunlich weichen Lippen...
Ich konnte es kaum fassen, aber irgendwie gefiel mir das, was da gerade geschah und ich fände es gar nicht mal so schlimm, wenn es zwei Minuten statt einer gewesen wäre, in denen wir das durchziehen sollten. Vielleicht würden mir drei oder vier auch nichts ausmachen. Es fühlte sich nämlich mittlerweile echt gut an. Viel zu gut. So gut, dass ich mir ein leises Stöhnen nicht länger unterdrücken konnte. Es war verrückt, aber die Tatsache, dass wir uns eigentlich hassten, machte mich zusätzlich total kribbelig.
Nach einer viel zu langen Zeit, die gleichzeitig nicht lang genug sein könnte, teilte uns Anja mit, dass die Minute nun vorbei sei. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass Tim sich direkt von mir losreißen würde. Doch genau das tat er eben nicht. Er nahm seine Hände von mir und löste den Kuss nur sehr langsam. Bevor er wieder von mir wegrutschte, gab er mir sogar noch einen kurzen Kuss auf die geschlossenen Lippen, als eigentlich schon alles vorbei war.
„Wow. Das war... ähm...ja", kommentierte Bibi das ganze und sah Tim ein bisschen angepisst an. Wenn man die Küsse, die sie von ihm bekam mit dem Kuss verglich, den er mir gerade gegeben hatte, war sie wohl mit Recht sauer.
Da stellte sich jetzt nur noch die Frage, weswegen der Unterschied so gewaltig war.
Und, warum ich meinen Herzschlag erst nach geschlagenen zwanzig Minuten wieder unter Kontrolle bekam.
Und, warum Tim eine halbe Stunde später übereilt den Raum verließ, um den Rest der Nacht nicht mehr wieder zu kommen.
Und, warum ich mir Sorgen um diesen Idioten machte, bevor ich einschlief.
Und, warum dieser Idiot in dieser Nacht den Weg in meine Träume fand.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top