Die Klassenfahrt - Was sich liebt, das neckt sich [1/4]
„Lukas, verdammt noch mal!"
„Ich mag nicht aufstehen", jammerte ich und drückte meinen Kopf tief ins Kissen.
Meine Mutter kannte natürlich keine Gnade und drehte mich an der Schulter wieder um.
„Lukas, diese Klassenfahrt hat uns über dreihundert Euro gekostet. Du stehst jetzt sofort auf und fährst da mit!"
„Och nö", jammerte ich noch eine Spur gequälter, in der Hoffnung, etwas Mitleid im Mutterherz meiner Mama erwecken zu können.
„Was ist denn los, mein Schatz? Du hast dich doch letztes Jahr, als das geplant wurde, total darauf gefreut! Hast du nicht sogar, als Klassensprecher, deinem Lehrer bei der Planung geholfen?"
Bei dem was sie sagte, hatte sie nicht ganz unrecht. Ich hatte mich vor den Sommerferien tatsächlich total auf die Fahrt mit meiner Klasse gefreut. Aber das war, bevor wir diesen absolut bescheuerten neuen Mitschüler bekommen hatten.
Schon alleine, wenn ich an diesen blöden Tim dachte, bekam ich Brechreiz.
Er war bereits achtzehn und somit zwei Jahre älter, als ich. Dumm, wie er nun mal war, war er nämlich schon zwei mal sitzen geblieben. Was dieser Volldepp auf einem Gymnasium suchte und wie er da überhaupt drauf gekommen war, verstand keiner so genau. Zudem verhielt er sich wie ein absoluter Asi! Er machte fast nie Hausaufgaben und war einfach total respektlos. Beispielsweise rauchte er überall, wo er wollte. Es war nicht nur einmal vorgekommen, dass er sich mitten im Klassenzimmer eine Zigarette angezündet hatte, kurz bevor der Lehrer kam. Wenn er dann deswegen rausgeschmissen wurde, lachte er nur blöd und zündete sich noch eine zweite beim rausgehen an.
Außerdem, und das war der ausschlaggebende Punkt, weswegen ich ihn nicht mochte, hasste er mich aus irgendwelchen Gründen. Wenn ich im Unterricht etwas sagte, äffte er mich nach. Wenn ich mich mal versprach, lachte er sich darüber kaputt. Es verging kein Tag, an dem er nicht irgendwie in meine Richtung stichelte.
Tim versorgte die selbst auserkorenen „Coolen" der Klasse regelmäßig mit Gras, darum waren die natürlich auf seiner Seite und unterstützen ihn tatkräftig bei seinen Gemeinheiten.
Ich dagegen war schon seit Jahren immer wieder der Klassensprecher, machte jeden Tag meine Hausaufgaben, übernahm freiwillige Arbeiten und lernte sehr viel und sehr gerne. Daher hing ich eher mit den Leuten rum, die man gemeinhin als „Streber" bezeichnete.
In Wahrheit zogen auch wir uns jedes Wochenende ordentlich mit Alk ab und waren alles andere als brav, aber wir bekamen es dennoch hin, unter der Woche etwas sinnvolles für unsere Zukunft zu tun. Ganz im Gegenteil zu Tim und seinem Gefolge, denen ihre Zukunft komplett am Arsch vorbeizugehen schien.
Der Gedanke, dass Tim sich sowieso nicht lange in der Klasse halten würde und sich nach seinem Abgang auch seine Clique wieder auflösen könnte, beruhigte mich im Allgemeinen immer ein wenig.
Doch jetzt gerade konnte ich mich damit nicht wirklich trösten, weil ich in einer Stunde schon in den Bus steigen würde, um dann für vier lange Tage mit diesem Haufen Idioten in einer Jugendherberge irgendwo bei Amsterdam eingepfercht zu sein.
Und trotz allem, und das fand ich total kurios, war auch irgendwo ein kleiner Teil in mir, der unbedingt von Tim gemocht werden wollte. Erklären konnte ich mir das weiß Gott nicht, denn eigentlich war ich mehr als froh, wann immer ich ihn nicht sehen musste.
Ich sah nochmal in das Gesicht meiner Mutter, die noch immer ungeduldig auf dem Boden tippelnd direkt vor meinem Bett stand. Als ich checkte, dass ich nicht die geringste Chance gegen sie hatte, seufzte ich tief und schwang dann meine viel zu langen Beine über die Bettkante.
„Mach dich fertig! Ich mach dir in der Zeit dein Frühstück", sagte meine Mutter und lächelte ein zufriedenes Siegerlächeln.
„Jaja...", murmelte ich und ließ mich wieder nach hinten ins Bett fallen, als sie um die Ecke war. Nur noch zwei Minuten liegen bleiben, duschen konnte ich dann nach dem Frühstück immer noch.
Eine viertel Stunde später saß ich dann mit meiner Mutter in unserer großen, gemütlichen Küche am Tisch und hörte ihrem Monolog zu, in dem sie mir erzählte, wie toll, interessant und aufregend die Klassenfahrt bestimmt werden würde. Währenddessen zog ich mir mein absolut männliches Frühstück, bestehend aus einem Toast mit Kirschmarmelade, einem Pfannkuchen mit Nutella und einem warmen Kakao, rein und hoffte, die Zeit bis zur Abfahrt würde sich noch ewig hinziehen.
„Ärgert dich dieser Tom immer noch?", fragte meine Mutter, während sie ihren Joghurt, gemischt mit Obst und eigenartigen supergesunden Samen, umrührte.
„Er heißt Tim. Er versucht, mich zu ärgern. Aber es klappt nicht, mir ist das egal", behauptete ich trotzig und klatschte mir noch einen Extralöffel Nutella auf den Pfannkuchen, was meine gesundheitsfanatische Mutter mit einem leichten Kopfschütteln kommentierte.
„Irgendwann wird ihm das bestimmt wieder langweilig und er sieht ein, dass im Ärgern seiner Mitmenschen nicht die Lebenserfüllung zu finden ist."
„Der ist so doof und sieht gar nichts ein", murmelte ich vor mich hin und schluckte mein letztes Stück Pfannkuchen runter.
Während meine Mutter das Geschirr wegräumte, starrte ich auf die Tischplatte und hatte überhaupt keinen Bock. Ich konzentrierte mich ganz auf die spirituelle Musik, die bei uns fast den ganzen Tag aus den Boxen dröhnte und versuchte, das Gesicht von Tim aus meinem Hirn zu bekommen. Schließlich würde ich ihn in den nächsten Tagen noch lange genug ertragen müssen. Ich konnte schon richtig hören, wie er mir irgendwas dummes an den Kopf warf, sobald ich in den Bus gestiegen war. Aber vielleicht hatte er ja auch mal wieder verschlafen, kam wie so oft als Letzter und würde mich im Bus dann gar nicht sehen, wenn ich schon irgendwo saß. Eine weitere Möglichkeit, und das wäre mir definitiv die liebste, wäre, wenn er heute morgen aufgewacht ist und beschlossen hat, dass er doch viel zu cool für eine Klassenfahrt sei.
Mit dem Auto brauchte man ungefähr eine viertel Stunde bis an meine Schule, also mussten wir in zehn Minuten schon los. Ich gähnte noch einmal herzhaft, als mir ganz heiß einfiel, dass ich noch immer ungewaschen und in meinen Schlafsachen hier am Tisch saß.
Also sprang ich auf und rannte die Treppen nach oben, um noch schnell unter die Dusche zu springen. Fürs Haare föhnen blieb natürlich keine Zeit mehr, aber draußen war es sowieso noch ziemlich warm, also war das weniger ein Problem.
Ich ging in mein Zimmer und zog mir eine Jeans, ein weißes Shirt und ein schwarz-rot kariertes Hemd drüber an und schnappte mir meine Tasche, die mich auf meinen ungewollten Trip begleiten sollte. Seufzend betrachtete ich die ganzen Poster an den Wänden, mein ungemachtes Bett, meine Gitarren und meine Plattensammlung. Dann ließ ich nochmal einen sehnsüchtigen Blick über meinen PC schweifen und versteckte noch schnell einen Aschenbecher mit einem halb gerauchten Joint von gestern Abend im Kleiderschrank, den ich mit meinem Klassenkameraden Tobi angefangen hatte, während wir am Counterstrike zocken waren.
Aber es half halt alles nichts und ich ging langsam wieder zu meiner Mutter runter, die schon mit dem Autoschlüssel in der Hand an der Haustür stand.
„Lukas, jetzt aber!", drängelte sie und drückte die Türklinke runter.
„Ist ja gut", grummelte ich und tappte hinter ihr her, damit sie mich ja pünktlich vor der Schule absetzen konnte.
Obwohl wir schon Mitte September hatten, war es noch außergewöhnlich warm und die Sonne hatte die Luft auch jetzt, am frühen Morgen, schon auf über zwanzig Grad erwärmt. Ich kurbelte mein Fenster ein wenig runter, damit meine Haare etwas trockener sein würden, wenn ich an der Schule ankam. Jetzt im Moment sah ich wie ein begossener Pudel aus und so wollte ich mich Tim und seinen Groupies garantiert nicht präsentieren.
Wir fuhren an einem Feld vorbei, auf dem schon die ersten Heuballen lagen und ich zog meinen kleinen Notizblock aus der Hosentasche, um aufzuschreiben, dass ich unbedingt mal irgendwie ein Musikvideo in einem Feld machen musste. Oder irgendein anderes Video, wenn es nicht direkt ein Musikvideo werden würde. Vielleicht auch Fotos, aber auf jeden Fall irgendwas in einem Feld im Herbst. Das von der Sonne leicht verbrannte Gras hatte einen wahnsinnig tollen Kontrast zum strahlend blauen Himmel, fand ich.
Ich konnte mich teilweise stundenlang in so etwas verlieren und so bekam ich auch jetzt erst mit, dass meine Mutter mit mir sprach, als sie mir einen festen Klaps auf den Oberschenkel gab.
„Was denn?", fragte ich und steckte meinen Block wieder ein.
„Ich habe gefragt, ob du Kondome dabei hast oder ob ich noch schnell an der Drogerie halten soll", sagte meine Mutter und setzte den Blinker.
„Gott, Mama...", zischte ich und bemerkte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. Meine Eltern sprachen zwar mit mir seit meiner Kindheit über Sex nicht anders, als über das Wetter, aber dennoch kam es manchmal einfach so unerwartet, dass es mich ein wenig in Verlegenheit brachte.
„Ich brauch keine", murmelte ich und schaute wieder aus dem Fenster.
Meine Mutter lachte und bog in die Straße ein, in der sich mein Gymnasium befand. „Früher haben wir immer gesagt: Die Klassenfahrt ist der praktische Teil des Sexualkundeunterrichts."
Als wir dann auf dem Parkplatz der Schule hielten, wusste ich nicht mehr, ob ich jetzt lieber aussteigen oder lieber im Auto sitzen bleiben wollte. Irgendwie kam mir beides gleich unangenehm vor.
„Lukas, auf! Die sitzen ja schon alle im Bus", sagte meine Mama und drückte mir meine Tasche in die Hand und einen Kuss auf die Wange.
„Bin schon weg", antwortete ich und rang mir ein leichtes Lächeln ab, bevor ich mich dann auf den Weg zum Reisebus machte.
Nachdem mein Klassenlehrer sein völliges Unverständnis wegen meiner Verspätung kund getan hatte, lief ich den Gang entlang und sah mich nach Tobi um, neben dem ich auf der Fahrt sitzen wollte. Wie es diese blöde Kuh namens Zufall so wollte, saß er, wie sollte es auch anders sein, direkt hinter Tim. Besagter saß mit der Klassenschlampe Bibi im Arm ganz lässig da und als er mich entdeckte, zog sich schon ein total dümmliches Grinsen über sein Gesicht.
„Sommer, Alter! Wie siehst du denn aus? Haste deinem Süßen noch einen lutschen müssen, bevor es losgeht und du vier Tage lang auf seinen Schwanz verzichten musst?", fragte er und erfreute sich anschließend am grellen Kichern von Bibi.
Ich reagierte nicht auf ihn, sondern begrüßte meinen Freund Tobi, während ich mich neben diesen auf meinen Sitz fallen ließ.
„Was hast du mit deinen Haaren gemacht?", flüsterte der mir leise zu. Ich beugte mich ein wenig über ihn, um mich in der Scheibe spiegeln zu können und strich dann peinlich berührt meine Haare ein bisschen glatt, die durch das Trocknen im Fahrtwind zu einer völlig bescheuerten Frisur, bei der alles kreuz und quer in der Gegend rumstand, geformt worden waren.
„Geht das jetzt so?", fragte ich und legte mir den Pony ein bisschen über die Stirn, wo er hingehörte.
Als ich meinen Blick wieder hob, sah ich direkt in das Gesicht von Tim, der sich über seine Rückenlehne gebeugt hatte. „Äh nee, das geht nicht so. Du siehst immer noch total durchgebumst aus."
Ich atmete geräuschvoll aus und trat genervt an seinen Sitz. „Halt doch endlich mal die Klappe", meckerte ich und lehnte mich wieder zurück.
„Du bist eindeutig die Frau in einer Beziehung. Stimmts, du Zicke?", stichelte er weiter.
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich keinen Freund hab? Ich... ich hab ne Freundin... im... im Schauspielkurs!", log ich. In Wahrheit hatte ich weder Freund noch Freundin, aber das musste der Arsch ja wohl nicht wissen.
„Ach, der feine Herr hat ja eine Freundin im Schauspielkurs. Warum kommt die dann nie aus dem Raum raus, in dem ihr probt? Hat sie ihr Bett dort in der Wand und wohnt dort, oder wie?"
„Was geht's dich überhaupt an?", blaffte ich. „So benebelt, wie du immer bist, siehst du sie wahrscheinlich einfach nur nicht!"
Tim lachte und setzte sich wieder richtig auf seinen Sitz. „Weißt du, wenn man Menschen sieht, die es gar nicht gibt und mit denen eine Beziehung führt, sollte man vielleicht mal zum Arzt gehen, Sommer", rief er nach hinten und wurde dabei wieder von Bibis nervigem Gelache begleitet.
Mein Klassenlehrer kam zu mir nach hinten und drückte mir eine Anwesenheitsliste in die Hand, mit der ich durch den Bus gehen sollte, um die Schüler, die schon da waren, abzuhaken. Erleichtert über diese kleine Ablenkung, aber trotzdem noch ziemlich lustlos auf die nächsten Tage schob ich mich durch den engen Gang, um meine Aufgabe zu erfüllen.
Das konnte ja noch was werden...
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