Das Geisterhaus

„Lukas! Komm mal rüber, ich muss dir was zeigen", hörte ich meinen besten Freund und Bandkollegen Timi rufen, während ich langsam in seinem Gästebett wachwurde. Timis erstes Soloalbum nahm so langsam Gestalt an und ich verbrachte derzeit ein paar Tage bei ihm Zuhause in Bielefeld, um auf seinen Wunsch hin hier und dort ein paar Ideen einzustreuen.
Bisher waren wir allerdings noch nicht so wirklich dazu gekommen, uns mit seiner Musik zu beschäftigen.
Timi hat grundsätzlich einen anderen Arbeitsstil als ich. Während ich oft schon vorher weiß, was ich ungefähr zu Papier bringen will, mir vorher schon Konzepte überlege und diese dann ausarbeite und mir alles so detailliert und sortiert wie möglich aufschreibe, damit nichts verloren geht, scheint es bei Timi so gar keinen Plan zu geben.
Er legt einfach los, schreibt sich nie irgendwas auf und probiert wild durcheinander alles mögliche aus, auch wenn es auf den ersten Blick so gar keinen Sinn ergibt, was er gerade macht. Vor allem aber passiert das bei ihm sehr spontan. Mal macht er wochenlang überhaupt nichts, mal springt er mitten in der Nacht aus dem Bett und arbeitet dann drei Tage lang durch.
Nicht nur mich versetzt diese Vorgehensweise regelmäßig ins Staunen. Denn das, was er auf so chaotische Art und Weise fabriziert, ist jedes einzelne Mal wundervoll.

„Ich hab dich gar nicht hochkommen hören", murmelte ich verschlafen und rollte mich auf die Seite, um zu ihm rüber sehen zu können. Ich musste ein bisschen schmunzeln, als ich die Klamotten sah, in denen er an seinem Schreibtisch saß. Timi trug heute nämlich wieder seinen Jogginganzug mit Ghostbusters-Motiv und dazu hatte er sich irgendwas rotes um die Stirn gebunden. Ob das ein Tuch, ein Stirnband oder eine Krawatte war, konnte ich aus der Ferne und so kurz nach dem Wachwerden nicht erkennen. Ich setzte mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen, während Timi grinsend zu mir rüber tappte und mir seine dampfende Kaffeetasse entgegen hob.
Ich grinste zurück und warf dann einen skeptischen Blick in die Tasse, die er dann direkt wieder an sich nahm.
„Sorry, ich denk da irgendwie nie dran, dass du keinen Kaffee magst", sagte er und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Ich geh runter und mach dir 'ne Tasse Tee, okay?"
„Quatsch lass nur, ich steh eh gleich auf, dann mach ich mir die selbst", antwortete ich und gähnte.
Timi schüttelte entschieden den Kopf. „Kommt gar nicht in Frage. Du bist mein Gast, also mache ich das. Setz dich in der Zeit an den PC und schau dir an, was ich gefunden habe."
Dann lief er zur Treppe, die nach unten in die anderen Räume führte und drehte sich nochmal breit grinsend zu mir um. „Falls du dich traust, natürlich!"

Während Timi mir unten in der Küche eine Tasse Tee holen ging, setzte ich mich auf seinen bequemen Schreibtischstuhl und wackelte kurz mit der Maus, um den Bildschirmschoner auszuschalten. Eine Sekunde später verzogen sich die ganzen Hanfblätter, die wild durcheinander über den Bildschirm geschwebt waren und ein Internetforum, das sich mit Paranormalem beschäftigte, öffnete sich vor meinen Augen.
Ich seufzte und wollte eigentlich gar nicht lesen, was da stand. Vor Kurzem hatte Timi damit begonnen, sich für Übersinnliches zu interessieren und er verbrachte viele Nächte damit, sich alles mögliche darüber im Internet durchzulesen und sich Reportagen anzuschauen. Weil ich zugegebenermaßen ein wenig schreckhaft bin, was solche Dinge angeht, war es bei den letzten Konzerten nicht wirklich ein Spaß für mich, mir mit Timi ein Hotelzimmer zu teilen. Denn sobald das Licht ausging, begann er, mir mit Genuss irgendwelche Horrorgeschichten zu erzählen, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen.

Als kleine Unterstützung nahm ich mir Timis Kater Gustavo, der mir gerade um die Beine geschlichen war, auf den Schoß und begann zu lesen:

„In einem kleinen Dorf bei Bielefeld steht ein verlassenes Haus, in dem es angeblich spuken soll. Zu Zeiten, als die Pest durch Deutschland wütete, wurde dieses Haus als Quarantäneunterkunft benutzt. Infizierte Personen hatte man gesammelt und dort eingesperrt, indem man sämtliche Türen und Fenster von draußen zugenagelt hatte, um die Außenwelt vor ihnen zu schützen.
Obwohl seit diesen Ereignissen viele Jahre vergangen sind und das Haus danach noch mehrmals komplett renoviert wurde, steckt der Horror von damals noch in den Mauern. Das Haus wechselte bis in die späten Neunziger hinein häufig den Besitzer, da es niemand besonders lange dort drin aushielt.
Die ehemaligen Bewohner berichten unter anderem von ekligen Gerüchen. Der Ursprung dafür wurde nie gefunden, es schien eher so, als ob das Haus als Ganzes diesen Geruch verströmte. Tagsüber habe man dies nie wahrnehmen können, aber sobald die Sonne untergegangen war, sei der Gestank so penetrant gewesen, dass es einem fast den Atem raubte.
Doch dies war bei Weitem noch nicht alles! Wenn die Bewohner das Haus verlassen wollten, gingen oft die Türen nicht auf, obwohl sie nicht abgeschlossen waren. Man ölte Türen und Fenster regelmäßig und es schien auch nichts zu klemmen. Eher war es so, als ob jemand - oder etwas - von außen dafür sorgte, dass die Bewohner nicht nach Draußen kamen. Probierte man zu einem späteren Zeitpunkt erneut, die Türen zu öffnen, sei das problemlos wieder möglich gewesen.
Einige Personen berichten auch von Stimmen, die sie hörten. Auch dann, wenn sie sich alleine im Haus befanden. Oft habe man in der Nacht gehört, wie mehrere Personen schrien und verzweifelt an Wände, Türen und Fenster klopften..."

Mit einem unbehaglichen Gefühl minimierte ich die Seite, drehte mich um und schrie spitz auf, als ich in Timis Gesicht vor mir sah. Dieser lachte amüsiert und stellte eine große Tasse voll Pfefferminztee vor mir ab.
„Und? Was meinst du?", fragte er und stützte sich lässig mit einer Hand auf seinem Schreibtisch ab.
Ich trank einen kleinen Schluck von dem Tee und versuchte, mich so cool wie möglich zu geben. „Ja, klingt ganz interessant. Aber warum zeigst du mir das jetzt?"
„Ich würde mir das heute Nacht gerne ansehen", meinte er und grinste mich breit an.
„Oh...ähm... na dann viel Spaß. Mit Marcel?"
Tims Grinsen wurde noch breiter und er legte mir locker eine Hand auf die Schulter. „Mit dir."
„Aber... Marcel interessiert sich dafür bestimmt eher. Ich glaub doch an so etwas gar nicht. Mit mir hättest du da bestimmt keinen Spaß", stotterte ich hektisch.
„Du hast also keine Angst davor?"
„Nein, natürlich nicht. Das ist doch alles nur ausgedacht!"
Timi drehte mich mit seinem Stuhl ein wenig weiter zu sich. „Na wenn du keine Angst hast und sowieso nicht dran glaubst, kannst du doch ganz locker mit mir mitkommen", meinte er und kam meinem Gesicht dabei sehr, sehr nah.

Selbstverständlich wusste er genau so gut wie ich, dass ich gerade log. Irgendwie glaubte ich nämlich schon an solche Dinge und man konnte mir damit auch ganz schön Angst einjagen. Nach Horrorfilmen, die Zwölfjährige gucken, ohne mit der Wimper zu zucken, schlafe ich manchmal drei Nächte lang nicht richtig. Fällt mir ein Spiegel runter, lasse ich die Scherben sieben Stunden liegen, um keine sieben Jahre Pech zu haben. Außerdem gehe ich nicht unter Leitern durch und bin ein wenig vorsichtiger als sonst, wenn der Freitag auf einen Dreizehnten des Monats fällt.
Warum das so ist, weiß ich selbst nicht so genau, denn eigentlich bin ich ein ziemlich logisch denkender und bodenständiger Mensch. Darum gebe ich auch nicht gerne zu, dass mich dieses ganze übersinnliche Zeug etwas nervös macht.

„Lukas", sagte Timi und grinste noch immer. „Du bist, nachdem du Wrong Turn gesehen hast, drei Tage lang nicht mehr in den Wald gegangen. Nach Mirrors hast du den Spiegel in deinem Schlafzimmer für zwei Wochen mit einem Tuch verhüllt und nach..."
„Schon gut, schon gut", sagte ich lachend und schlug Timi auf den Oberarm. „Von mir aus gehe ich eben mit dir da hin. Ich hab doch keine Angst, ich bitte dich!"

-

Nachdem die Sonne dann in dieser heißen Sommernacht untergegangen war, saßen wir in Timis Auto, um zu diesem Spukhaus zwei Dörfer weiter zu fahren. Während ich immer nervöser wurde, schien sich Timi richtig auf diese seltsame Unternehmung zu freuen. Ich betrachtete ihn von der Seite und fragte mich, was wohl peinlicher war: Ihm einfach sagen, dass mir diese Dinge Angst machen und ich nicht mitkommen möchte, oder mitkommen und mich dann bei jedem Geräusch aufführen, wie ein kleines verschrecktes Mädchen?
Welcher normale Mensch denkt sich eigentlich, wenn er so etwas furchteinflößendes liest, dass er da unbedingt einmal hin muss, um es mit eigenen Augen zu sehen?
Ich schüttelte leicht den Kopf und versuchte mich daran zu erinnern, wann ich Timi jemals so richtig erschrocken erlebt hatte. Doch auch nach längerem Nachdenken fiel mir da rein gar nichts ein.
Zwar konnte in der Vergangenheit nichts entdecken, das ihn erschreckt hatte, aber ich wusste mit ziemlicher Sicherheit, dass ihn etwas erschrecken würde, was noch in der Zukunft lag.

Ich hatte nämlich schon vor längerer Zeit bemerkt, dass ich ziemlich auf Timi stand. Eigentlich stand ich nicht nur auf ihn, ich befürchtete sogar, dass ich mich richtig in ihn verliebt hatte. Dass ich auch auf Männer stand, wussten nur ausgewählte Personen aus meiner Familie, sowie ein paar langjährige, enge Freunde. Sonst hatte ich es noch niemandem gebeichtet. Timi hatte noch nicht die blasseste Ahnung, dass ich nicht hetero und in ihn verknallt war und verletzte mich darum immer wieder unabsichtlich.
Während ich neben ihm auf der Couch saß und ihn anschmachtete, erzählte er mir in allen Details, wie er in der Nacht vorher ein Mädchen geknallt hatte.
Während ich darüber nachdachte, wie wunderschön er war, erzählte er mir, wie geil er den Arsch von dem Mädchen fand, das vor uns lief.
Während ich mir wünschte, dass er mir die gleichen Gefühle gestehen würde, die ich für ihn empfand, erzählte er mir, dass er sich in ein Mädchen verliebt hatte und wieder vergeben war.
Während er mir dann erzählte, dass das Mädchen sich wieder von ihm getrennt hatte, hielt ich ihm die Hand und versprach ihm, dass die Nächste schon bald kommen würde, während ich dabei doch so sehr der Nächste sein wollte.
Deswegen ging es mir in letzter Zeit nicht so besonders gut. Außerdem machte mich sein rücksichtsloses Verhalten mir gegenüber immer wütender, auch wenn er ja gar nichts dafür konnte. Ich wollte nicht, dass unsere Freundschaft deswegen kaputt ging und darum hatte ich vor ein paar Tagen beschlossen, endlich Klartext mit ihm zu reden. Auch, wenn ich nicht damit rechnete, dass er mit einem Liebesgeständnis um die Ecke kam, wollte ich ihn trotzdem aufklären und ihn bitten, wenigstens ein bisschen Rücksicht auf mich zu nehmen, bis ich ihn wieder loslassen und mich auf jemand anderen konzentrieren konnte.

Während ich so in meinen Überlegungen versunken war, war mir gar nicht aufgefallen, dass wir unser Ziel gerade erreicht hatten. Timi stellte den Motor seines Audis ab, die Scheinwerfer erloschen, und so konnte man jetzt das große, verwitterte Haus erkennen, das nur vom Mond angestrahlt wurde. Das Haus lag etwas außerhalb des kleinen Ortes, in dem wir uns nun befanden und versteckte sich tief in einem kleinen Waldstück.
Während Timi schon ausstieg und dann fröhlich pfeifend im Kofferraum nach einer Taschenlampe suchte, saß ich noch immer auf dem Beifahrersitz und sah mir mit einem mulmigen Gefühl die Fassade des Hauses an. An diesem dunklen Klotz konnte ich rein gar nichts freundliches und einladendes entdecken. Erst recht nicht, als mir das, was ich heute Morgen an Timis PC gelesen hatte, wieder einfiel. Ich hatte nicht einmal ein Viertel von dem gelesen, was es da zu erfahren gab. Im Nachhinein war ich darüber auch ganz froh, denn sonst hätte ich mich wahrscheinlich nicht einmal getraut, aus dem Auto zu steigen.
Aber ich wollte jetzt nicht als Weichei dastehen. Vor allem, wenn ich Timi bald von meiner Bisexualität berichten würde, wollte ich mir so viel an Männlichkeit bewahren, wie möglich. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, dass ich durch mein Geständnis in Timis Augen direkt zur mädchenhaften Schwuchtel mutierte, aber man konnte ja nie wissen...

Vollkommen widerstandslos ließ ich mich von Timi über einen schmalen, dicht bewachsenen Weg ziehen.
„Vielleicht ist ja abgeschlossen und wir kommen da gar nicht rein", überlegte ich hoffnungsvoll. Doch leider gab die Tür nicht nach, als Timi sie mit erfreutem Gesichtsausdruck anstubste.
„Na dann wollen wir mal", flüsterte er und gab mir einen leichten Stoß nach drinnen.
Im sehr, sehr schwachen Licht von Timis Taschenlampe - er hatte vergessen, die fast leeren Batterien zu wechseln - gingen wir vorsichtig durch die verschiedenen Räume. Auf den ersten Blick musste wirklich etwas an dem Gerücht, dass etwas mit dem Haus nicht stimmte, dran sein.
Das Haus war noch komplett eingerichtet. Sogar die Familienfotos der letzten Besitzer hingen noch an den Wänden und alles wirkte auf mich so, als seien sie von heute auf morgen geflüchtet, ohne vorher noch ihre Sachen zu packen.

„Wow", stieß ich aus. „Die haben das alles hier gelassen?"
Es war zwar alles sehr alt und schmutzig, aber offenbar unbeschädigt. Es wunderte mich wirklich, dass hier noch keine Asozialen gewütet hatten. Normalerweise sollte man meinen, dass in einem leerstehenden Haus randaliert wird und Dinge mutwillig zerstört werden, einfach nur so zum Spaß. Das hier wirkte allerdings so, als seien Timi und ich die ersten Menschen, die nach dem Auszug der alten Bewohner einen Fuß hier rein setzten.
„Das liegt vielleicht daran dass... niemand, der hier mal reingegangen ist, Zeit dazu hatte, hier was zu zerstören", flüsterte Timi düster, als ich ihm meine Gedanken mitgeteilt hatte.
„Du Arsch", zischte ich und ging noch ein Stückchen näher neben ihm her. „Du warst jetzt drin, können wir wieder gehen?"
Timi kicherte. „Komm schon, ich will noch gucken, wie es oben aussieht."
Mein Herz explodierte zwar fast vor Aufregung und mir war schon regelrecht schlecht vor lauter Angst, aber ich wollte nicht kneifen. Außerdem schien Timi das hier wirklich großen Spaß zu machen und den wollte ich ihm nicht vermiesen, nur weil ich mich gerade ein bisschen kindisch anstellte.

Langsam gingen wir dicht hintereinander die uralte Treppe hoch, die bei jedem Schritt gefährlich knarrte. Das Licht von der Taschenlampe wurde immer schwächer, während mein Herz immer heftiger pochte.
„Krass!", flüsterte Timi begeistert. „Alter, hast du das gerade gespürt? Es ist gerade viel kälter geworden!"
„Ähm, nee find ich nicht", antwortete ich beunruhigt. Vielleicht hatte er recht, aber da ich sowieso schon zitterte, seit wir das Haus betreten hatten, konnte ich das wirklich nicht beurteilen.
Gerade, als wir uns das Badezimmer ansahen, hörte ich unten ganz deutlich ein Klopfen. Mein Herzschlag glich den Flügelschlägen eines Kolibris und ich wollte nur noch hier raus!

„Timi?"
„Ja?"
„Hast du das gerade gehört? Das... Klopfen?"
„Nein Lukas. Da war nichts."

Ich hoffte, dass ich mich tatsächlich nur verhört hatte und folgte Timi in den nächsten Raum. Es sah aus, wie das Elternschlafzimmer und an den Wänden hingen ganz viele Kinderfotos, die im schwachen Licht des Mondes, sowie des fast nicht mehr vorhandenen Lichtstrahls von Timis Lampe einfach nur zum Fürchten aussahen. Timi ging einen Schritt näher, um sich ein Foto genauer anzusehen, als ich schon wieder ein Klopfen hörte.

„Da! Jetzt hast du es auch gehört! Bitte, lass uns gehen", keuchte ich und hielt mich an Timis Arm fest. Der grinste mich nur an und strich ganz kurz über meine Hand.
„Jetzt wird es doch erst richtig interessant."
„Du... du bist echt gestört. Bitte, komm mit mir zum Auto... Du...du kannst doch dann nochmal alleine rein gehen."
„Ach Luki. Es gibt nur noch eine Tür, dann waren wir überall. Okay?", fragte er ganz sanft und setzte einen Hundeblick wie aus dem Bilderbuch auf.
„Ähm...ähm...okay", stotterte ich und wich nicht von seiner Seite.

Das letzte Zimmer, das wir uns dann ansahen, war das ehemalige Kinderzimmer eines kleinen Mädchens, wie wir uns anhand der Einrichtung zusammenreimten. Unter der dicken Staubschicht, die die Möbel nach und nach zu verschlucken schien, konnte ich viel pink entdecken. Eigentlich fand ich, sah dieser Raum ganz süß aus, wenn da nicht das riesige Regal mit den ganzen Puppen wäre, aus dem mich hunderte kleine Plastikaugen anstarrten.

„Okay, Timi. Bitte. Bitte lass uns gehen", flüsterte ich und schloss die Augen.
Timi seufzte tief. „Ist gut, Lukas. War zwar ganz interessant hier, aber es spukt ja gar nicht."

Als hätte er damit irgendwen oder irgendwas herausgefordert, hörte man im unteren Stockwerk ganz eindeutig ein Kinderlachen, gefolgt von hektischem Klopfen an eines der Fenster.

„Alter! Ich hab es auch gehört!", rief Timi.
Ich sprang auf ihn zu und drückte ihm meine Hand fest auf den Mund. „Um Gottes Willen! Sei doch leise!"
Timi nickte und ich löste meine Hand wieder. „Lass uns jetzt bitte gehen!"
„Ja. Das war krass. Das war viel zu krass", flüsterte der nun anscheinend auch nervöse Timi kopfschüttelnd.

Doch so einfach sollte das Gehen nun auch nicht werden. Denn als ich, wieder unten angekommen, die Haustür aufdrücken wollte, bewegte sich diese keinen Millimeter.
„Timi", wimmerte ich verzweifelt. „Die geht nicht auf!"
„Unsinn, lass mich mal", meinte er und drückte selbst fest dagegen. „Scheiße. Du hast Recht."

Ich erinnerte mich an all die Dinge, die ich morgens im Netz über dieses Haus gelesen hatte.
„In diesem Forum... in diesem... in diesem Forum stand... stand dass die Tür dann irgendwann einfach wieder... wieder aufgeht", erklärte ich Timi mit bebender Unterlippe. Dieser kam ganz nah zu mir und legte mir beide Hände auf die Schultern.
„Hey Lukas, es war eine scheiß Idee, okay? Aber dir passiert schon nichts, solange ich dabei bin."
„Ich... ich hoffe es", flüsterte ich und war kurz davor, ohnmächtig zu werden. Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen?
Timi kam ganz nah zu mir heran und schloss mich fest in seine Arme. „Wir warten einfach kurz, dann versuchen wir es nochmal", flüsterte er mit beruhigender Stimme in mein Ohr. Unter anderen Umständen hätte ich diese Situation wohl in vollen Zügen genossen. Jetzt allerdings hatte ich einfach nur den Wunsch, nicht zu sterben.

Minutenlang standen wir einfach nur eng umschlungen da, ohne das etwas passierte. Als dann jedoch im hinteren Teil des Hauses erneut ein leises Klopfen zu hören war, riss ich mich von Timi los und schlug panisch gegen die Haustür, die sich sofort öffnete. Ich griff nach seiner Hand und wir rannten zum Auto.

„Alter!", keuchte Timi, während er den Motor startete. „Das war verdammt geil!"
Ich war nicht fähig, ihm zu antworten und starrte einfach nur aus dem Fenster.
„Lukas?"
„Fahr...einfach...nach...Hause...", antwortete ich zitternd und lehnte meinen Kopf an die Fensterscheibe.

-

Direkt, nachdem wir an Timis Haus angekommen waren, hatte ich mich ins Bett verabschiedet. Ich wollte einfach nur schlafen und das vergessen, was da gerade in diesem Haus passiert war. Wenn ich mich ganz fest anstrengte, schaffte ich es ja vielleicht sogar, von Timi zu träumen...

Ich weiß nicht, wie ich es dann letztendlich geschafft hatte, trotz der unglaublichen Nervosität, die noch immer durch meinen Körper wütete, einzuschlafen. Aber irgendwann war es mir tatsächlich gelungen und ich träumte von Timi. Doch gerade, als wir uns in meinem wunderschönen Traum küssen wollten, schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Zuerst war ich mir nicht sicher, was es war, das mich da geweckt hatte. Als es dann jedoch ein zweites Mal passierte, war ich mir sicher. Ein Klopfen. Es hatte gerade an die Balkontür, die zu Timis Studio führte, geklopft! An der Balkontür, neben der ich nur wenige Meter entfernt lag!

Ich sprang aus dem Bett und rannte die Treppen mit rasendem Puls nach unten. War es denn nicht genug, dass Timi mich damit folterte, mich in so ein verdammtes „Geisterhaus" zu schleppen? Musste er es denn tatsächlich auf die Spitze treiben und mich hier weiter quälen?

Als ich unten ankam, war alles dunkel und ich konnte zu meinem großen Schrecken Timis gleichmäßiges Schnarchen hören, das aus seinem Schlafzimmer kam. Ganz langsam schlich ich an ihn heran und setzte mich dann vorsichtig auf die Bettkante. Sollte ich ihn jetzt wecken? Aber wozu? Was wollte ich dann, was er dann tat? Er hatte nicht geklopft. Ich musste ihm doch erzählen, dass es geklopft hatte und irgendjemand - oder irgendetwas (!!!) in der Nähe des Hauses war.
Für logische Überlegungen war dann allerdings keine Zeit mehr, denn als es dann erneut an ein Fenster in der Nähe klopfte, riss ich die Bettdecke weg, schmiss mich hinter Timi und krallte mich an ihm fest.

„Lukas?", murmelte er. „Was ist denn los?"
„Es klopft!", schrie ich ihm panisch ins Ohr.
„Aua. Nicht so laut. Dann mach doch auf", sagte er schlaftrunken.
„Ich... ich mach doch nicht auf. Bist du irre? Draußen ist alles dunkel. Das... da ist kein...Mensch."
Timi drehte sich um und lachte laut auf. „Was denn sonst, wenn kein Mensch?"
„Das weiß ich doch nicht", rief ich völlig hysterisch.
Timi schien überhaupt nicht beunruhigt von der ganzen Sache zu sein, was mich sehr verwunderte. Spätestens jetzt wäre doch wohl jeder panisch!
„Ach Lukas", flüsterte er und zog mich in seine Arme. „Alles gut."
„Ich...was...was war das?", fragte ich leise.
„Pssst", flüsterte er und legte mir dabei einen Finger auf die Lippen. „Das war wahrscheinlich nur der Wind. Ich mein, es gibt keine Geister oder sowas in der Art. Das weißt du doch."

Ich holte tief Luft und konzentrierte mich darauf, meinen Puls unter Kontrolle zu bekommen. Doch als er sich gerade wieder auf normalem Level bewegte, schnellte er wieder in die Höhe. Doch diesmal klopfte es nicht. Man hörte auch keine Kinderstimmen. Es passierte nichts gruseliges, sondern etwas wunderschönes.
Timi begann damit, ganz sanft und langsam meinen Rücken zu streicheln. Je länger er das tat, umso mehr konnte ich mich entspannen und irgendwann hatte ich tatsächlich dieses blöde Klopfen, was wahrscheinlich wirklich nur von einem Zweig stammte, den der Wind an die Scheibe gepustet hat, vergessen.

Timi hörte kurz damit auf, mich zu streicheln und kam ganz nah mit seinem Gesicht an meines heran. „Du kannst ruhig bei mir schlafen", flüsterte er und ich spürte seinen Atem auf meinen Lippen.
„Und warum? Ich dachte, es gibt nichts, wovor man Angst haben muss", antwortete ich und zum ersten Mal seit Stunden schlich sich wieder ein Grinsen über mein Gesicht.
Doch statt mir eine Antwort zu geben, presste Timi seine Lippen auf meine. Ich konnte gar nicht glauben, dass das gerade wirklich passierte. Timi küsste mich. Der Mann, in den ich seit Monaten schon verliebt war, küsste mich einfach so.

Völlig perplex beendete ich den Kuss und starrte Timi im schwachen Mondlicht an.
„Timi?"
„Lukas?"
„Was... was machst du da?", fragte ich verwundert.
Timi lächelte und legte mir eine Hand an die Wange. „Etwas, das ich schon seit einer ganzen Weile gerne machen wollte."
„Du... wolltest mich schon länger küssen?", fragte ich erstaunt.
„Ja. Fürs erste", antwortete er und lachte dreckig, bevor er mich wieder küsste. Ich kniff mir unauffällig in den Oberschenkel und konnte gar nicht fassen, dass ich nicht aufwachte. Das hier war wirklich kein Traum. Es war die pure Realität.
Der zunächst vorsichtige Kuss entwickelte sich schnell in ein leidenschaftliches, feuchtes Knutschen, mit dem wir die nächsten zwei Stunden verbrachten.

„Na, Lukas? Wie fandest du den Abend", fragte mich Timi, als er mich später in der Nacht fest in seinen Armen hielt.
„Ab einem gewissen Zeitpunkt war er echt gut", antwortete ich gähnend und schloss die Augen. Timi lachte leise, gab mir einen Kuss auf die Stirn und drehte sich von mir weg. Ich rückte an ihn heran und kuschelte mich von hinten eng an ihn. „Gute Nacht, Timi!"
„Gute Nacht, Lukas."

Natürlich konnte ich nicht sofort schlafen, weil ich viel zu aufgeregt und glücklich dafür war. Darum bekam ich auch mit, wie Timi eine halbe Stunde später sein Handy in die Hand nahm. Neugierig spitzelte ich über seine Schulter und sah ihm beim Schreiben zu:

Timi, 04:23: Danke für deinen Einsatz, Alter. Du solltest echt darüber nachdenken, in ner Geisterbahn Karriere zu machen. Es hat alles geklappt, wie wir uns das vorgestellt haben. Er liegt in meinem Bett und wir haben uns geküsst :)
Marcel, 04:24: Endlich! Gern geschehen :)

Das hätte Timi doch auch einfacher haben können, dachte ich und schlief mit einem fetten Grinsen im Gesicht ein.

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