Singularity - Der Tod ist nah
Titel: Singularity - der Tod ist nah
Länge: ca. 7000 Wörter
(Sub-)Genre: Low Fantasy, Gay Romance, paranormal Romance
Fandom/Ship: BTS, Taekook
Veröffentlicht: Feb' 2023, im Rahmen einer Schreibaufgabe des creativespace22
Warning: Tod, Sterben
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Ähnlich wie das Schlagen des Herzens folgt alles im Leben einem bestimmten Rhythmus. Auch der Tod.
Taehyung sucht noch heute nach einer plausiblen Erklärung dafür, warum immer dann so viele Menschen sterben, wenn die Blätter kommen und wenn sie gehen. Schon oft hat er sich von diesem Phänomen selbst überzeugen können, aber er versteht immer noch nicht, warum es so ist. Seine Theorien bleiben das, was sie sind: unverifizierte Spekulationen, dessen Antwort er wahrscheinlich nie bekommen wird.
Eine Frage quält ihn dabei immer besonders, denn im Grunde ist es so: Jeden Tag müssen wir uns entscheiden. Manchmal bereuen wir eine Entscheidung, manchmal nicht. Aber letztlich führt sie immer zu einem Ergebnis, sodass wir sie im Nachhinein nicht mehr ändern können.
Ist es bei dem Tod genauso? Bereut er seine Entscheidungen manchmal auch?
Er wird es wohl nie erfahren.
Eins dagegen weiß er ganz sicher: Dem Tod, zu welcher Jahreszeit er auch kommt, ist es egal, ob es sich bei dem Sterbenden um eine alte Frau handelt, die ihr Leben bereits gelebt hat oder ein neun Jahre altes Mädchen, das ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt hätte. Dass es grausam ist, steht außer Frage. Aber nicht für das Mädchen selbst, sondern für die Angehörigen, die mit dem Schmerz dieses Verlustes zurückbleiben.
Menschen glauben ja gerne, dass der Tod grausam, qualvoll und brutal ist. Aber das ist er nicht. Der Tod an sich ist freundlich und wohlwollend; das Sterben ist das, was Schmerz und Leid verursacht. Taehyung weiß aber auch, dass Menschen das erst verstehen, wenn es bereits zu spät ist und sie den schmerzvollen Teil schon hinter sich haben.
Dankbar, dass er diesen Teil nie wirklich mitbekommt, geht er aufs Krankenbett zu. Der leblose Körper des Jungen hat schon sämtliches Leben verlassen, die Muskeln sind erschlafft, die Augen geschlossen. Er sieht entspannt aus, beinahe, als würde er lächeln. Dabei reicht ein Blick auf die Krankenakte, um zu erkennen, dass er bis vor einigen Minuten noch entsetzliche Qualen durchgestanden haben muss. Erleichtert stellt er aber auch fest, dass er diesen letzten Kampf nicht alleine kämpfen musste. Seine Eltern und auch jemand vom Krankenhauspersonal stehen neben dem Bett und betrauern den Tod des Jungen.
Als er sich kurz darauf von diesem Anblick lösen kann, wendet er sich der Seele des Jungen zu. Sie hat sich ein Duplikat des Jungenkörpers erstellt, der zwar weitestgehend transparent ist, aber dafür von einem sanften Leuchten erhellt wird. Er steht ebenfalls weinend zwischen seinen Eltern.
"Mama! Papa! Ich bin hier!", sagt er immer und immer wieder. Er versucht nach seinen Eltern zu greifen, aber da sein jetziger Körper nicht mehr materialisiert ist, greift er jedes Mal durch sie hindurch. Es bricht Taehyung das Herz, die junge Seele so verzweifelt zu sehen, darum tritt er näher an sie heran.
"Hey, Kleiner", spricht er ihn ganz vorsichtig an, während er in die Hocke geht, da er doch um einiges größer ist und er den Jungen nicht erschrecken will. Dieser dreht sich erschrocken zu Taehyung um, als er begreift, dass er damit gemeint ist.
"Du... du kannst mich... sehen?", fragt er entsetzt. Über den Schreck versiegen sogar die leicht durchsichtig schimmernden Tränen. Leider ist es nicht das erste Mal, dass er diese Frage gestellt bekommt und allmählich bildet er sich ein, darauf immer schneller und besser eine Antwort zu finden, die nicht zu noch mehr Angst führt.
"Ja, das tue ich. Es ist schwer, dass die anderen es nicht mehr können, hm?", fragt er und erhält ein seichtes Nicken, das an Traurigkeit kaum zu übertreffen ist. Im selben Moment erkennt er im Augenwinkel, wie sich etwas bewegt. Als er daraufhin den Kopf anhebt und aus dem Fenster schaut, erkennt er die Herbstblätter, die vom Wind aufgewirbelt werden und sehr eindringlich zu verstehen geben, dass Herbst ist. Die Jahreszeit, in der Taehyung besonders viele Seelen abholen muss.
Kurz kehrt Stille ein. Lediglich das heisere Schluchzen und Wimmern der trauernden Eltern ist noch ganz leicht wahrzunehmen. Der Junge betrachtet seinen eigenen Körper lange und kann den Blick auch dann noch nicht wieder abwenden, als er eine Frage an Taehyung richtet.
"Also stimmt es? Bin ich... bin ich tot?"
"Du brauchst keine Angst haben. Ich bin gekommen, um dich abzuholen und ich möchte, dass du mich begleitest. Ich versprech' dir auch, dass ..." Taehyung wagt einen weiteren Blick auf das Klemmbrett mit der Krankenakte. Enzephalitis steht dort und wenn Taehyung es richtig in Erinnerung hat, haben Menschen mit einer Hirnhautentzündung immer sehr starke Schmerzen.
"... dass du keine Schmerzen mehr haben wirst", sagt er deswegen und schenkt dem Jungen ein zuversichtliches Lächeln. "Es ist ein schöner Ort, zu dem ich dich bringen werde. Er ist warm und hell, wie ein sonniger Frühlingstag."
Der Blick des Jungen schweift zu seinen Eltern, er überlegt einen Moment, dann schüttelt er energisch den Kopf. "Nein! Ich kann nicht! Papa ist nicht gut im Trösten. Er kann das nicht. Es war immer Mama, die mich getröstet hat, nie Papa. Aber wenn Mama traurig ist, wer soll sie denn dann trösten?"
Er klingt aufgeregt, aber diesmal kann Taehyung es verstehen. Er hat recht. Das Schlimmste am Tod ist es, die Angehörigen zurückzulassen. Was soll er nur sagen?
"Sie werden es schaffen. Sie haben sich und auch wenn dein Papa vielleicht nicht gut tröstet, bin ich mir trotzdem ganz sicher, dass es reichen wird. Deine Mama wird wissen, dass er das nicht gut kann und es zu schätzen wissen, wenn er es trotzdem versucht. Sie sind ja nicht alleine. Sie können sich gegenseitig helfen, du musst ihnen vertrauen."
Namjoon hätte mit Sicherheit bessere Antworten gefunden, schießt es Taehyung durch den Kopf. Aber er hat Glück. Seine Worte reichen dem Jungen anscheinend, denn er dreht sich einen Augenblick später zu ihm um und nickt.
"Es tut mir leid, Kleiner. Aber wir müssen langsam gehen."
Taehyung streckt die Hand aus, nachdem er sich hingekniet hat und schenkt ihm ein weiteres Lächeln. Er erwidert es hoffnungsvoll und legt schließlich seine Hand in Taehyungs.
Daraufhin schließen beide die Augen. Taehyung konzentriert sich. Und steht nur eine Sekunde später mit dem Neunjährigen zusammen plötzlich in der Zwischenwelt. Der Junge schaut sich mit ängstlich aufgerissenen Augen um und klammert sich an Taehyung.
"Wo sind wir? Hier ist es nicht hell! Du hast mich angelogen! Ich hab Angst!", schießt es aus ihm heraus. Taehyung legt seine Arme um den Jungen, streicht beruhigend über seine Arme, während er erneut vor ihm in die Knie geht.
"Keine Angst. Wir sind hier, weil das der einzige Ort ist, von dem aus ich dich zum Seelentor bringen kann."
Wirklich verstehen scheint der Junge nicht, denn er scheint immer noch hin- und hergerissen zu sein, ob er den Worten Glauben schenken soll oder nicht. Sein Blick bleibt an den kupferfarbenen Backsteinen hängen, die dem Raum einen nicht sehr einladenden Charakter verleihen. Vielleicht liegt es auch an der Beleuchtung, denn bis auf die leblos in einer kahlen Fassung eingeschraubten Glühbirne kommt kein Licht in diese vier Wände. Die Glühbirne hat in den Jahren schon ziemlich an Leuchtkraft verloren, denn Taehyung ist sich ziemlich sicher, dass der Raum mal heller war.
Ein paar Mal hat er sich auch schon die Frage gestellt, was passiert, wenn sie ausgeht. Er glaubt irgendwie nicht, dass sie nur dafür da ist, Licht zu spenden und hat auch dafür schon die wildesten Spekulationen angestellt. Auch darauf hat er bis jetzt nie Antworten erhalten, also hat er nicht weiter darüber nachgedacht und sich gesagt, dass er es herausfinden wird, wenn es soweit ist.
"Wo genau... sind wir hier?", fragt der Junge unsicher, nachdem er sich zu allen Seiten mehrmals umgedreht hat.
"Das ist die Zwischenwelt", erklärt Taehyung lächelnd, "mein Zuhause sozusagen."
"Du wohnst hier!?"
"Ja." Freudlos lacht Taehyung. "Ja, das tue ich."
"Aber warum? Warum gehst du nicht einfach auch an diesen Ort, der so schön sein soll? Das... hier ist es nicht schön. Warum bleibst du dann hier?"
Der Junge trifft tatsächlich einen wunden Punkt in Taehyung.
"Wenn ich ehrlich bin, dann...", er unterbricht sich selbst. "Komm mit. Ich zeig dir was."
Der Junge sieht ihn mit großen, neugierigen Augen an. Taehyung liebt Kinder dafür, wie aufgeschlossen sie sind und mit wie wenig Vorurteilen er ihnen erklären kann, dass es durchaus noch etwas nach dem Tod gibt. Erwachsene sind da anders. Sie haben schon viel zu sehr eine eigene Meinung über den Tod gebildet.
Oft stellen die sich den Tod fälschlicherweise als Sensenmann vor, mit einem Totenkopf als Gesicht und in einen schwarzen, lumpenartigen Mantel gehüllt. Taehyung kann bestätigen, dass das nicht zutrifft. Weder er sieht auch nur annähernd so aus - und eine Sense trägt er erst recht nicht bei sich - noch einer der anderen acht Geleiter in Südkorea. Was direkt einen weiteren Irrglauben klarstellt: Es gibt nicht nur diesen einen Tod. Das ist Bullshit. Jeden Tag sterben hunderte Menschen im Land, wie viele es auf der ganzen Welt sind, vermag Taehyung sich gar nicht vorstellen zu wollen. Wie sollte einer allein all diese Seelen geleiten? Das kann gar nicht funktionieren.
Darum gibt es neben Taehyung noch ganz viele, deren Aufgabe es ist, die Seelen zuerst in die Zwischenwelt, und anschließend zum Tor zu begleiten. Sie sind Gefährten der Verstorbenen und selbst weder das eine noch das andere. Weder lebendig noch tot. Sie sind wie dieser Ort - eine Mischung aus beidem, weil die Welt sich manchmal nicht so leicht in das eine oder andere Extrem einteilen lässt. Es gibt nicht nur schwarz und weiß; nicht nur tot oder lebendig, sondern noch ganz viele Grautöne dazwischen.
Als sie gemeinsam vor dem gut vier Meter großen Tor ankommen, dessen Türen sich daraufhin langsam öffnen, erklärt Tae: "Meine Aufgabe ist es, Seelen wie dich hierher zu bringen. Wenn sich das Tor öffnet, seht ihr dieses Licht. Aber ich... kann es nicht sehen. Meine Zeit ist wohl noch nicht gekommen, deswegen muss ich hier bleiben."
Der Junge schweigt, aber Taehyung erkennt an dem kurzen, mitleidvollen Blick, dass er die Worte gehört hat. Die Türen öffnen sich langsam, aber stetig weiter. Der Junge seufzt.
"Also kannst du es nicht sehen?", will er sich vergewissern. Tae schüttelt den Kopf.
"Nein. Das ist dein Licht. Deswegen kannst nur du es sehen."
"Weißt du... Ich hatte immer Angst davor zu sterben", erklärt der Junge ernst. Er klingt plötzlich viel älter und reifer, als ein Junge in seinem Alter klingen sollte. Sein Blick bleibt dabei ununterbrochen an den sich öffnenden Türen haften. "Aber jetzt hab ich keine Angst mehr. Ich weiß, dass mir nichts Schlechtes mehr passieren wird. Es wird alles gut werden. Warm. Hell. Danke, dass du mich hierher begleitet hast."
Es sind nicht mal die Worte an sich, sondern die Art, wie er es sagt, die Taehyung eine Gänsehaut bescheren. Es ist nicht das erste Mal, dass er mitbekommt, wie dieses Tor einen gewissen Effekt auf eine Seele ausübt. Taehyung selbst kann es nicht nachvollziehen. Für ihn ist da keine Wärme, kein Licht. Selbst wenn das Tor sich vollständig geöffnet hat, ist da nichts als schwarze, kalte Dunkelheit.
"Es ist so schön", erklärt der Junge, als ihm einige stille Tränen über seine semitransparente Haut kullern. "So schön... ich hoffe so sehr, dass du dein Licht auch bald sehen wirst."
Taehyung muss nichts mehr sagen. Der Junge geht von ganz allein einige Schritte zielstrebig vorwärts, bis die Seele sich schließlich vollständig aufgelöst hat. Danach schließen sich die Türen wieder. Taehyung bleibt noch einen Moment vor dem Tor stehen und seufzt in Gedanken versunken.
Für ihn hat sich nichts verändert.
Er ist immer noch in diesem trostlosen Gemäuer der Zwischenwelt gefangen. Ein Kerker, von dem er nicht weiß, ob er tatsächlich existiert, oder ob Taehyung ihn vielleicht durch die Kraft seiner Vorstellung erschaffen hat. Oder seit wann er hier wohnt, wie er es vorhin so schön formuliert hat.
Er ist schon ewig hier, wobei er ewig nicht einmal genauer definieren kann. Vielleicht sind es Monate. Vielleicht auch schon Jahre? Oder Jahrzehnte? Es ist so unfassbar schwierig, das einzuschätzen, wenn so etwas wie Zeit nicht existiert. Wenn man keinen Hunger mehr hat, nicht müde ist und keine Schmerzen mehr ertragen muss. Er weiß nicht mehr, wie er zu Lebzeiten dazu gestanden hat, weil er sich an gar nichts mehr aus seinem Leben erinnert, aber er kann sich vorstellen, dass er wie alle Menschen gedacht hat und Schmerzen, Hunger und Müdigkeit als etwas durch und durch Schlechtes angesehen hat. Als Geleiter ist man da etwas schlauer. Taehyung weiß jetzt nämlich, dass diese Dinge, so unangenehm sie auch sind, zum Leben dazugehören.
Ein weiteres Seufzen entweicht ihm, als er es endlich schafft, dem Tor den Rücken zuzuwenden. Er will wieder zurück an seinen Posten, aber auf halbem Wege bleibt er stehen. Der Raum, in dem er mit dem Jungen vorhin angekommen ist, zieht seine Aufmerksamkeit auf sich.
Die schwache Glühbirne erlischt. Für eine Sekunde steht Taehyung in völliger Dunkelheit. Dann springt sie wieder an und leuchtet schwach vor sich hin.
Das hat sie noch nie getan und Tae kann nicht anders, als auf sie zuzugehen und genauer zu begutachten. Natürlich erkennt er keine Besonderheiten. Sie hängt wie eh und je in der pragmatischen Fassung, das Kabel baumelt von der mindestens fünf Meter hohen Decke.
Taehyung streckt seine Finger nach ihr aus, verharrt jedoch, weil er eine Art Flimmern im Glühdraht erkennt. Kurz darauf steht er erneut kurzzeitig im Dunkeln.
"Was passiert hier?", fragt er verwirrt, auch wenn er weiß, dass ihm die Glühbirne wohl kaum eine Antwort geben wird. Er betrachtet sie eingehend, erkennt aber, bis auf ihre schwache Leuchtkraft, nichts Auffälliges. Sie scheint sich wieder beruhigt zu haben, denn es vergeht eine ganze Zeit, in der sie einfach konstant vor sich hinleuchtet.
Tae weiß, dass er nicht weiter hier stehenbleiben kann. Immerhin hat er eine Aufgabe und der sollte er so schnell wie möglich wieder nachkommen. Darum wendet er sich seufzend von der Lichtquelle ab und geht an seinen eigentlichen Arbeitsplatz. Dem Kalender.
Es ist eine Art meterlanger Tunnel, dessen Wände nicht aus Stein bestehen, sondern aus digitalen Uhren. Die Ziffern leuchten in einem kräftigen Rot, was dazu führt, dass der Tunnel selbst aussieht, als würde rotes Licht ihn beleuchten.
Jede Zeitanzeige davon steht für den Todeszeitpunkt eines Menschen. Schon oft hat er sich einfach angeschaut, wie die Anzeigen hin- und herspringen. Es gibt kaum eine Anzeige, bei der die Zeit normal runterläuft. Warum das so ist, hat Taehyung erst verstanden, als er ein sehr ausführliches Gespräch mit Namjoon, dem Anführer aller Seelengeleiter in Südkorea, hatte. Er hat ihm erklärt, dass jede Entscheidung, die ein Mensch im Laufe seines Lebens trifft, eine Auswirkung darauf hat, ob wir unser Leben positiv oder negativ beeinflussen. Taehyung war es bis dato nicht bewusst gewesen, aber er hat lange darüber nachgedacht und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Menschen allein an einem Tag unfassbar viele Entscheidungen treffen. Was sie essen, ob sie die Rolltreppe nehmen oder doch die Treppe, ob sie direkt ins Bett gehen oder doch noch mit dem Kollegen einen trinken gehen. Es ist also kein Wunder, dass die kleinen Anzeigen beinahe jede Sekunde wieder auf einen anderen Todeszeitpunkt umspringen.
Früher, als Taehyung noch nicht viel Erfahrung hatte, war er davon überzeugt, irgendwann ein Muster erkennen und vorhersagen zu können, wann jemand sterben wird. Das hat er allerdings ziemlich schnell aufgegeben.
Menschen sind unberechenbar und dementsprechend auch der Zeitpunkt ihres Todes.
Das rote Licht um Taehyung herum wird schwächer, die digitalen Uhren verblassen alle bis auf eine. Dann ertönt ein helles Geräusch, das klingt, als wenn man mit einem gepolsterten Holzstab gegen eine Klangschale schlägt. Nur größer. Was das bedeutet, weiß er ganz genau. Die Zahl wird immer kräftiger werden, bis das rote Licht so grell wird, dass Tae gar nichts mehr darin erkennen kann. Daraufhin wird es wieder schwächer werden und anstelle einer Uhrzeit wird ein Name auf der Anzeige auftauchen. Dann wird er wissen, welche Seele sein neuester Auftrag ist.
Aufmerksam sucht er nach der einen Anzeige, die nicht verblasst und wird auch schnell fündig. Er geht einige Schritte in den Tunnel hinein und betrachtet die Anzeige. Die Zahlen werden immer heller, bis der gesamte kleine Bildschirm vollständig rot ist. Taehyung weiß, dass das der Moment ist, in dem jemand gestorben ist. Sein Blick bleibt auf der Anzeige haften, weil er neugierig ist, welcher Name dort erscheint.
Was er dann allerdings zu sehen bekommt, lässt ihn verwirrt einige Male blinzeln.
"Das ist neu", stellt er fest und schaut sich zu allen Seiten um, als würde ihm jemand einen Streich spielen.
Aber auch, als er wieder zurück auf die Anzeige schaut, hat sich nichts an der Tatsache geändert, dass anstelle eines Namens wieder eine Uhrzeit angezeigt wird. Was technisch nicht möglich ist. Wer auch immer da gerade gestorben ist, muss tot sein. Man kann nicht sterben und dann wieder lebendig werden. Es kann zwar von Zeit zu Zeit vorkommen, dass einige Seelen länger in der Zwischenphase verweilen, bis sie sich entschließen, ob sie wieder in ihren irdischen Körper zurückkehren oder ihn loslassen, aber das ist noch etwas anderes. Selbst in diesem Fall leuchtet die Anzeige erst dann auf, wenn der Betroffene tatsächlich tot ist.
Das Flackern der Glühbirne. Der Fehler in der Anzeige. Irgendwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu und Taehyung hat noch keine Idee, durch was es ausgelöst werden könnte. Oder ob diese beiden Dinge zusammenhängen.
"Und jetzt?", fragt er die Uhr, dessen Leuchten immer schwächer wird. Die anderen dagegen gewinnen wieder an Leuchtkraft und schon bald unterscheidet sich die besondere Anzeige nicht mehr von den anderen.
"Was geht hier nur vor sich?", fragt er in die Stille und ist fast schon froh, als er sieht, wie stattdessen an einer anderen Stelle eine Anzeige zu leuchten beginnt. So traurig es auch immer ist, wenn ein Mensch stirbt, will er sich über die Ablenkung gerade nicht beschweren.
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Drei weitere Seelen begleitet Taehyung, ohne weitere Vorkommnisse. Erst danach, als er wieder im Tunnel des Kalenders steht, passiert es erneut. Das gleiche Feld beginnt zu leuchten, während die anderen im gleichen Atemzug verblassen. Taehyung schleicht überaus vorsichtig, als könne er der Uhr sonst einen Schreck einjagen, zu ihr und mustert sie eingehend. Wieder macht es im ersten Moment den Anschein, dass es dem üblichen Ablauf folgt. Aber dann beginnt die Anzeige zu flackern.
"Was stimmt denn nicht mit dir!?", platzt es frustriert aus Taehyung heraus, weil er keine Erklärung dafür findet, was vor sich geht. Flackern. Erst diese dumme Glühbirne und jetzt flackert auch noch die Anzeige? Was soll das?
Taehyung konzentriert sich und erkennt in dem Flackern einen Namen. Jeon. Er ist nur den Bruchteil einer Sekunde zu sehen, bis ihm wieder die Zahlen angezeigt werden. Auch die springen hin und her, schneller als es sonst üblicherweise der Fall ist. Dann wieder der Name. Uhrzeit. Name.
Schließlich erlischt ihr Licht wieder bis auf ein schwaches Restleuchten wie das von Glut. Aber Taehyung hat es geschafft. Er hat den Namen vollständig erkennen können. Jeon Jeongguk. Er weiß nur noch nicht, was er mit dieser Information jetzt anfangen soll. Er weiß nicht mal, ob er ihn aufsuchen könnte, selbst wenn er es versuchen würde. Immerhin lebt dieser Jeon Jeongguk. Zumindest gerade.
"Okay. Du schaffst das", sagt er sich. "Du musst nur nachdenken, Taehyung. Das hat alles irgendwas zu bedeuten. Du musst nur herausfinden, was."
Eine halbe Ewigkeit tigert Taehyung unruhig in dem Tunnel auf und ab. Er denkt darüber nach, ob die Glühbirne ihn vielleicht gewarnt hat. Oder ob sie vielleicht einfach kaputt geht, genau wie der Kalender. Er fragt sich, ob es bei der einen defekten Zeitanzeige bleiben wird oder ob es sich häufen wird. Was, wenn er bald nicht mehr weiß, ob einer tatsächlich tot ist oder nicht? Und vor allem: Was passiert, wenn Taehyung eine Seele abholt, die ihm als tot angezeigt wird, sie es in Wahrheit aber noch gar nicht ist. Was, wenn Taehyung das sogar schon passiert ist und er es nur nie mitbekommen hat, weil er sich schon auf den Weg gemacht hat?
Würde das Auswirkungen haben? Auf ihn? Auf die jeweilige Seele? Auf das Gleichgewicht?
Verzweifelt rauft Taehyung sich die Haare. Es gibt nur einen, den er gerade um Hilfe bitten kann und der vielleicht ein klein wenig Licht ins Dunkel bringen kann.
"NAMJOON", ruft er nach seinem Vorgesetzten. Aber wie so oft reagiert er nicht.
"Hör auf mich zu ignorieren. Ich weiß, dass du mich hören kannst. Und es ist wichtig, verdammt!"
Wieder keine Reaktion.
"Namjoon! Verdammt. Sag mir wenigstens, was ich jetzt machen soll!"
Als auch darauf wieder nichts kommt, kann Taehyung seinen Frust nicht mehr für sich behalten. Er lässt einen Schrei los, der befreiender wirkt als alles andere.
Danach fühlt sich sein Kopf wieder leichter an. Er beschließt, dass er ohne die Hilfe von Namjoon klarkommen muss. Er muss sich bloß entscheiden. Geht er diesem Menschen, diesem Jeon Jeongguk, einen Besuch abstatten oder nicht?
Plötzlich wird ihm klar, dass auch er jeden Tag unzählige Entscheidungen zu treffen hat. Ob er auf die Anzeige hört und die Seele abholt, oder ob er sich erstmal einer anderen zuwendet. Ob er ihr möglichst schonend beibringt, dass sie nicht mehr in der Welt der Menschen bleiben kann, oder ob er sie ohne Erklärungen einfach mitnimmt.
Taehyung entscheidet, ob der Junge von heute Morgen die Chance bekommt, freiwillig mit ihm mitzukommen oder nicht.
Es liegt in seiner Hand. Und auch wenn er nicht weiß, ob er gerade die richtige Entscheidung trifft, sagt ihm sein Bauchgefühl, dass er gehen soll. Dass er zu diesem Jeon Jeongguk muss, wenn er herausfinden will, warum gerade alles um ihn herum verrückt spielt.
Konzentriert schließt er die Augen und öffnet sie erst wieder, als er sich sicher ist, an seinem Ziel angekommen zu sein.
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Jeon Jeongguk ist ein älterer Mann, auf dessen Gesicht bereits die ersten Falten zu erkennen sind, in erster Linie Lachfältchen. Er sitzt im karamelfarbenen Sessel seines Wohnzimmers, und obwohl es draußen schon dunkel ist, hat er das Licht nicht eingeschaltet. In den Händen hält er einen Bilderrahmen, auf dem, wegen der mangelnden Beleuchtung, nur sehr schemenhaft zwei Personen zu erkennen sind.
Taehyung stellt fest, dass Seele und Körper noch eins sind. Das bedeutet, dass dieser Mann vor ihm ganz sicher nicht tot ist.
Als Jeongguk seine Stimme erhebt, schreckt Tae ein klein wenig zusammen, weil er nicht damit gerechnet hat, sie so alsbald vernehmen zu können.
"Siehst du? Ich hab es dir versprochen und daran halte ich mich", erklärt er dem Bild. Natürlich fragt Taehyung sich jetzt, wer auf dem Bild abgebildet ist, aber er vermutet, dass es Jeongguk selbst zeigt und jemandem, der ihm sehr nah war.
"Wobei... ich mich manchmal frage, wo du jetzt bist. Irgendwie möchte ich glauben, dass noch etwas nach dem Tod kommt. Dass du irgendwo, vielleicht in einer anderen Welt, noch existierst. Und wir uns irgendwann wiedersehen werden."
Jeongguks Stimme klingt so unfassbar traurig und hoffnungsvoll zugleich. Es gibt wohl keinen Zweifel mehr, dass dieser Mann einen Menschen verloren hat, den er sehr geliebt haben muss. Er klammert sich immer noch so sehr an den Verstorbenen, dass es Tae nachdenklich stimmt.
Er weiß nichts mehr von seinem menschlichen Leben. Von Namjoon weiß er nur, dass er vor ewigen Zeiten mal genauso gelebt haben muss, wie dieser Jeongguk es gerade tut. Unweigerlich fragt er sich, ob auch er Menschen hinterlassen hat, die um ihn getrauert haben. Oder immer noch trauern. Taehyung fragt sich, wie sein Leben wohl ausgesehen hat und ob er sich, sollte er jemals in den Genuss kommen, auch durchs Tor gehen zu dürfen, wieder an alles erinnern kann. Er hofft es. So sehr, wie dieser Mann vor ihm zu hoffen scheint, dass es durchaus noch etwas nach dem Tod gibt.
Das erste Mal in seiner ganzen Zeit als Seelengeleiter ertappt sich Taehyung dabei, einen lebenden Menschen über alles aufklären zu wollen. Natürlich ist ihm das untersagt. Menschen dürfen nicht erfahren, was nach dem Tod kommt, weil sie dann ihr Leben nicht mehr richtig leben würden. Weil alles an Bedeutung verlieren würde, wenn sie vom Seelentor erfahren würden. Trotzdem pocht der Wunsch so stark in Taehyungs Brust, dass er wieder eine Vorstellung davon bekommt, wie es sich angefühlt haben muss, ein schlagendes Herz im Inneren zu tragen.
Ein schlagendes Herz, das dazu in der Lage ist, zu lieben.
"Verdammt", brummt Taehyung zähneknirschend. Diese Gedanken sind nicht gut. Er will nicht daran erinnert werden, dass er mal gelebt hat. Dass er mal Hunger verspürt hat oder müde war. Dass er Freude genauso empfunden hat wie Schmerz und Angst. Als Seelengeleiter hat man all dies nicht mehr und irgendwie macht es das alles leichter. Wenn man nicht atmen muss, um existieren zu können, läuft man auch nicht Gefahr, dass die eigene Existenz enden könnte.
Aber irgendwie will Taehyung gerade genau das. Er will, dass es endet. Er hat doch lange genug Seelen zum Tor begleitet. Wann ist er dran? Wann darf er endlich aus dieser Grauzone raus?
"VERDAMMT!", wiederholt er, nur diesmal lauter. Er ballt die Hände zu Fäusten und will sich wieder auf den Weg zurück in die Zwischenwelt machen. Aber etwas hält ihn davon ab.
Der Blick, den Jeongguk in seine Richtung wirft, und es ist das erste Mal, dass er von dem Bild aufschaut, durchdringt ihn. Er lähmt ihn. Auf Taehyung macht es den Anschein, als würde Jeongguk geradewegs ihn ansehen. Was unmöglich ist, weil er für lebende Menschen nicht sichtbar ist. Oder kann er es möglicherweise doch, weil er schon mal irgendwie tot war?
"Hallo?", fragt der Mann und steht so plötzlich auf, dass ihm das Bild aus der Hand fällt und mit dem Geräusch von brechendem Glas auf dem Boden aufkommt. Jeongguk geht auf ihn zu, verharrt kurzzeitig, trottet aber letztlich an ihm vorbei.
"Bist du das? Bist du da?", ruft er durch die dunkle Wohnung und entfernt sich immer weiter von Taehyung. Dieser steht immer noch wie gelähmt an Ort und Stelle, als plötzlich das Licht in der Wohnung angeht. Jeongguks Stimme wird unscharf in seiner Wahrnehmung, weil seine Beine ihn mittlerweile in einen anderen Raum getragen haben.
Jetzt, wo das Licht an ist und Taehyung was erkennen kann, wagt er einen Blick auf den zerstörten Gegenstand, den Jeongguk zuvor noch festgehalten hat. Aus der Scheibe sind Scherben geworden, die um den Rahmen herumliegen, aber das, worum es eigentlich geht, ist unversehrt geblieben. Taehyung mustert das Bild.
Und wünscht sich im selben Moment es nicht getan zu haben.
Jeongguk ist in einer jüngeren Version von sich abgebildet. Neben ihm steht ein junger Mann, der ähnlich wie Jeongguk in seinen Zwanzigern sein muss. Jeongguk hat den anderen Huckepack genommen, beide lächeln unbeschwert und frei von allen Sorgen in die Kamera.
Das erschreckende ist, dass Taehyung jetzt weiß, wer neben Jeongguk steht.
"Das... das kann nicht sein", murmelt er am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Seine Beine zittern, weshalb er sich neben das Bild hockt und seine Hand danach ausstreckt. Seine Finger sind genauso erschüttert, verdeutlichen mit ihren unruhigen Bewegungen, dass Taehyung es nicht glauben kann.
"Das... das bin... wirklich ich...", sagt er völlig geistesabwesend zu sich selbst und ist sich sicher, dass er gerade gegen sämtliche Regeln verstoßen hat, in dem er hierhergekommen ist. Er darf nicht wissen, welches Leben er einst geführt hat und doch erinnert er sich wieder an diesen Tag. An Jeongguks starke Beine, die ihn getragen haben, an das glockenhelle Lachen, obwohl Tae ihm ohne jegliche Vorwarnung von hinten auf den Rücken gesprungen ist, so wie er es oft getan hat. Oder wenn sich Jeongguks starke Arme unter seinen Hintern geschoben haben, damit er bloß nicht runterrutscht. Oh, wie sehr er es geliebt hat, seine Nase in den weichen, permanent zerzausten, schwarzen Locken zu vergraben?
Diese Erinnerung tut weh. Er verspürt gerade so eine tiefe Sehnsucht nach diesem Moment, dass er glaubt, seine Seele würde auseinandergerissen werden.
Gleichzeitig erinnert er sich aber an den Schmerz, als seine Seele damals seinen Körper verlassen hat, nachdem er den Kampf gegen die Leukämie verloren hatte. Jeongguk war an dem Tag bei ihm, so wie jeden Tag. Er ist damals heulend zusammengebrochen. Taehyung hat seinen Freund niemals so bitterlich weinen gesehen, aber wahrscheinlich hat niemand das.
Stundenlang ist er neben dem Bett sitzengeblieben, hat Taehyungs Hand gestreichelt, als würde er nur schlafen und hat das Krankenhaus erst verlassen, als man ihn dazu gezwungen hat.
Dann verblassen die Erinnerungen.
Taehyung konzentriert sich, versucht sich an mehr Einzelheiten zu erinnern, aber er kriegt die Bilder nicht gegriffen. Stattdessen breitet sich ein dumpfer Schmerz in seinem Kopf aus.
Moment...?
Taehyung reißt die Augen auf und sieht sich panisch um. Seit wann kann er wieder sowas wie Schmerzen verspüren? Und warum hat er das Gefühl, jemand würde seine Brust so stark zusammendrücken, dass er erstickt?
Stirbt er jetzt?
Kann er überhaupt sterben?
Oder beginnt er wieder zu leben?
"Ach Taetae...", holt ihn die dunkle Männerstimme wieder in die Realität zurück. "Ich glaube so oft, deine Präsenz irgendwie spüren zu können... aber das hab ich mir wohl wieder nur eingebildet, hm?"
Jeongguk ist mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen zurückgekehrt und hebt den kaputten Bilderrahmen auf, um ihn zur Seite zu legen und die Scherben aufzusammeln.
"Wenn ich dir doch nur nie dieses Versprechen gegeben hätte...", murmelt er in Richtung Bild.
Taehyung erinnert sich daran, dass er Jeongguk damals um etwas gebeten hat.
"Du musst für uns beide weiterleben, wenn ich sterbe. Versprich es mir, Kookie."
Im selben Moment wird Taehyung schmerzlich bewusst, dass er an dieser Situation schuld ist. Dass Jeongguks Zeit schon gekommen ist, dass er tatsächlich schon tot sein müsste, aber er so sehr an dem Versprechen festhält, dass er es irgendwie sogar geschafft hat, den Tod zu überlisten.
Tränen.
Das erste Mal seit Jahrzehnten kullern Taehyung Tränen aus den Augen. Der Schmerz in seinem Inneren wird zunehmend stärker. Er streckt seine Hände aus, will Jeongguk berühren und ihm sagen, dass es okay ist; dass er sein Versprechen gehalten hat und jetzt endlich loslassen darf. Aber genau wie der Junge bei seinen Eltern greift er durch den Körper hindurch.
Taehyung möchte schreien. Und weinen. Und am liebsten wegrennen. Er hätte niemals hierherkommen dürfen.
Hat die Anzeige deswegen gesponnen? Hat die Glühbirne ihn deswegen warnen wollen?
Er hat sich, als er vor dieser Digitaluhr gestanden hat, für eine Möglichkeit entschieden und jetzt weiß er zumindest, dass es die falsche Entscheidung war. Leider kann er sie nicht rückgängig machen.
Das kann man niemals.
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Seit Taehyung auf dem kalten Boden des Raums sitzt, wirbeln seine Gedanken wild durcheinander. Er verpasst der albernen Glühbirne einen neuen Schubs, damit sie hin und her schwingt. Es ist das einzige, was Taehyung gerade irgendwie hilft und er vermutet, dass es an der gleichmäßigen Pendelbewegung liegt.
Was hat er sich nur dabei gedacht?
Natürlich ist Namjoon aufgefallen, dass Taehyung bei Jeongguk war. Er ist aufgetaucht, hat ihn angeschnauzt und etwas davon gesagt, dass er versucht, das wieder geradezubiegen. Danach hat er sich entschuldigt, weil er wohl gemerkt hat, wie sehr die Situation Taehyung zusetzt. Dass er bereut. Alles. Jede idiotische Entscheidung, seit die Glühbirne das erste Mal ausgefallen ist, bereut er aus tiefster Seele.
Auf der anderen Seite ist es nicht seine Schuld, oder? Jemand hätte ihm sagen können, wie man in einem solchen Fall reagiert. Man hätte ihn früher aufhalten können. Namjoon hätte einfach kommen können, als Tae ihn gerufen hat. Dann wäre Taehyung erspart geblieben zu sehen, wie seine große Liebe - die zwar um einige Jahre gealtert ist, aber immer noch dieses große Herz besitzt - weinend auf dem Boden zusammenbricht. Es war genau wie damals. Und Taehyung ist sauer, dass er das jetzt gleich zweimal mit ansehen musste, ohne etwas tun zu können.
Aber auch jemand wie Namjoon scheint von Zeit zu Zeit die falsche Entscheidung zu fällen. Wie auch immer die Alternative ausgesehen hätte.
Seit er von Jeongguk wieder weg ist, denkt er kontinuierlich über ihn nach. Immer mehr Bilder tauchen in seinem Kopf auf, weil er sich an immer mehr Momente mit ihm erinnert. Und verdammt. Er spürt sein Herz schlagen, zumindest meint er, dass er es spüren kann. Sicher kann er das nicht sagen, aber sicher ist er sich gerade bei gar nichts mehr. Nur noch verwirrt und überfordert.
Sein Kopf könnte ihm natürlich auch einen Streich spielen, aber er glaubt, sich nicht daran erinnern zu können, dass ihn jemand abholen wollte, als er gestorben ist. Er hat doch nicht ewig bei Jeongguk gesessen und versucht, ihm irgendwie klarzumachen, dass er noch da ist, obwohl er tot ist. Was natürlich nicht funktioniert hat. Nachdem sie Jeongguk nach ein paar Stunden rausgeschmissen haben, wollte Taehyung ihm folgen. Aber er konnte sich nicht bewegen. Und plötzlich stand da Namjoon.
Er versteht es nicht. Namjoon ist kein einfacher Seelenbegleiter. Vielleicht gab es damals keinen anderen? Vielleicht musste Taehyung deswegen diese Aufgabe übernehmen? Vielleicht steckt doch mehr dahinter als purer Zufall, dass er derjenige ist, der seit vielen Jahren eine Seele nach der anderen zum Tor begleitet.
Aber was passiert jetzt mit ihm? Und was passiert mit Jeongguk? Wird er sterben und werden sie sich dann gegenüberstehen? Jeongguk wird ihn sehen können, aber wird er ihn auch wiedererkennen? So viele Fragen und jede einzelne wiegt tonnenschwer auf seiner Seele.
"Jeongguk...", wiederholt er, gibt der Glühbirne einen weiteren Schubs und zuckt nicht mal zusammen, als sie daraufhin wieder kurzzeitig ausfällt. Wer weiß. Vielleicht heißt es einfach, dass seine Zeit jetzt endlich gekommen ist und er gehen kann.
Das leise Gong lässt Tae zusammenfahren. Er muss in den Tunnel, aber die Angst lähmt ihn. Er schafft es nur, weil ein kleiner Teil in ihm hofft, Jeongguk nochmal sehen zu können.
"Bitte...", murmelt er vor sich hin, während er auf die einzige, kräftig rot leuchtende Anzeige zugeht. Die Ziffern verschwinden und schließlich erkennt Tae den Namen, der anstelle der Zahlen erscheint. Jung Hoseok steht da. Nicht Jeon Jeongguk. Taehyung ist enttäuscht. Zumindest der Teil in ihm, der auch glaubt, wieder einen Herzschlag spüren zu können. Der andere Teil in ihm ist erleichtert. Jeongguk lebt noch. Aber bringt ihm das was? Verdammt... er muss sich auf den Namen konzentrieren.
Jung... Hoseok... Jung... Jeon... Gguk... Hoseok...
"Es geht nicht", stellt Taehyung entsetzt fest. Er MUSS. Jemand muss die Seele des armen Mannes abholen. Nochmal.
Jung... Jeongguk. Jeon Jeongguk. Jeon Jeongguk. JEON JEONGGUK.
Wieder laufen ihm Tränen übers Gesicht. Er schafft es nicht. Und er weiß nicht, was mit der Seele passiert, wenn sie niemanden begleitet. Das wollte er nicht! Taehyung hat nie jemandem Leid zufügen wollen und hofft so sehr, dass die Seele dadurch jetzt nicht irgendwelchen negativen Konsequenzen ausgesetzt ist.
"NAMJOOOOOON!", ruft er wieder. Aber wie erwartet, reagiert er wieder nicht auf seine Rufe. Warum tut er das?
"Bitte... Ich weiß nicht weiter... bitte hilf mir doch!", weint er, während er heulend auf dem Boden sackt. Dann merkt er, dass es um ihn herum immer dunkler wird. Die roten Anzeigen leuchten auf und verblassen schließlich komplett. Plötzlich steht Taehyung in einem dunklen Tunnel, in dem er nichts mehr erkennen kann, als das schwache Licht am Ende.
Er folgt dem Licht. Wie eine Motte klammert er sich an das letzte bisschen Licht, das die Glühbirne spendet. Sie ist noch schwächer geworden, oder? Und warum sind die Anzeigen plötzlich alle aus? Was passiert jetzt mit der Seele von Jung Hoseok?
Es ist ein Akt der Verzweiflung, dass Tae seine Hand ausstreckt und die Glühbirne berühren will. Einen Schubs geben, damit er dem beruhigenden Pendeln zusehen kann und dadurch vielleicht noch die Chance hat, nicht durchzudrehen. Sein Kopf tut so furchtbar weh und wird eigentlich nur noch von dem heftigen Schmerz in seinem Inneren überschattet.
Taehyung ist sich ganz sicher, dass sein Herz wieder zu schlagen angefangen hat. Und es ist in dem Moment wie die Scheibe des Bilderrahmens erneut gebrochen, weil er Jeongguk zum zweiten Mal dabei zusehen musste, wie er an dem Verlust leidet.
Flackern. Noch bevor er die Birne berührt, fängt sie an, unruhig zu flackern. Flimmern. Flackern. Immer wieder. Taehyung überlegt, die Hand wegzuziehen, aber aus einem Impuls heraus berührt er sie doch. Das Glas ist furchtbar heiß. Und bricht. Wie der Rahmen. Wie sein Herz.
Der Draht innerhalb der Glühbirne brennt durch, verursacht ein winziges Funkenmeer und dann ist alles schwarz. Nicht dunkel, es ist wirklich schwarz. So tiefschwarz, dass Taehyung nicht mehr unterscheiden kann, ob er die Augen auf oder zu hat. Es ist beängstigend. Kein Laut ist zu hören und erst jetzt fällt ihm auf, dass von der alten Glühbirne immer eine Art Surren ausgegangen ist. Erst jetzt, da es fehlt, weiß er um dessen Existenz. Und versteht, was Stille wirklich bedeutet. Es ist genauso ein bedrückendes Gefühl wie die vollkommene Dunkelheit.
Minutenlang bleibt er regungslos sitzen. Dann erkennt er aber ein ganz schwaches Licht und muss seine Augen umgehend zusammenkneifen, weil sie damit nicht klarkommen. Er blinzelt einige Male und überwindet sich schließlich dazu, aufzustehen und auf das Licht zuzugehen.
Es ist ein langer, schmaler, vertikaler Streifen im Nichts. Und etwas oder jemand scheint davor zu stehen.
"Namjoon?", fragt Tae in die Dunkelheit und geht noch einige Schritte auf das Licht zu. Der Streifen wird breiter und heller.
"Hallo Taehyung", wird er von der wohlbekannten, tiefen Männerstimme begrüßt und im selben Moment hat er die Gewissheit, dass es nicht Namjoon ist, der vor ihm steht, sondern Jeongguk.
"Jeongguk? Was...?"
Er geht noch ein Stück auf ihn zu, bis er direkt vor ihm steht. Es gibt keinen Zweifel mehr. Der Lichtstreifen ist mittlerweile so breit, dass er ausreichend Licht spendet, um etwas erkennen zu können. Taehyung war wahrscheinlich niemals glücklicher in seinem Leben. Er sieht ihn. Jeongguk. Sie sehen sich in die Augen. Taehyung erkennt in diesen wunderschönen, tiefen, braunen Augen immer noch all die Liebe, die er auch vor über 20 Jahren schon in ihnen erkannt hat. Und obwohl er ewig so verharren könnte, geht er noch einen letzten Schritt nach vorne und schlingt seine Arme um Jeongguk.
"Ich wusste, dass es noch etwas gibt", teilt Jeongguk zufrieden und ruhig mit. Er drückt Taehyung wieder ein Stück von sich weg, um ihn ansehen zu können. Ein Lächeln ziert seine Lippen. "Ich wusste, dass nach dem Tod noch etwas kommt. Und ich wusste, dass du damals noch da gewesen bist. Ich habe dich gespürt, Taehyung. Obwohl du schon... von mir gegangen warst, habe ich deine Präsenz gespürt. Und du warst auch heute da, oder? Ich hab mir nicht eingebildet, dass ich dich ausgerechnet an dem Tag wieder spüre, als ich selbst gestorben bin. Dadurch hat es sich... okay angefühlt. Ich darf endlich loslassen, danach hat es sich angefühlt."
"Jeongguk...", mehr schafft Taehyung nicht zu antworten. Zu viele Dinge gehen ihm durch den Kopf. Wie ist Kookie gestorben? Hatte er Schmerzen? Angst? Wieso ist er auf einmal hier und wieso erinnert er sich an alles? Tausend Fragen brennen ihm auf der Seele, und dennoch wirkt alles unwichtig, jetzt wo sie sich endlich wieder gegenüberstehen können.
Nur eine Sache lässt ihm keine Ruhe.
"Hoseok... Jung Hoseok. Ich muss zu ihm. Ihn abholen", erklärt er und sieht sich suchend um.
"Mach dir keine Gedanken mehr um ihn. Ihm geht's gut. Er hat das Licht bereits erreicht."
Die Information braucht lange, bis sie in Taehyungs Kopf ankommt. Danach breitet sich eine Welle der Erleichterung aus. Wenn ihn jemand ins Licht geführt hat, ist alles gut. Dann kann Taehyung aufhören, sich Sorgen um ihn zu machen und er darf seine Selbstvorwürfe stoppen.
"Taehyung, ich sag das nur ungern... aber... du musst langsam gehen."
Erst da erkennt er den Fehler an ihrer Situation. Natürlich. Er sieht es. Wieso ist ihm das nicht gleich aufgefallen? Das Licht kommt vom Tor und Taehyung kann es sehen. Als er sich herumdreht, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Darum kann er die Lichter der Digitaluhren nicht mehr sehen. Darum ist die Glühbirne geplatzt. Darum konnte er nicht zu Hoseok und seine Seele geleiten.
Taehyung darf gehen. Er darf endlich ins Licht gehen.
Dann trifft ihn eine neue Erkenntnis. Gleichzeitig dreht er sich wieder schwungvoll zu Jeongguk um. Er will es nicht wahrhaben und schüttelt energisch den Kopf. "Was...? Aber... was ist mit dir, Jeongguk?"
"Das Licht ist nicht für mich bestimmt, Taetae."
"NEIN!", brüllt er. "Nein! Ich will nicht ohne dich gehen! Nicht jetzt! Jeongguk, mach was! Ich will dich nicht schon wieder allein zurücklassen und in einer Welt existieren, in der du nicht existierst!"
Jeongguk lächelt, ehe er den anderen erneut in eine Umarmung zieht.
"Es ist okay, Taetae. Diesmal ist es okay. Wir haben uns wiedergefunden, oder nicht? Du musst nur darauf vertrauen, dass wir es wieder schaffen werden. Und dann können wir in einer Welt leben, in der wir beide existieren. Gemeinsam."
Die Worte kommen schneller über Taehyungs Lippen gepurzelt, als er sie aufhalten könnte. "Versprich es mir!"
"Ich verspreche es", sagt er ohne das kleine Anzeichen eines Zögerns, beugt sich nach vorne und haucht Taehyung einen so sanften Kuss auf die Lippen, dass Taehyungs Herz ein weiteres Mal bricht.
"Aber jetzt musst du gehen, Taetae."
Taehyung will sich nicht von Jeongguk lösen. Aber er weiß, dass er muss. Wieder ist er kurz davor, eine Entscheidung treffen zu müssen, aber zum Glück hat er in all den Jahren als Seelenbegleiter gelernt, dass es niemals die falsche Entscheidung sein kann, ins Licht zu gehen. Er muss auf Jeongguks Worte vertrauen.
Sie werden es schaffen. Irgendwann werden sie sich finden und zusammen leben können, in welcher Welt das auch immer sein wird.
"Na gut. Ich vertraue dir, Kookie. Und... ich warte auf dich", sagt er darum zuversichtlich, ehe er auf das Licht zugeht. Das Tor hat sich mittlerweile vollständig geöffnet. Die Wärme, die Taehyung daraufhin empfängt, ist mit nichts zu vergleichen. Das Licht ist hell und warm. Es ist viel schöner als alle warmen Frühlingstage seines Lebens zusammen. Jeder Schmerz scheint vergessen, jeder schlechte Gedanke erscheint nichtig. In Taehyungs Brust hört das Herz erneut auf zu schlagen, aber nur, um Platz für etwas Besseres zu machen. Einem Gefühl, das er keinen Namen geben kann.
Jeden Tag hat Taehyung sich entscheiden müssen. Manchmal hat er es bereut, manchmal nicht. Aber letztlich hat sie immer zu einem Ergebnis geführt, das er im Nachhinein nicht mehr ändern konnte.
Jetzt endlich begreift er, dass man nie mit Sicherheit sagen kann, ob man mit dem Ergebnis zufrieden sein wird. Aber am Ende müssen wir akzeptieren, dass wir uns für diesen einen bestimmten Weg entschieden haben und eben nicht für den anderen. Und dass es einen Grund dafür gab, so unwichtig er uns im Nachhinein erscheinen mag.
Taehyung macht noch einen Schritt nach vorne, schließt die Augen und weiß, dass es nicht seine letzte Begegnung mit Jeongguk war.
Gerade weiß er, dass er die richtige Entscheidung trifft und er hofft, dass er endlich aufhören kann, sich wegen getroffener Entscheidungen Vorwürfe zu machen. Schließlich haben letztendlich alle dazu geführt, dass er Jeongguk wiedersehen durfte.
Er ist glücklich mit dem Ergebnis und das ist letztlich das, was zählen sollte.
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