first love


Titel: First Love
Länge: ca. 8300 Wörter
(Sub-)Genre: Fanfiction, New Adult
Fandom: BTS, Namgi
Veröffentlicht: März 2024
Warning: -
Klappentext:
Ein Schriftsteller mit Schreibblockade und ein Musiker mit Angst vor dem Release seines Tracks treffen nachts in einer Hotellobby aufeinander.

  
 


  
Solange ich schreibe, lebe ich.

  
Namjoon starrt lange regungslos auf das Bild, das er auf Pinterest gefunden hat. Diese fünf Worte reichen, um ihn in seiner Krise auf ein neues Level zu katapultieren. Seine Gedanken laufen auf Hochtouren, bringen ihn beim Schreiben seines Manuskriptes jedoch kein Stück weiter.

Der Versuch, durch die App eine Inspiration für einen Plot, ein Setting oder einen Protagonisten zu erlangen, ist gewaltig nach hinten losgegangen. Stattdessen fragt er sich nun, ob der Satz im Umkehrschluss ausgesagt, dass ein Autor, der nicht mehr schreibt, tot ist. Zum einen, weil er damit streng genommen seinen Lebensunterhalt erwirtschaften sollte. Kein Manuskript bedeutet gleichermaßen, nichts zu Essen auf dem Tisch zu haben.
Zum anderen, weil Kim Namjoon, alias Min Ryung, sich seit Monaten nicht mehr lebendig fühlt, wenn er Sätze auf seinem Laptop aneinanderreiht. Wann hat er aufgehört, das aus Leidenschaft zu machen, sondern nur noch in der Hoffnung, am Ende ein paar Won zu verdienen, mit denen es sich besser leben lässt?

Ist es das? Ist sein Pseudonym Min Ryung bereits tot? Oder muss er die Frage anders formulieren? Hat Min Ryung Kim Namjoon getötet? 

“Okay, das bringt so nichts”, murmelt der Autor, frustriert seufzend. Er klappt seinen Laptop zu, lehnt sich im Sessel nach hinten und schließt die Augen. Er hat nur noch zwei Wochen Zeit, den ersten Rohentwurf seines Manuskripts abzugeben. Er hatte gehofft, die Ideen würden fließen, sobald er aus seiner dreißig Quadratmeter großen Einzimmerwohnung rauskäme. Dass andere Luft, andere Menschen, andere vier Wände für Inspirationen sorgten. Leider hat er die Schreibblockade mit ins Hotel genommen. Er ist müde. So unfassbar müde, dass Schlaf schon lange nicht mehr die gewünschte Besserung hervorruft. Kaffee auch nicht. Trotzdem beschließt er, dass es an der Zeit ist, sich am Automaten eine weitere Tasse Instantkaffee zu ziehen.

Das Hotel, in dem er vorgestern eingecheckt hat, bietet zwar die Möglichkeit, sich 24 Stunden am Tag per App einzuchecken, aber der Empfang ist nur tagsüber besetzt. Eine Bar oder dergleichen gibt es in der modernen, karg eingerichteten Lobby nicht, dafür einen Automaten für Snacks und kalte Getränke, einen für Kaffee. In den letzten zwei Nächten hat er die Automaten reichlich mit Kleingeld gefüttert. Geld, das er nicht hat, weil er seit Wochen keinen vernünftigen Satz mehr zustande gebracht hat. 

Weil das einzige Mordopfer in seinem neuesten Krimi höchstens seine Passion fürs Schreiben ist. 

„Ach, verdammt.”
Entkräftet hievt er sich aus dem Sessel, kramt in seiner locker sitzenden Jeans nach Münzen und trottet zum Kaffeeautomaten. Dabei sieht er, dass sich ein weiterer Hotelgast in die Lobby verirrt hat. „Eine dunkle Aura umgibt ihn“, würde Namjoons Autorenherz ihn beschreiben. Er ist von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, aus der Cap schauen ein paar stark blondierte Strähnen hervor, aber das ist auch der einzige Kontrast zum sonst dunklen Erscheinungsbild des Fremden. Namjoon fällt es schwer, seine Augen von ihm abzuwenden und sich stattdessen auf den Automaten vor sich zu konzentrieren.

Als sein Blick schließlich auf der überschaubaren Auswahl an Heißgetränken hängen bleibt, überlegt er nicht lange, für welche Sorte er sich entscheidet. In den letzten zwei Tagen hat er sämtliche Kaffeesorten ausprobiert und die einzige, die nicht total furchtbar schmeckt, ist der ‘White Gold’. Routiniert steckt er die Münzen in den dafür vorgesehenen Schlitz, tippt die Nummer im Display ein und wartet, dass der Automat mit einem Surren verkündet, dass er die Instant-Plörre zubereitet. 

„Dein fucking Ernst?”, hört er den anderen Gast neben sich fluchen. Namjoon wagt einen erneuten vorsichtigen Blick rüber und erkennt dabei, dass der Fremde die Personifikation von Kontrasten ist. Seine Haut ist ebenso weiß wie seine Haare, zumindest wirkt sie neben der schwarzen Kleidung so. Der jugendlich-rebellische Kleidungsstil steht im Gegensatz zu den ernsten Augen und den tiefen Stirnfalten, die den Anschein machen, als habe der Mann neben ihm einige Jahrzehnte mehr auf dem Buckel als Namjoon. Fasziniert davon, wie viele Kontraste bei ihm auf den ersten Blick ersichtlich sind, grübelt er, ob sich das für den Protagonisten eines Romans verwenden ließe. Zu einem Zeitpunkt in seinem Leben, als Min Ryung noch lebendig war, hätte es für eine explodierende Inspirationsquelle ausgereicht. Heute kann er damit nichts anfangen. 

Ein Poltern reißt den Autor aus seinen Gedanken. Der Fremde flucht leise vor sich hin, haut gegen die Scheibe des Snackautomaten, und da erkennt Namjoon das Problem. Die Tüte mit gesalzenen Nüssen sieht aus, als habe man die Zeit kurz vor dem Augenblick angehalten, in dem sie beschlossen hat, ins Ausgabefach zu fallen. Okay, die Zeit anhalten kann man nur in Romanen. Tatsache ist aber, dass die Spirale ihre Umdrehung nicht abgeschlossen hat und die Nusstüte mit einer Ecke weiterhin in ihrem Fach hängt. Es fehlt nicht viel, aber es reicht, um den Hotelgast seufzen zu lassen. Er lässt seine Hand in der Hosentasche verschwinden, zieht ein paar Münzen hervor und begutachtet sie kritisch. Dann seufzt er erneut, steckt sie wieder ein und hypnotisiert seinen abendlichen Snack durch die Scheibe.

„Warte”, traut Namjoon sich den anderen anzusprechen, weil er dasselbe Problem vorgestern ebenfalls hatte und sich daran erinnert, wie er sich darüber geärgert hat. Und der junge Mann scheint nicht das nötige Kleingeld zu haben, den Automaten nochmal zu füttern. „Ich zeig dir nen Trick.”

Namjoon stellt sich dabei neben den Snackautomaten und haut kräftig auf eine bestimmte Stelle auf dem hinteren Teil der Verkleidung. Die Spirale setzt sich daraufhin in Bewegung. Dieser Millimeter ist ausreichend, damit der ersehnte Beutel endlich fällt.

„Du scheinst das nicht zum ersten Mal zu machen”, sagt der Fremde, während er sich zum Ausgabefach hinunterbeugt und seine Nüsse rausfischt. 

„Sagen wir mal… ich hatte die letzten zwei Nächte genug Möglichkeiten, mich mit dem Ding auseinanderzusetzen, weil ich mich lieber abgelenkt habe, als an meinem Manuskript zu arbeiten.”

„Klingt deprimierend. Trotzdem bin ich dir dankbar. Hast mir grad echt den Tag gerettet.”

Namjoon lacht kurz auf. „Meinst du nicht eher Abend? Es ist fast 23 Uhr…”

„Das… hatte ich versucht, zu verdrängen.” Ein tiefes Seufzen folgt. Namjoon bemerkt, dass sich die Stirn des anderen erneut in Sorgenfalten legt und sein sehnsüchtiger Blick auf dem Kaffeebecher ruht. Es ist offensichtlich, dass er nicht das nötige Kleingeld dafür hat. Aber da ist noch etwas in dem Blick. Etwas, dass Namjoons Neugier weckt. Er würde ihn gerne fragen, warum seine Augen so müde aussehen oder wieso ihn diese dunkle Aura umgibt. Er entscheidet sich dafür, ihn auf einen Kaffee einzuladen, in der Hoffnung, dass er einem Gespräch nicht abgeneigt ist.

„Magst du auch einen Kaffee?” Er sollte weitere Ablenkungen zwar vermeiden, aber wahrscheinlich kann es das auch nicht mehr schlimmer machen. Kaffee hin oder her. Er wird hier weder eine vernünftige Zeile für seinen Krimi schreiben können, noch eine Idee für einen Plot bekommen, solange er keinen Weg gefunden hat, Min Ryung aus dem Reich der Toten wiederzuholen. Er wäre sogar bereit, wie Orpheus es einst für seine Geliebte Eurydike getan hat, ins Totenreich hinabzusteigen. Und im Gegensatz zu ihm würde Namjoon aufpassen, die Vereinbarung mit Hades nicht zu gefährden.

Das nachdenkliche Brummen daraufhin reißt Namjoon aus seinen Gedanken. Zum Glück. Der Autor schüttelt innerlich seinen Kopf. Orpheus? Ernsthaft? Wie verzweifelt muss er mittlerweile sein, dass er zu so einer Überlegung kommt?

„Ne, passt schon“, wimmelt der Fremde ab, obwohl sein Blick etwas ganz anderes aussagt. „Bin grad nicht so flüssig.“

Namjoon ist froh, dass er heute Mittag vorsorglich Geld gewechselt hat, denn der Automat akzeptiert nur Münzen. Ohne zu zögern, wirft er erneut Kleingeld in den Getränkeautomaten. „Ich lad dich ein. Welchen willst du?“

„Oh“, kommt es von dem schwarzgekleideten Hotelgast. Er schaut zwischen Namjoon und dem Automaten hin und her und richtet seinen Blick anschließend zu Boden. „Danke. Dann ähm… schwarz.“

Namjoon hat mit der Antwort gerechnet. Es passt so perfekt ins Bild, dass er kaum glauben kann, dass der Typ vor ihm real und nicht eine fiktive Figur in einem Roman ist.

„Sicher? Ich sag’s nur ungern, aber das Zeug schmeckt von allen Sorten am schlimmsten.“

„Ich bin schlechten Kaffee gewöhnt, keine Sorge.“ Es ist das erste Mal, dass es sein Gegenüber zu so etwas wie einem Lächeln bewegt.

„Okay. Wie du meinst.“ Kurzerhand tippt er die Nummer für schwarzen Kaffee ein. „Ich heiße übrigens Namjoon“, sagt er vom einsetzenden Brummen des Automaten begleitet.

„Yoongi“, stellt der andere sich vor, ehe beide eine kleine Verbeugung andeuten.

Yoongi nimmt mit einem dankbaren Nicken seinen Kaffee entgegen und geht mit Namjoon zusammen zu den hellgrünen Cocktailsesseln, die farblich zu den zwei grünen Wänden passen. Der Rest des Raumes ist in einem nichtssagendem hellgrau gestrichen. Bis auf die vereinzelte Deko und die indirekte Beleuchtung wirkt die Lobby neutral. Namjoon räumt seine Blätter zu einem ordentlichen Stapel zusammen und legt alles gebündelt auf seinen Laptop, damit beide auf dem winzigen Tisch mehr Platz haben, um ihren Kaffee abzustellen. Yoongi öffnet seine Knabbertüte und nimmt sich ein paar Nüsse heraus, ehe die Packung auf dem Tisch landet.

„Also bist du Autor?“, fragt er, nachdem er die gesamte Hand voll Nüsse in seinen Mund geschoben und zu Ende gekaut hat.

Krimi-Autor“, korrigiert Namjoon mit einem bitteren Lachen, weil es für ihn einen immensen Unterschied bedeutet. Könnte er doch bloß etwas anderes schreiben. Aber nein. Der Verlag hat sehr genaue Vorstellungen davon, was gut vermarktet werden kann und was nicht. Selbst wenn er nochmal etwas Außergewöhnliches wagen würde, würden sie das Manuskript solange kritisieren und bearbeiten, bis von seinem eigentlichen Werk nicht mehr viel übrig ist.

„Klingt nicht nach der beruflichen Erfüllung“, stellt Yoongi treffsicher fest. Wieder lacht Namjoon freudlos auf. 

„Ist es nicht.“

Yoongi nickt, greift nach seinem Kaffee, nippt einmal kurz daran und stellt ihn mit einem verzogenen Gesicht wieder weg.

„Im ersten Moment ist er viel zu heiß. Warte noch zwei oder drei Minuten, dann geht’s. Nur nicht vier oder fünf. Dann ist er schon so kalt, dass er erst recht nicht mehr schmeckt.“

Yoongi schmunzelt, diesmal wirkt es ehrlich. „Das ist aber ein sehr kleines und sehr exaktes Zeitfenster.“

„Wie gesagt“, seufzt der frustrierte Autor, „Ich hatte schon zu viele davon.“

„Wenn man sich mehr mit der Trinktemperatur von Instantkaffee auseinandersetzt als mit einem Manuskript, spricht das wohl für sich. Was ist los? Schreibblockade?“

Wieder ist Namjoon überrascht, wie treffsicher der andere ist. Er macht auf den ersten Blick nicht den Anschein, aber sein Gegenüber verfügt augenscheinlich über eine verdammt gute Auffassungsgabe und scheint geübt darin zu sein, sich in die Lebenslage anderer Menschen zu versetzen.

„Sogar eine sehr Ausgewachsene leider.“

„Schöne Scheiße.“ Yoongi schnappt sich erneut die Nüsse, schüttet sich ein paar auf die Hand. Als er Namjoon ebenfalls welche anbietet, lehnt der aber dankend ab.

„Das trifft es wohl ganz gut. Ich hab noch zwei Wochen, bis ich mein Manuskript abgeben muss. Und bisher kein einziges, brauchbares Wort geschrieben. Eigentlich bin ich hier, weil das Hotel etwas daran ändern sollte. Aber nun ja. Ich hab mich bis jetzt mit allem anderen mehr beschäftigt als mit meinem Mordopfer. Es ist übrigens das erste Mal, dass ich um diese Uhrzeit Gesellschaft habe.“

Apropos Zeit. Die zwei Minuten sind rum. Der Instantkaffee hat die perfekte Trinktemperatur erreicht, weswegen er den Becher in einem Zug leert.

„Ich hatte ehrlich gesagt auch nicht damit gerechnet, um diese Uhrzeit noch jemanden hier anzutreffen“, antwortet Yoongi, der ebenfalls einen Schluck seines Kaffees trinkt. Namjoon bewundert, dass er sich dabei nicht anmerken lässt, wie eklig er schmeckt.

„Ich glaub, weil das eine Zeit ist, wo es einen triftigen Grund geben muss, nicht im Bett zu liegen und zu schlafen.“

Wieder nickt sein Gegenüber. Er betrachtet die schwarze Flüssigkeit in seinem Becher und scheint darüber in Gedanken zu versinken. Namjoon würde brennend interessieren, was in dem Kopf des anderen vorgeht. Wie lange sie sich schweigend gegenübersitzen, weiß er nicht. Als er auf die Uhr schaut, die in der Lobby hängt, bekommt er jedenfalls einen Schreck. Es ist schon kurz vor Mitternacht.

„Ich geh eben eine rauchen“, teilt Yoongi ihm mit, als er sich schwerfällig aus dem Sessel erhebt. Er macht ein paar Schritte Richtung Tür, bleibt aber neben Namjoon stehen. „Ich… rauchst du auch?“

„Gelegentlich“, murmelt Namjoon, „wenn’s dich nicht stört, würde ich mitkommen. Sofern du eine für mich übrig hast.“

„Klar.“

Namjoon wirft einen Blick auf seinen Laptop und seine Unterlagen. Kurz überlegt er, ob er sie besser einpacken und mitnehmen sollte. Dann fragt er sich jedoch, warum. Um diese Uhrzeit verirrt sich keiner mehr in die Lobby, und von außen kommt man ohne ID nicht rein. Also wird er das getrost liegen lassen können, ohne Gefahr zu laufen, dass ihm etwas geklaut wird.

Draußen angekommen, nimmt Namjoon erstmal einen tiefen Atemzug. Die Nachtluft ist kühl und frisch. Es scheint endlich geregnet zu haben, denn im Licht der Laternen erkennt er, dass die Straßen nass sind. Das erklärt, warum die Luft so angenehm ist. Ihm fällt erst jetzt auf, wie stickig es dagegen in der Hotellobby ist.

Um von der Straße ins Hotel zu gelangen, muss man ein paar Treppenstufen hochgehen. Auf dem Absatz vor dem Eingang stehen zu beiden Seiten jeweils zwei kleine Tische. Yoongi geht jedoch zielstrebig an ihnen vorbei und setzt sich stattdessen auf die oberste Treppenstufe. Er holt seine verbeulte Packung Zigaretten aus der Hosentasche, zieht das Feuerzeug und eine Kippe heraus und zündet sie sich umgehend an. Als Namjoon sich zu ihm setzt, reicht Yoongi ihm kommentarlos sowohl das Feuerzeug als auch die Schachtel und richtet seinen Blick auf die unbelebte Straße.

„Und? Welcher triftige Grund hält dich vom Schlafen ab?“, fragt Namjoon nach einigen schweigsamen Sekunden in der Hoffnung, dem anderen nicht zu nahe zu treten. Es dauert mindestens vier Züge an der Zigarette, bis er antwortet.

„Ich… hab Schlafstörungen.“ 

Namjoon löst seinen Blick von der Straße, um Yoongi anzusehen. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und schaut zum Himmel. Es ist keine Regung zu sehen und generell wirkt die Aussage eher, als habe er etwas Belangloses gesagt wie ‚Ich hab Hunger‘. Er wundert sich selbst darüber, dass ihn diese ehrliche Antwort nicht schockiert. Die Stimmung hier draußen ist eine ganz andere. Er hat das Gefühl, dass sie hier offen über Dinge reden können, für die in einer nahezu sterilen Lobby kein Platz ist. Vielleicht liegt es an der Dunkelheit, denn, abgesehen von den paar Laternen am Straßenrand und den vier gedimmten Lampen am Eingang, ist hier kein künstliches Licht. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es den Anschein macht, als existierte in dieser Stadt niemand außer den beiden Nachteulen. Im Augenblick sind sie völlig allein. Und in dem Fall ist es selbstverständlich leichter, über Dinge zu sprechen, die man normalerweise im Verborgenen hält.

„Schöne Scheiße.“ Namjoon wiederholt die Antwort seines Gesprächspartners absichtlich, weil ihm keine anderen Worte einfallen wollen. Was soll er auch in so einer Situation sagen? Schlafstörungen sind Scheiße, Punkt. 

Namjoon erhält als Reaktion zunächst ein Schulterzucken. „Hm, naja. Man gewöhnt sich irgendwann daran“, kommt es kurz darauf in der gleichen belanglos klingenden Art und Weise von Yoongi.

„Das ist nichts, woran man sich gewöhnen sollte.“

„Da hast du wahrscheinlich Recht. Aber es ist nicht das erste Mal, dass ich vor 'nem Live-Auftritt nicht schlafen kann. Es ist für mich normal. Ich hab's nur irgendwann im Zimmer nicht mehr ausgehalten. Deswegen bin ich in die Lobby.“

Ist es für ihn wirklich so normal, dass es nicht die leiseste Regung in ihm hervorruft? Oder kann er das nur sehr gut verbergen?

Was es auch ist, Yoongi scheint nicht weiter auf das Thema eingehen zu wollen, daher beschließt Namjoon, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

„Live-Auftritt? Heißt das, du bist Musiker?“

„Rapper.“ Wieder klingen die Worte, als bestünden sie aus Galle, und rufen bei Namjoon direkt die Frage auf, ob er es in einem ähnlichen Maße bereut, welchen Berufsweg er eingeschlagen hat. Es gibt bestimmt viele Berufe, in die man irgendwie reingerät. Musiker und Autoren gehören definitiv nicht dazu. Man entscheidet sich bewusst dafür, seinen Lebensunterhalt mit dieser Form der brotlosen Kunst zu verdienen. Es gibt einen Grund, eine gewisse Passion, sich dafür zu entscheiden und keinem normalen Angestellten-Job nachzugehen. Nur scheinbar reicht diese Passion nicht aus, sonst würden weder Namjoon noch Yoongi um Mitternacht auf den Treppen vor dem Hotel sitzen und dieses Gespräch führen.

„Naja. Zumindest manchmal“, fügt Yoongi bitter lachend hinzu. „Die meiste Zeit verbringe ich ehrlich gesagt damit, irgendwelchen Nebenjobs nachzugehen, um überhaupt über die Runden zu kommen.“

„Da kann ich auch ein Liedchen von singen.“ Namjoon wagt einen Blick zur Seite. Er weiß nicht, warum, doch er hat das Gefühl, mit dem Musiker offen reden zu können. Es fühlt sich seltsam an, mit einem Fremden über Dinge zu sprechen, die ihm auf der Seele liegen. Aber vielleicht fällt es ihm auch leichter, gerade weil er den anderen nicht kennt. 

„Mein letzter Roman, ein kläglicher Versuch Fantasy mit Krimi zu vereinen, kam nicht gut bei den Lesern an, was dazu führte, dass der Verlag wieder zurückgerudert ist. Die Leute haben eine genaue Vorstellung, wenn sie einen Krimi kaufen. Da hat ein Magier nichts drin zu suchen, auch wenn dieser gleichzeitig ein Detektiv ist. Jetzt muss ich einen satirischen Krimi schreiben, weil mein erster Roman einer war und der sich als ein echter Verkaufsschlager erwiesen hat.“

„Und eigentlich willst du etwas ganz anderes schreiben?“

„Gute Frage. Gerade weiß ich es ehrlich gesagt nicht.“

Das erste Mal seit Minuten sieht Yoongi Namjoon wieder an. Ihre Blicke treffen sich und der Autor erkennt in den Augen des anderen eine Art von Verständnis, die er lange nicht mehr gesehen hat. Und da ist auch wieder diese Neugier. Yoongi macht den Anschein, als würde er sich wirklich dafür interessieren, was in ihm vorgeht. Nur leider fühlt sich Namjoons Kopf so an, als hätte jemand ein Säckchen Scrabble-Steine darin ausgekippt. Er weiß, dass da Worte sind, die er sagen will, aber er scheitert daran, sie zusammenzusetzen. Er zieht den letzten Zug an seiner Zigarette in die Länge, versucht Ordnung in das Chaos zu bringen und drückt den Stummel schließlich auf der Treppe aus.

„Ich habe das Schreiben immer geliebt“, beginnt er und es erweist sich als Startschuss, die wirren Buchstaben endlich in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. „Es war für mich immer eine Art… Ventil. Ich habe durch das Schreiben meine Gedanken sortieren können, bin mir oft selbst auf die Schliche gekommen, warum ich an dem ein oder anderen Gedanken gerade so festhänge. Als ich meinen ersten Roman geschrieben habe, war politisch ziemlich viel los. In den Nachrichten wurde alles künstlich aufgebauscht. Plötzlich war jeder noch so kleine Vorfall eine mittelschwere Katastrophe. Ich hab mich gefragt, warum alles auf einmal zu Tode analysiert wird, und irgendwann habe ich es sattgehabt und angefangen, mir meinen Kummer von der Seele zu schreiben. Geschichten sind ja auch eine Form der Kommunikation. Ich wollte die Leser zum Denken anregen. Wollte, dass sie Aussagen wieder kritisch hinterfragen und nicht alles nachplappern, was die Medien ihnen diktieren. Der Roman kam so gut an, dass ich mir dadurch immerhin schon einen Namen machen konnte. Min Ryung stellt Fragen, die sich andere nicht zu stellen trauen. Aber jetzt? Ich habe das Gefühl, gerade nichts mehr zu sagen zu haben. Ich glaube, das ist der Grund, warum es mir so unheimlich schwer fällt, etwas zu schreiben.“

„Klingt plausibel“, antwortet Yoongi, zieht ebenfalls ein letztes Mal an seiner Zigarette und schnippt sie gekonnt auf die Straße. „Aber wenn ich mal so frei sein darf: Ich glaube nicht, dass du nichts mehr zu sagen hast. Nach dem, was du jetzt alles erzählt hast, kann ich mir nicht vorstellen, dass es da nichts mehr gibt, was du mit der Welt teilen willst. Vielleicht ist das eigentliche Problem weniger deine mangelnde Kompetenz als hinterfragender Autor sondern viel mehr das Korsett namens Krimiroman.“

„Vielleicht hast du recht“, brummt Namjoon, weil er sich wünscht, dass er wirklich recht hat. Nur leider ändert das nichts an der Tatsache, dass ihn andere Verlage abgelehnt haben und er sich, wenn er nächsten Monat etwas zu Essen auf dem Tisch haben will, mit dem Korsett Krimi arrangieren muss.

„Krimis sind ja nunmal sehr durchgeplottet, strukturiert und rational begründet. Da bleibt wenig Platz für Fantasie. Oder für ernsthafte Aussagen, für Dinge, die man dem Leser mitteilen will.“

„Trotzdem hast du genau das scheinbar mal geschafft.“

„Ja, aber das war etwas Einmaliges“, nuschelt Namjoon. Ihre nächtliche Einsamkeit wird von einem Auto unterbrochen, das an ihnen vorbeifährt. Es ist, dank der nassen Straße, eh zu laut, um sich ordentlich zu unterhalten. Also schweigen sie so lange, bis es wieder gänzlich still ist. 

„Wenn du mal einen Moment die Auflagen vergisst, gäbe es dann etwas, was du gerne sagen würdest?“

Namjoon überlegt, wie verzweifelt es wäre, wenn er wieder reingehen und sich einen weiteren Kaffee holen würde. Aber eigentlich will er gar keinen Kaffee. Er will nur der beißenden Frage ausweichen, die sich in ihm ausbreitet, als hätte er versehentlich Chlorreiniger getrunken.

Yoongi beweist, dass er Min Ryung in einem Punkt sehr ähnlich ist. Er scheut sich nicht davor, unangenehme Fragen zu stellen. Sie sind richtig, auch wenn sie einen ätzenden Charakter haben. Das hat Chlorreiniger auch, wenn man ihn trinkt. Trotzdem ist er ein beliebtes Mittel, um Schmutz und Bakterien loszuwerden. Wenn Namjoon es richtig anstellt, kann er vielleicht von der reinigenden Wirkung profitieren, bevor sein Inneres sich aufgelöst hat.

„Ich würde darüber schreiben, dass Min Ryung selbst tot ist. Oder noch eher: dass Min Ryung Kim Namjoon getötet hat.“

Namjoon hat endlich den Trick raus, wie man den Chlorreiniger anwendet, ohne sich damit deine Organe zu verätzen. Passenderweise greift er genau in dem Moment wieder nach der Schachtel Zigaretten, die zwischen ihnen liegt und zündet sich eine weitere Kippe an. Er beobachtet daraufhin, wie der Rauch in dunstblauen Wirbeln emporsteigt. Es hilft ihm dabei, seine wirbelnden Gedanken zu sortieren. 

„Ich hab manchmal das Gefühl, dass ich nicht mehr weiß, wieso ich das mache. Es gibt doch einen Grund, warum ich Autor werden wollte. Und trotzdem ist das Schreiben gerade das, was mir am allerschwersten fällt.“

„Ich… kenne das Gefühl“, antwortet Yoongi leise, „Man gibt alles dafür, sich als Künstler einen Namen zu machen. Aber je mehr einem das gelingt, desto mehr Erwartungen projizieren die Zuhörer, oder in deinem Fall Leser, in den Namen hinein und verändern diesen unbeabsichtigt. Und irgendwann stellt man fest, dass der eigene Künstlername zu einem Gefängnis geworden ist, in dem man nicht mehr produktiv arbeiten kann.“

„Das… so hab ich das noch nie gesehen. Aber ja. Du hast Recht. Genauso fühlt es sich an. Ich bereue mittlerweile, dass ich diesen Roman als erstes veröffentlicht habe und frage mich, was gewesen wäre, wenn ich ein anderes Buch zuerst publiziert hätte. Würde der Name Min Ryung dann heute für etwas anderes stehen?“

„Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Agust D ist ein Badboy-Rapper, der sich nichts gefallen lässt und der Welt da draußen den Stinkefinger zeigt. Aber eigentlich… habe ich das Bedürfnis, mehr von mir - Min Yoongi - einzubringen. Leider lässt sich ein rappender Pianist genauso schlecht vermarkten, wie der Magier im Krimi Roman.“

„Das ist eben beides kein Mainstream und für die breite Masse gemacht“, fasst Namjoon zusammen und entlockt Yoongi damit ein kurzes Lachen, das sich in der nächtlichen Stille verflüchtigt wie Zigarettenrauch. 

„Min Yoongi ist tot. Ich habe ihn getötet“, sagt er ernst. Jetzt ist es an Namjoon, seinem Gegenüber einen fragenden Blick zuzuwerfen.

„Das ist aus einem Song, den ich vor vielen Jahren zwar geschrieben, aber nie veröffentlicht habe. In dem Lied … geht’s um meine Identität als Künstler. Und die Frage, ob sowohl ich, als auch mein Pseudonym Agust D nebeneinander in einem Körper leben können. Oder ob man sich früher oder später überlegen muss, für welche der beiden Identitäten man sich entscheidet. Damals habe ich mich für Agust D entschieden, weil er mehr Selbstbewusstsein hatte. Weil es ihm egal war, den Mund aufzumachen und der Welt da draußen den Mittelfinger zu zeigen. Weil Min Yoongi zu viele Probleme hatte. Schlafstörungen, Depressionen, Suizidgedanken. Es war eine logische Konsequenz, Agust D am Leben zu erhalten, also musste Min Yoongi sterben.“

Selten ist Namjoon sprachlos. Aber jetzt gerade … er findet keine Worte. Sein Mund öffnet und schließt sich im Sekundentakt, ohne dass auch nur eine Silbe seine Kehle verlässt. Der Musiker scheint es ihm nicht zu verübeln. Generell macht es den Anschein, als könne er Stille gut aushalten. Und die braucht Namjoon auch, um seine eigenen Gedanken zu sortieren.

Yoongi hat mal eben beiläufig erwähnt, dass er an Depressionen leidet. Oder litt? Hat er das immer noch? Die Schlafstörungen gehören jedenfalls nicht der Vergangenheit an. Gibt es überhaupt eine Chance, das jemals ganz zu heilen? 

„Ich hol nochmal Kaffee“, weicht Namjoon der Konversation überfordert aus, während er vom Treppenabsatz aufsteht. „Willst du auch noch einen?“

„Gerne.“

Namjoon nickt, obwohl Yoongi ihn nicht ansieht. Er tippt am Eingang die ID ein, wartet, bis sich die Tür mit einem Surren öffnet und steht kurz darauf wieder in der stickigen Lobby. Er nimmt einen tiefen Atemzug und verdaut, was der andere ihm gerade gesagt hat. Er weiß nicht, was er antworten soll. Darf er in einer solchen Situation schweigen? Yoongi scheint ein Mensch zu sein, der vieles mit sich selbst ausmacht. Ob er überhaupt schon mal so offen mit jemandem darüber gesprochen hat? Schließlich sind psychische Krankheiten leider immer noch ein Tabuthema. 

Nachdem der Automat Namjoons Kleingeld geschluckt hat, werden die beiden Kaffees, vom vertrauten Surren begleitet, zubereitet. Seltsamerweise kommt es Namjoon so vor, als ginge die Zubereitung diesmal viel schneller. Er hätte gerne noch ein bisschen mehr Zeit gehabt, über eine mögliche Antwort nachzudenken, aber er kann und will Yoongi nicht zu lange alleine draußen sitzen lassen.

Also schnappt er sich die beiden Becher und verlässt das Hotel wieder, um sich zurück zu seinem Gesprächspartner zu gesellen. Yoongi nimmt den Kaffee dankend an, stellt ihn aber erstmal neben sich. Namjoon macht es ihm gleich.

„Sorry, wenn ich dich damit vorhin überrumpelt hab“, kommt es seufzend vom Rapper. „Ich vergesse manchmal, dass es für andere Menschen nicht normal ist, psychisch so kaputt zu sein und überfordere sie dann.“

Ist es zu fassen? Eigentlich ist es Namjoon, der sich entschuldigen müsste, und nicht der Rapper, auf dessen Gesicht sich ein trauriges Lächeln legt. Das Gute jedoch ist, dass Yoongi, wenn er das richtig gedeutet hat, schon mehrfach mit anderen über seine Probleme gesprochen hat. Das würde auch erklären, warum er in dem Punkt so abgeklärt wirkt.

„Ich muss mich entschuldigen, nicht du. Ich weiß nur echt nicht, was ich darauf sagen soll. Das ist echt ein schweres Paket, was du da mit dir rumschleppst.“

„Wie gesagt, man gewöhnt sich irgendwie an alles. Es ist ja nichts Neues für mich. Ich bin damit aufgewachsen. Für gesunde Menschen wäre es auch schlimm, wenn sie plötzlich einen Arm oder ein Bein verlieren würden. Sie müssen erst lernen, damit klarzukommen. Aber Menschen, die von Geburt an eine körperliche Einschränkung haben, kennen es ja gar nicht anders. Ich seh das mit meinen Depressionen genauso. Klar... Manchmal gibt’s Tage, die sind besonders schlimm. Dann wünschte ich mir, dass ich die Scheiße einfach loswerde.“ Yoongi nimmt einen tiefen Atemzug und einen ersten Schluck von seinem Kaffee. „Und dann erinnere ich mich wieder daran, dass ich gar keine Ahnung hab, wie man ohne lebt.“

Namjoons Brust zieht sich bei den Worten zusammen. Ist das wirklich seine Sichtweise? Hat er sich damit abgefunden? Oder hat er einfach nicht mehr die Kraft, dagegen anzukämpfen? Namjoon ist bis jetzt immer davon ausgegangen, dass jeder Mensch, der an Depressionen oder dergleichen leidet, alles dafür tut, um das behandeln zu lassen. Yoongis Sichtweise ist so konträr dazu, dass es ihn fassungslos macht. 

„Hast du… mal versucht, die Depressionen behandeln zu lassen?“, traut Namjoon sich schließlich zu fragen, obwohl er Angst hat, dem anderen damit zu nahe zu treten.

„In meiner Jugend, ja. Aber meine Eltern haben das als Phase abgestempelt. Haben sich eingeredet, dass es zur Pubertät dazugehört und von selbst wieder verschwindet. Sie wussten ja nicht, dass das schon viel früher angefangen hat. Sie haben ziemlich daran zu knabbern gehabt. Ich wollte ihnen nicht noch mehr Kummer machen, also habe ich ihnen gesagt, dass es besser geworden ist. Die Wahrheit aber war, dass ich mich immer mehr in die Musik geflüchtet habe und mir das einfach nicht mehr so schnell habe anmerken lassen.“

„Inwiefern in die Musik geflüchtet?“, will Namjoon wissen. Er wagt einen Blick zur Seite, aber da der Rapper damit beschäftigt ist, die Straße vor sich zu mustern, wendet er den Blick wieder ab. Dabei fällt ihm auf, dass es erneut anfängt zu regnen. Er spürt es auch an dem kühlen Luftzug. Besonders lange wird er es hier draußen nicht mehr aushalten und er fragt sich, ob Yoongi nicht ebenfalls friert. Wenn dem so ist, lässt er sich auch das nicht anmerken. 

„Meine Eltern haben mir zum achten Geburtstag ein schäbiges, gebrauchtes Klavier hingestellt“, redet er weiter, „nachdem ich es mir drei Jahre in Folge gewünscht habe. Weil sie nicht besonders viel von Musik halten, musste ich mir das Klavierspielen allerdings selbst beibringen.“

Wie oft an diesem Abend hat Namjoon schon innerlich den Hut vor seinem Gesprächspartner gezogen? Eigentlich oft genug, wenn man bedenkt, dass sie sich noch nicht wirklich lange unterhalten. Dennoch schafft Yoongi es immer wieder, ihn schwer zu beeindrucken.

„Es gehört viel dazu, sich das selbst beizubringen. Und etwas zu finden, mit dem man sich irgendwie über Wasser halten kann. Respekt. Ich glaube, das schaffen nicht viele.“

„Kann schon sein“, kommt es nach einigen Sekunden der Stille leise von Yoongi. Er greift zu seinem Becher und da fällt Namjoon auf, dass seiner immer noch unberührt neben ihm steht. Leider stellt der Autor fest, dass der Kaffee durch die niedrige Außentemperatur bereits kalt ist und noch furchtbarer schmeckt als sonst. 

„Aber wenn ich ehrlich bin, hat mich das nie sonderlich viel Anstrengung gekostet. Das Klavier war ja immer da und ich war als Kind irgendwie schon… anders. Hatte wenig Freunde und niemanden zum Spielen in der Nähe. Ich hab meine Freizeit eigentlich nur vor dem Klavier verbracht. Bis zu meiner frühen Jugend. Da kam dann eine Zeit, in der ich viel mit… Freunden unterwegs war und eigentlich gar kein Klavier mehr gespielt hab. Bis…“ Yoongi holt tief Luft und scheint mit sich zu ringen, ob er das erzählen soll oder nicht. Er vergewissert sich mit einem fragenden Blick zu Namjoon, der nur leicht nickt und ihm damit zu verstehen gibt, dass er in seiner Erzählung fortfahren kann.

„Mit 14 hatte ich dann 'ne schwere Phase. Der Freundeskreis, mit dem ich vorher zusammen abhing, war nicht unbedingt das, was man guten Einfluss nennen würde. Meine Psyche ist voll abgeschmiert. Ich weiß gar nicht, was genau das Problem war, aber ich hatte da die erste richtige Panikattacke. Ich bin von zuhause weggelaufen und bin erst mitten in der Nacht wieder gekommen. Als ich am Wohnzimmer vorbeigegangen bin, stand da immer noch das Klavier. Unberührt. Es hatte sich so viel in verändert, aber das nicht. Plötzlich kribbelten meine Finger vor Sehnsucht. Und kaum habe ich die ersten Tasten berührt, wurde mir klar, dass ich nichts anderes brauche. In dem Moment hab ich auch beschlossen, Musiker zu werden. Und wie du dir vorstellen kannst, waren meine Eltern damals gar nicht begeistert. Sind sie wahrscheinlich auch heute noch nicht.“

Wieder schweigt Yoongi für einen Moment, ehe er weiter erzählt. 

„Sie verstehen es nicht. Ich hatte immer Probleme damit, über meine Gefühle zu reden, aber das Klavierspielen wurde mein Ventil, um endlich den ganzen Scheiß von der Seele loszuwerden. Ein Klavier beurteilt dich nicht, es fragt nicht, wieso man sich so anstellt. Es macht einem auch keinen Vorwurf, dass man sich vier Jahre lang nicht hat blicken lassen. Mit Menschen kann man sowas nicht machen. Aber… aber in dem Fall war es so. Das Klavier klang genau wie beim letzten Mal, als ich darauf gespielt habe. Das klingt verrückt, aber ich hatte wirklich das Gefühl, dass es sich tatsächlich gefreut hat, dass ich wieder da war. Wahrscheinlich war das der Moment, in dem ich mich immer mehr von den Menschen um mich herum abgewendet und auf die Musik konzentriert habe.“

So verrückt klingt das in Namjoons Ohren gar nicht. Immerhin redet Yoongi hier mit jemandem, der schon Tränen vergossen hat, weil er eine Figur aus seinem Roman getötet hat, die ihm ans Herz gewachsen ist. Sie sind fiktiv. Sie existieren nicht. Trotzdem war es ein Abschied, der genauso geschmerzt hat, als wäre ein realer Mensch gestorben. Wenn jemand Yoongis Gefühle nachvollziehen kann, dann wohl Namjoon.

„Das klingt nicht verrückt.“

Yoongi lächelt schief. „Sicher? Ich habe sogar einen Song für mein erstes Klavier geschrieben und es ‘first love’ genannt. Weil es das irgendwie war. Meine erste Liebe. Die, die man ein Leben lang in sich trägt, die einem auch nach Jahren noch ein warmes, kribbeliges Gefühl beschert. Wenn das nicht verrückt ist, was dann?“

„Einem Menschen nachtrauern, der nie wirklich existiert hat?“, antwortet Namjoon verlegen mit einer Gegenfrage. „Und ich meine nicht, dass ich da gesessen und gedacht hab: Ach schade, dass er für den Plot sterben musste. Ich habe seinen Tod geschrieben und tagelang durchgeweint. Und noch heute überkommt mich ein Gefühl der Trauer, wenn ich daran zurückdenke.“

Der Regen nimmt zu, mittlerweile sind es dicke Tropfen, die vom Himmel fallen. Die zwei sitzen dank des Vordaches vom Hotel zwar gut geschützt auf der Treppe, gemütlich oder ruhig kann man es jedoch nicht mehr nennen.

„Ne Letzte noch und dann wieder rein?“, fragt Yoongi knapp und bietet Namjoon eine weitere Zigarette an. Sie rauchen sie in völliger Stille. Erst, als beide ihre Kippen ausdrücken, ergreift der Musiker das Wort.

„Ich… hab den Song. Falls du dich selbst davon überzeugen möchtest, wie verrückt dein nächtlicher Gesprächspartner wirklich ist.“

„Echt!?“ Namjoon merkt, dass er etwas zu euphorisch klingt und rudert wieder zurück. „Ich meine… Wenn ich ihn hören dürfte, wäre das wirklich klasse. Du hast mich neugierig gemacht. Und deine Geschichte ist faszinierend. Ich wünschte, ich könnte darüber einen Roman schreiben, statt mir einen satirischen Krimi aus den Ärmeln zu leiern.“

Yoongi schüttelt lächelnd den Kopf. „Tu dir keinen Zwang an. Und was den Song angeht. Hab ihn aufm Laptop gespeichert. Wenn du magst, hol ich den gleich. Oder wir verlagern unser Nachtgespräch in mein Hotelzimmer.“

Da Namjoon sowieso zu frösteln beginnt, muss er gar nicht lange überlegen, ob er dem Angebot zustimmt. Auf die Lobby hat er keine Lust, weil er die letzten Tage schon viel zu viel Zeit dort verbracht hat und in seinem eigenen Zimmer fällt ihm wahrscheinlich ganz schnell wieder die Decke auf den Kopf. 

Kurz darauf setzen sie ihr Vorhaben in die Tat um. Namjoon schultert seine Laptoptasche und nimmt sie mit. Vor Yoongis Zimmer muss er sich eingestehen, dass er neugierig und aufgeregt ist. Er weiß, in welche chaotischen Zustände er seinen Arbeitsplatz versetzt, wenn er an seinem Manuskript arbeitet und er fragt sich, ob es dem Musiker da genauso geht. Yoongi bittet ihn höflich herein, schmeißt seine Jacke aufs Bett und steuert zielstrebig die Minibar an. „Was möchtest du trinken?“

„Was grad da ist“, antwortet Namjoon, dessen Blick durch den Raum schweift. Der Aufbau ist zwar derselbe wie bei seinem Zimmer, aber die Wirkung ist trotzdem eine ganz andere. Sein Autorenherz würde sagen, dass eine düstere Stimmung an den Wänden haftet. Dass die Verzweiflung und Unsicherheit nahezu greifbar ist.

Wie erwartet, hat der Musiker den kleinen Tisch ebenfalls komplett in Beschlag genommen und sich dort ausgebreitet. Von Notenblättern, Notizbüchern und zerknüllten Papieren über Kopfhörer bis hin zu der technischen Ausstattung ist alles vorhanden. Namjoon erkennt sogar eine Pianotastatur vor dem Laptop und fragt sich, ob er hier in der kurzen Zeit schon produktiver war als der Autor. Neben dem Bett liegen Klamotten, allesamt schwarz. Yoongi bemerkt seine ausführliche Musterung. Er beginnt ein paar Sachen vom Boden aufzusammeln und auf einen Stapel zu legen.

„Entschuldige das Chaos.“

„Alles gut. Es sieht bei mir nicht anders aus.“

Yoongi erwidert mit einem verlegenen Lächeln, ehe er den Tisch ansteuert und dort ebenfalls aufräumt. Er bittet ihn, sich an den Schreibtisch zu setzen und drückt ihm eine Flasche Wasser in die Hand. Namjoon trinkt einen Schluck, lehnt sich im Stuhl zurück und beobachtet, wie Yoongis Finger gekonnt über die Tastatur seines Laptops fliegen. Er versteht nicht viel von den Musik-Programmen, die auf dem Bildschirm angezeigt werden, aber als Yoongi ihm die Kopfhörer reicht, versteht er, dass der Song zum Abspielen bereit ist. 

Yoongi zögert allerdings.
„Ich… du bist der Erste, der den Song hören wird. Normalerweise hab ich keine Probleme damit, neue Songs anderen zu zeigen, aber…“ Yoongi beendet seinen Satz mit einem Seufzen. 

„Er liegt dir am Herzen. Ich kann verstehen, wenn es dich Überwindung kostet. Wenn du ihn mir nicht zeigen willst, ist das okay. Es ist deine Entscheidung.“

„Doch doch, es ist nur…“, wieder beendet Yoongi seinen Satz nicht. Er schüttelt den Kopf, als wolle er damit die düsteren Gedanken vertreiben, die ihn beherrschen. Dann nickt er Namjoon mit einem leisen „Okay“ zu. Schnell setzt der Autor sich die Kopfhörer auf und als er die ersten Klänge hört, schließt er die Augen, um sich ganz auf den Song konzentrieren zu können.

Als im nächsten Moment Yoongis Stimme zu hören ist, bekommt Namjoon eine Gänsehaut. Sie ist viel sanfter, als er erwartet hatte, und trotzdem schwingt etwas in ihr mit, das er als bitteres Lächeln beschreiben würde. Die Stimme greift nach seiner Hand und zieht ihn in eine Welt, in der es keinen Platz für unausgesprochene Dinge gibt. Er beschreibt das Klavier, die tiefe Verbundenheit zu dem Musikinstrument ist regelrecht herauszuhören. Die Klänge des Klaviers werden dichter, in Yoongis Stimme ist nun die Verzweiflung und die Wut seiner Jugend zu hören, von der er gesprochen hat. Namjoon kann spüren, wie sich dieses Gefühl auch auf ihn legt, wie es ihn vollständig einnimmt. Er erinnert sich daran, wie er mit dem Schreiben begonnen hat. Wie sehr er es geliebt hat zu sehen, dass seine Texte immer besser werden. Dass er immer mehr in Worte fassen kann, was er sagen will.

Namjoon kennt diese besondere erste Liebe, von der Yoongi spricht.

Als der Song plötzlich wieder ruhiger wird und Yoongis schweres Atmen zu hören ist, bemerkt Namjoon, dass er irgendwann die Luft angehalten haben muss. Schnell nimmt er einen vorsichtigen, tiefen Atemzug, bis das Lied schließlich ausklingt. 

Die Stille daraufhin ist ohrenbetäubend. Dennoch wartet Namjoon noch einen Moment, in dem er den Song wirken lässt, bis er die Kopfhörer wieder absetzt. Er dreht sich zum Bett, auf dem Yoongi sitzt. Der Rapper weicht seinem Blick jedoch aus und starrt stattdessen auf die Wasserflasche in seiner Hand. Er wirkt nervös und erinnert Namjoon an einen Jungen, der voller Angst die Note seiner letzten Klassenarbeit abwartet.

Namjoon beschließt daher, dass es mehr als Worte braucht, um den anderen davon zu überzeugen, wie tief beeindruckt er ist. Er schlendert zum Bett und setzt sich mit wenig Abstand neben den Musiker. „Ich würde dir gerne mit Worten beschreiben, wie gut ich diesen Song finde. Eigentlich sollte ich als Autor durchaus in der Lage sein, die passenden Worte zu finden. Aber ich muss gestehen, dass es mir wirklich schwerfällt. Was ich aber sagen kann: Dieser Song macht etwas mit dem Hörer. Ich hab so viel gefühlt, wusste zeitweise nicht, ob es nun meine eigenen Gefühle sind oder ich deine übernommen habe. Ich hab immer noch eine Gänsehaut.“

Zögernd löst Yoongi seinen Blick von der Wasserflasche, um Namjoon in die Augen zu sehen. Lange hält er dem Blickkontakt aber nicht stand. Die Unsicherheit, die von ihm ausgeht, scheint greifbar. Namjoon tut es in der Seele weh, ihn so zu sehen. Aber was soll er tun, damit er diese Verunsicherung loswird? 

Minuten vergehen, in dem die beiden schweigend nebeneinander auf dem Bett sitzen. Dann hat Namjoon endlich den rettenden Einfall.

„Du hattest gesagt, dass Agust D einen Scheiß auf die Meinung anderer gibt. Ist doch so, oder?“

„Ja, schon.“

„Und wieso zögert er dann, diesen Song zu veröffentlichen? Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist es ihm egal, was andere von ihm halten. Er will der Welt den Stinkefinger zeigen? Na gut. Dann sollte er den Song veröffentlichen und der Welt da draußen klar machen, dass er zu mehr in der Lage ist, als dem klassischen Badboy-Rap.“

Yoongi sieht ihn an, diesmal durchdringender. „Aber… es ist kein Agust D Song.“

Namjoon hat nicht damit gerechnet, dass Yoongi direkt auf seinen Vorschlag eingeht. Aber gerade hat er endlich, seit einer verdammt langen Zeit, das Gefühl, alles wieder klar zu sehen. Der Song hat irgendwas mit ihm gemacht. Hat wie Chlorreiniger alle negativen Gedankenkeime erfolgreich abgetötet und ihm gezeigt, dass der Weg, den sie aktuell einschlagen, nicht der richtige ist. Da ist so viel Potential, das sie nicht nutzen. Diese Songs, die Yoongi bislang nie veröffentlicht hat, weil er in dem Korsett namens Badboy-Rap steckt und Namjoon, der so viel lieber etwas ganz anderes schreiben würde als noch einen satirischen Krimi. Es fühlt sich falsch an, dieses Potential in der Ecke ihres Bewusstseins vergammeln zu lassen. Es gibt doch einen Grund, warum sie ihre Berufe gewählt haben! 

Sie haben immer noch etwas zu sagen. 

Und darum überkommt Namjoon plötzlich ein Gefühl, das er so lange nicht gespürt hat, dass er es zunächst nicht mal benennen kann. Dann fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Dieses Gefühl ist Zuversicht. Endlich fühlt Namjoon sich bereit, ins Totenreich zu gehen, um seine Passion fürs Schreiben wiederzuholen. Es war seine erste Liebe. Und er wünscht sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als Yoongi auch dazu zu bewegen, das wiederzuerkennen.

„Dann mach ihn zu einem“, kontert er daher überzeugt. „Mal ehrlich. Ich glaube, wir beide haben in der Summe das gleiche Problem. Wir haben uns beim Erschaffen unserer Pseudonyme irgendwann selbst verloren. Aber das sollte nicht sein. Es sind Namen, mehr nicht. Die Personen, die dahinterstecken, sind immer noch wir. Oder zumindest ein Teil von uns. Wir sollten uns mit ihnen versöhnen und eins werden. Ich, indem ich aufhöre, auf Bestellung einen satirischen Krimi zu schreiben. Und du, indem du der Welt zeigst, dass Rap sehr wohl mit einem Piano harmoniert. Weder Namjoon noch Yoongi müssen sterben, damit Min Ryung und Agust D erfolgreich sein können.“

Ein Seufzen durchbricht die Stille. „Das klingt nett, aber ich befürchte, dass sich das nicht gut verkaufen lässt. Und wir sind darauf angewiesen, dass es der breiten Masse gefällt, damit wenigstens ein bisschen Kohle dabei herumkommt. Ich möchte irgendwann mal genug Geld damit verdienen, dass ich nicht ständig zu irgendwelchen Nebenjobs rennen muss.“

„Vielleicht ist aber auch genau das, was wir falsch machen, der breiten Masse zu folgen. Rapper und Krimis gibt es schon zu Genüge. Und wer weiß… vielleicht gibt es da draußen Menschen, die nur darauf warten, dass wir uns von dem Korsett befreien. Die hören wollen, was wir zu sagen haben.“ Namjoon stoppt, als er realisiert, wie sehr er in seinem Redefluss abschweift. „Oh Mann. Ich sollte besser aufhören zu reden.“

„Nein.“ Diesmal hält Yoongi dem Blick stand und Namjoon erkennt ein lebendiges Funkeln in den Augen des anderen. Namjoon möchte am liebsten herausschreien, dass Min Yoongi soeben wieder zum Leben erweckt wurde. Agust D hat ihn gar nicht getötet, nur gut versteckt gehalten. Genauso wie Min Ryung Kim Namjoon versteckt gehalten hat.

„Nein?“

„Ich… finde es gut, was du gesagt hast“, erklärt Yoongi. Die Unsicherheit verzieht sich dabei wie der Nebel auf einer Landstraße am Morgen. „Du hast vollkommen Recht. Agust D hat es nie gejuckt, was andere sagen. Selbst wenn andere ihn dafür belächeln, vielleicht kann er auch dabei einfach einen Scheiß drauf geben, was andere davon halten. Es wäre... schön.“

„Das heißt, du wirst den Song morgen bei deinem Live-Auftritt spielen?“

„Was? Nein!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen von Yoongi. Das Entsetzen steht ihm ins Gesicht geschrieben. „Es ist überhaupt nicht abgesprochen. Ich weiß nicht mal, ob in dem Hotel ein Klavier steht. Und ob ich nochmal Songs austauschen darf. Das hätte ich früher wissen müssen.“

„Aber… fragen kostet nichts, oder?“, piekst Namjoon weiter, weil er genau weiß, dass Yoongi wieder der Mut verlassen wird, wenn er es jetzt nicht durchzieht.

Das Seufzen, als Yoongi sich im Bett nach hinten fallen lässt, klingt müde und angestrengt. „Also schön. Hast gewonnen. Ich rufe morgen früh an und bitte darum, Songs nochmal austauschen zu können. Und vielleicht fällt mir ja noch 'ne Möglichkeit ein, wie ich schnell und günstig ein Klavier ins Hotel bekomme.“

„Für den Fall, dass die keins da haben, hätte ich vielleicht noch eine Adresse, bei der ich dafür anfragen könnte. Schreib mir morgen, ob das geklappt hat oder ob ich meinen Bekannten mal anrufen soll. Der macht das bestimmt.“

„Okay“, murmelt Yoongi wenig überzeugt und Namjoon erkennt, dass dem anderen die Augen zufallen. Kein Wunder. Es ist mittlerweile nach 1 Uhr nachts und wer weiß, wie lange Yoongi schon auf den Beinen ist. Namjoon jedenfalls fühlt sich seit langem endlich mal wieder nicht müde. Im Gegenteil. Energie pulsiert kribbelnd in seinen Adern. Etwas, das Namjoon schon lange nicht mehr gespürt hat. Zuversicht ist so ein erfrischend schönes Gefühl.

Etwas schwerfällig setzt Yoongi sich wieder auf. Sein Blick, eine Mischung aus Verwunderung und Überwältigung, haftet auf Namjoon. „Du… wirkst auf einmal wie ausgewechselt. Und um ehrlich zu sein, bin ich damit ein bisschen überfordert. Wo nimmst du plötzlich diese Energie her?“

„Hab ich mich auch grad schon gefragt“, erklärt er mit einem Grinsen. „Ich glaub, das liegt daran, dass dein Song mich daran erinnert hat, wie sehr ich das Schreiben eigentlich liebe. Und wieso ich das tue. Naja. Und weil ich gerade eine Idee für eine Geschichte hatte. Ich bin dann oft völlig euphorisch und hab auf einmal wieder Energie.“

„Erzählst du mir von der Idee?“

Namjoon kann ein Schmunzeln nicht zurückhalten. Es ist vielleicht eine bescheuerte Idee, aber er hat so Lust, das zu schreiben. Er ist richtig aufgeregt, hat schon Schauplätze, Personen und Sätze im Kopf. Trotzdem versucht er, sich kurz zu halten. „Ein gescheiteter Autor und ein gescheiteter Musiker treffen in einer Hotellobby aufeinander. Im Fernseher laufen Nachrichten. Jemand klaut den Künstlern ihre Leidenschaft. Und weil die beiden das Gefühl haben, dass ihre Passionen zu den bisher noch unbekannten Mordopfern gehören, beschließen sie, ins Totenreich zu gehen, um sie wiederzuholen.“

„Du meinst… wie dieser… wie hieß er noch?“

„Orpheus“, hilft er dem Musiker auf die Sprünge. “Und wer weiß. Vielleicht lasse ich die beiden auch vorher andere Sachen ausprobieren. Chlorreiniger trinken oder so.”

Yoongi schmunzelt. “Das klingt… abgedreht. Aber nach etwas, das den aktuellen Buchmarkt wohl ziemlich aufmischen wird. Mir gefällt es auf jeden Fall tausend Mal besser als diese 0815-Krimi-Romane.”

“Ja, mir auch. Und ich hab Hoffnung, dass ich das Manuskript in den zwei Wochen fertig bekomme. Und wenn mein Verlag das ablehnt, weiß ich zumindest, dass ich dort nicht länger bleiben kann und mich nochmal bei anderen Verlagen bewerben sollte.”

Yoongi nickt, setzt sich auf, trinkt einen Schluck Wasser und starrt auf den grauen Teppichboden des Hotelzimmers. Besonders zuversichtlich wirkt er noch nicht, dabei ist Namjoon davon überzeugt, dass Yoongis Song ‘First Love’ beim Publikum einschlagen wird wie eine Bombe. Leider scheint der Rapper das nicht so zu sehen. Behutsam legt Namjoon seine Hand auf die Schulter des anderen. „Du hast dich gefragt, ob sowohl Agust D als auch Yoongi in einem Körper nebeneinander leben können. Du wirst es niemals herausfinden, wenn du es nicht versuchst. Und… wenn du mich fragst. Ich für meinen Teil glaube, das ist möglich.“

Yoongi setzt zum Reden an, bringt aber kein Wort über die Lippen. Es ist kaum mit anzusehen, wie sehr er mit sich ringt. Welchen Kampf fechtet er da gerade mit sich aus? 

“Würdest… du…” Yoongi schließt die Augen, atmet tief durch und versucht es nochmal. “Ich weiß, dass du selbst gerade eigentlich was anderes zu tun hast. Aber… wärst du bereit, zu ... meinem Auftritt zu kommen? Ich glaube, es würde mir helfen, wenn ich weiß, dass jemand im Publikum sitzt, der auch Yoongis Songs mag.”

„Nichts lieber als das!“, schießt es aus Namjoon heraus. „Sag mir nur, wo das stattfindet und du kannst dich darauf verlassen, dass ich da sein werde.“

Yoongi reagiert mit einem schiefen Lächeln, ehe er sich wieder nach hinten fallen lässt. „Danke. Wirklich. Aber ... Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Yoongis Stimme klingt zunehmend dämmerig. Sowieso sieht er aus, als würde er jeden Moment in dieser Position einschlafen. Namjoon würde gerne noch weiter mit ihm philosophieren, aber er weiß auch, dass er sich langsam verabschieden sollte. Außerdem ist Namjoon zuversichtlich, dass der Rapper sein Wort halten wird. Mehr kann er gerade wahrscheinlich nicht erwarten. Vielleicht reicht es, damit Yoongi sich auch endlich von seinen Ketten lösen kann. 

„Musst du auch nicht“, antwortet er lächelnd, auch wenn der andere das durch seine geschlossenen Augen nicht sehen kann. “Wir reden morgen weiter. Der Tag war lang und ich sollte langsam auch ins Bett, wenn ich das Frühstück morgen nicht verpassen will.”

„Hmm“, brummt Yoongi lediglich, ehe er sich schwerfällig vom Bett erhebt und Namjoon noch bis zur Tür bringt. Ihm ist anzusehen, dass ihm selbst die wenigen Schritte schon Anstrengung kosten, weswegen Namjoon die Verabschiedung kurz hält.

„Ich hoffe sehr, dass du schlafen kannst. Wir sehen uns dann morgen. Gute Nacht, Yoongi.“

„Gute Nacht“, erwidert Yoongi. Namjoon will schon durch die Tür gehen, dreht sich aber nochmal um, als der Rapper erneut das Wort ergreift. „Und danke. Das… es hat gut getan, mit dir zu reden. Und… ich glaube, ich kann es schaffen. Wenn du dabei bist.“

„Glaub mir. Ich werde morgen auf jeden Fall da sein. Und wenn du magst… ich bin bis Sonntag noch hier. Wir können uns morgen Abend gerne wieder zusammensetzen und ein bisschen weiter philosophieren. Mir hat das auch gut getan. Allerdings… würde ich mich nicht wehren, wenn wir eine Alternative für den Kaffee finden.“

Namjoon schafft es, dass Yoongi ein ehrliches Lächeln zum Vorschein bringt. „Klingt gut. Ich freu mich drauf.“

Namjoon erwidert das Lächeln, denn auch er freut sich darauf. Obwohl er Yoongi noch nicht lange kennt, hat er das Gefühl, ihn schon besser zu kennen als manche seiner Freunde. Diese Basis, auf der man sich ehrlich austauschen kann, weil man ähnliche Ansichten teilt, ist etwas ganz Besonderes. Und das möchte Namjoon unter gar keinen Umständen wieder verlieren. Er hofft, dass dieses nächtliche Treffen nicht das letzte dieser Art war. Zumal er davon überzeugt ist, dass die beiden sich gegenseitig inspirieren und unterstützen können. 

In dem Blick, den die beiden sich schließlich zum Abschied zuwerfen, wohnt das Versprechen inne, sich gegenseitig zu unterstützen, bis sie der Welt da draußen nichts mehr zu sagen haben. 

   


 

author's note

Ich wollte schon seit Monaten einen OS schreiben, der in der Hotellobby spielt, nachdem ich selbst dort war. Als ich vor kurzem dann plötzlich den Wunsch verspürt habe, eine Namgi FF zu schreiben, stand recht schnell fest, das sie dort spielen wird.

Normalerweise schreibe ich ja Romance, für mich passt es bei den beiden aber nicht. Was ich aber liebe, ist die Tatsache, wie die beiden miteinander harmonieren. Ich glaube, die Freundschaft zwischen den beiden ist etwas ganz besonderes.

Außerdem behandel ich in der FF ein Thema, das mich die letzten Wochen selbst ständig begleitet hat. Warum schreibe ich eigentlich? Wieso verspüre ich nicht mehr diese Euphorie wie früher? Was hat sich verändert?

Mit dem OS habe ich mir diese Lust aufs Schreiben zurückgeholt. Denn wie Namjoon in der FF war ich völlig euphorisch beim plotten. Ich liebe das Schreiben immer noch. Auch wenn ich mich in letzter Zeit sehr schwer damit getan habe.

Man könnte also fast sagen, dass ich das für 'Taelirium' geschrieben habe. Auch wenn das doch ein bisschen verrückt klingt?

Ich hoffe, er hat euch gefallen. Mich würde brennend interessieren, ob es euch manchmal auch so geht und wie ihr dann damit umgeht.
Habt ihr manchmal auch Zweifel? Schreibblockaden? Warum schreibt ihr?

Lasst es mich gerne wissen ♡

 

Und das wichtigste zum Schluss:

Mal wieder habe ich mit JiminsPapierflieger gebrainstormt. Und wie es bei uns so Tradition ist, haben wir uns gegenseitig gepuscht. Leider stormen wir oft in völlig verschiedene Richtungen. Eigentlich wollten wir diese Idee zuerst zusammen schreiben. Dann dachten wir: Nope. Das machen wir anders.

Jeder schreibt seine eigene Version.
'Reflection' ist also das Pendant zu 'first love'. Und ich finde es extrem spannend zu sehen, wie unterschiedlich Geschichten werden, obwohl der Ausgangspunkt derselbe war.

Schaut also bitte unbedingt bei ihrer Version rein! Ihr findet den OS in ihrem Buch: 'Friends - BTS OS Sammlung'

Damit wünsche ich euch einen schönen Abend ♡
I purple u
Eure Taelirium

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