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Vorab:
Das hier ist eine Kurzgeschichte für den Schreibwettbewerb Blutzauber von Blutkralle. Sie basiert auf zwei Writing Prompts bzw. Dialog Prompts, die im Folgenden fett geschrieben sein werden.
Das ganze spielt in einer von mir für mein Werk "Ganjing" ausgedachten Welt, hat aber mit dessen Handlung kaum etwas zu tun. Schaut trotzdem gerne vorbei wenn es euch gefällt, etwas Eigenwerbung muss sein :D
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Helles Licht hüllte die Wolkenkratzer ein, die allerhöchstens an dem über ihnen liegenden Erdboden kratzen konnten - oder Xeranithboden, ob die Bezeichnung nun auf dem Namen des Planeten oder auf der Bodenbeschaffenheit beruhte, war bereits lange in Vergessenheit geraten.
Die Häuser von jeweils mehreren zig Stockwerken standen jedenfalls in einem Stadtteil, der unter grünen Hügeln verborgen lag. Das Licht so tief hier unten stammte nicht direkt von der Sonne, sondern von in die Decke eingelassenen Panels.
Und natürlich lebten hier nicht die wichtigen Menschen, sondern nur die entbehrlichen Wǔs, Personen aus der untersten Gesellschaftsschicht. So wie er.
Die Menschheit hatte so viele Fortschritte gemacht, und doch kamen noch immer Unvollkommene zur Welt. So wie er.
Hilang stammt aus einer schier unendlichen Reihe von Wǔs, einzig seine große Schwester hatte es in eine höhere Schicht geschafft. Aber er war zu schlecht und nutzlos und so blieb ihm nichts, als eine Wahl zwischen tristem Leben oder Tod. Und so schlimm war es gar nicht, wenn man bedachte, dass er beinahe uneingeschränkten Zugriff auf die digitale Welt hatte, in die man der analogen entfliehen konnte. In dem Netzwerk XUN gab es allerlei zu Unterhaltungs- und Bildungszwecken. Und heute wollte Hilang ein neues Spiel ausprobieren, dass erst vor wenigen Tagen zugelassen worden war.
Wie jeden Tag legte er sich seine Kontaktlinsen auf die Augäpfel, setzte das feine Nasenpiercing in das Loch der Scheidewand und drückte behutsam die winzigen Kopfhörer in seine Ohrmuscheln. Die Matratze unter seinem Körper war so weich, dass er ihre Berührung an seiner Haut kaum zu spüren vermochte. Während er einen Zugang zum XUN öffnete, driftete sein Geist langsam in die Parallelwelt ab. Und auch Hilangs Körper schien zu schlafen, als ihn langsam die Kräfte verließen. Die Stromimpulse, die normalerweise Muskeln steuerten, wurden von Elektroden abgefangen und in die virtuelle Realität umgeleitet, in welcher er dadurch einen virtuellen Körper steuern konnte.
Und wie jeden Tag stand Hilang zunächst in der Runden Empfangshalle, die dem realen Freizeit-Komplex nachempfunden war. Das kalte Weiß von Boden und Wänden war von blauen Musterungen und Kletterpflanzen bedeckt und zwischen den Solarpanels auf der gut zehn Meter höheren Decke hindurch fielen Sonnenstrahlen. Von hier aus konnte er verschiedenste Angebote wählen, es gab sowohl eine speziell auf Hilang zugeschnittene Auswahl als auch die neusten, beliebtesten und natürlich sinnvollsten Programme.
Heute musste er nicht suchen oder gar groß nachdenken, denn das neue Spiel wurde als Hauptattraktion direkt vor ihm in der Mitte der Halle angepriesen. Hilang trat zwei Schritte nach vorne, bis er direkt vor dem riesigen Hologramm stand. Sein Herz pochte schneller, endlich war es so weit, jetzt konnte er das Spiel ausprobieren. Noch ein Schritt.
Von einem Moment auf den anderen wechselte seine scheinbare Umgebung, aus der menschengemachten Halle wurde eine eher naturbelassene Umgebung. Der Boden war so weit das Auge reichte von gelbgrünen Gräsern und kleinen Büschen bedeckt. Die Sonne stand bereits sehr tief, doch die Luft war heiß als wäre es Mittag. Hilang sah sich zu allen Seiten um und beschloss dann, sich ein wenig umzuschauen. Dann würde er bestimmt auch in die Handlung eingeführt werden.
Er war erst wenige Schritte gegangen, als eine Stimme erklang.
„Hallo!", kam es von dort, wo er bis eben noch gestanden hatte. „Ich habe gehört, du bist ein Player. Darf ich mich vorstellen? Ich bin der Coach. Du kannst mich aber auch einfach Hadi nennen. Ich werde dir alles wichtige beibringen und dich bei Bedarf beraten. Bist du bereit für ein Abenteuer?"
„Ja, ich bin bereit", antwortete Hilang.
„Okay, dann: Das System des Spiels ist ganz einfach: Zu Beginn suchst du dir einen Charakter und ein damit verbundenes Leben aus. In der ersten kleinen Runde ist alles vorgefertigt und du musst nur wählen. Du musst allerlei Aufgaben bewältigen, die nach und nach schwieriger werden."
Hinter Hadi erschienen sechs verschiedene Charaktere. Zwei maskuline, zwei feminine und zwei androgyne. Alle von verschiedener Statur, Bekleidung und Bewaffnung.
„Du kannst dir die einzelnen Profile anschauen, wenn du auf die Kreise zu ihren Füßen steigst. Feinheiten am Aussehen wie Hautfarbe und Haare lassen sich selbstverständlich anpassen, Namen und Pronomen kannst du nach deiner Wahl bestimmen. Lass dir gesagt sein: Sie alle haben Stärken und Schwächen, anders als im echten Leben sind sie sich aber auf ihre Art ebenbürtig."
Hilang nickte und lief dann die einzelnen Kreise ab, um sich alle Profile anzusehen. Beginnend mit einer kräftig gebauten Frau in einem Outfit, das dem Militär des 21. Jahrhunderts nachempfunden war. Robuste Kleidung in Tarnfarben und eine üppige Ausstattung mit Handfeuerwaffen. Sie war stark und eine gute Schützin, dafür aber weder sonderlich agil noch flink. Die neben ihr trug ein schwarzes, bodenlanges Gewand und schien auf den ersten Blick unbewaffnet zu sein - eine leichtfüßige Messerwerferin mit guten Spionagefähigkeiten, aber alles andere als robust. Dann einer in Metall- und Lederrüstung, dort postapokalyptisch anmutende, zerissene Kleidung, jemand mit Langbogen, einer völlig fiktiven Elektrowaffe - es war alles dabei. Inspiriert von Zeiten, die die Menschheit durchlebt hatte oder eventuell noch durchleben würde.
Hilang wusste nicht, was ihn im Spiel erwarten würde. Dafür war immerhin die Proberunde da. Ergo hatte er wenig Ahnung, welche Schwierigkeiten sich aus seiner Wahl eventuell ergeben würden.
„Ich nehme glaube ich die Messerwerferin." Sie hatte etwas an sich, wirkte mysteriös und unscheinbar und trotz ihres Körperbaus tödlich.
„Du glaubst? Na, hoffen wir dass du dir noch sicher wirst. Die Messerwerferin" -Sie trat vor und deutete eine Verneigung an- „Wird von nun an deine Verkörperung sein. Anpassungen des Aussehens und der Bezeichnungen kannst du jederzeit vornehmen."
„Okay, ich nenne sie Lilith, alle Pronomen außer er/ihm."
„Na dann, viel Erfolg bei deinem Abenteuer!"
Die Umgebung blieb die gleiche, doch Hadi und die anderen Charaktere verschwanden, während Hilang sich in Liliths Körper wiederfand. Er sah an sich hinunter, wohlwissend dass ihn von nun an niemand mehr er oder Hilang nennen würde. Ein wenig merkwürdig, aber gleichzeitig interessant. Liliths Körper mutete zierlich an, doch unter den schwarzen Stofflagen verbargen sich drahtige Muskeln, tödliche Wurfmesser und ebenso scharfe Sinne.
Am Horizont lag eine kleine Stadt, die zuvor nicht zu sehen gewesen war. Hilang wusste aus ähnlichen Spielen, dass dort vermutlich ein Handlungsstrang beginnen würde. Aber vermutlich war es unwichtig wohin man ging, man hatte freie Wahl und würde doch überall Missionen bekommen.
Auf dem Weg durch die Steppe begann die virtuelle Realität sich immer echter anzufühlen. Er hörte nicht nur das Rascheln der trockenen Grashalme und hin und wieder ein Knacken wenn er auf verdorrte Stöcker trat, sondern auch Rufe von Raubvögeln und in der Ferne bereits die Geräusche der urtümlichen Zivilisation. Über das nicht spürbare Nasenpiercing wurden Geruchsstoffe abgegeben, sodass Hilang sogar den feinen Staub in der Luft riechen konnte. Einzig das Fühlen wurde seiner Fantasie überlassen - es gab zwar verschiedene Möglichkeiten, auch dass in echt umzusetzen, doch nach einiger Zeit gewöhnte man sich so sehr an den virtuellen Körper, dass er sich real anfühlte. Das Gehirn wurde mit der Zeit ausgetrickst, auch nach nur scheinbaren äußeren Reizen entsprechende Ströme auszusenden.
Schmale Gassen zogen sich zwischen den schiefen Lehmbauten der Kleinstadt hindurch. Der Boden war schlammig und stank, von Wasser rührte die Konistenz vermutlich nicht her. Aus manchen Fenstern und Türen strömten Licht und Alkoholgeruch, dann wieder von angebratenem Gemüse. Außer Hilang befand sich kaum ein Mensch draußen und sein schwarzes Gewand verschwamm so gut mit der dämmrigen Beleuchtung, dass auch er beinahe unsichtbar wirkte.
Eine gewaltige Holztür, die bis eben das rege Treiben von der Gasse getrennt hatte schwang knarzend auf. Aus ihr heraus torkelte ein älterer Mann, der nach nur wenigen Schritten geradewegs auf Hilang zu stolperte. Er konnte den alkoholisierten Atem bereits riechen, als er ihm mühevoll auswich.
Menschen unter Dorgeneinfluss waren unberechenbar und damit gefährlich. So hatte Hilang es gelernt, deswegen hab es heutzutage keine Drogen im klassischen Sinne mehr. Aber in diesem Spiel wollte er sicher nicht an seiner ersten Begegnung sterben, weil er ihn unabsichtlich provozierte.
„Hey!", grölte der Mann.
Sollte er jetzt antworten? Oder lieber einfach weitergehen? Alleine in die Dunkelheit zu laufen schien nicht gerade klug, aber in der Taverne war es bestimmt nicht sicherer.
„Hey", sagte Hilang zögerlich und versuchte dabei, weder abweisend, noch provozierend zu wirken.
„Geh gefälligst's meinem Weg! Verzieh dich!"
Hilang wandte sich ab, spürte aber gleichzeitig Wut in sich hochkochen. Er war bewaffnet und nüchtern. Er war ihm überlegen.
„Mach sch'n!"
Hilang brauchte sich nicht umzusehen um zu wissen, dass der Betrunkene gerade zum Angreifer und damit zu einer akuten Gefahr wurde. Seine Hand griff nach einem Dolch und schnellte hervor, bevor er ihm zu nahe kam.
„Das würde ich an deiner Stelle lieber bleiben lassen." Die Stimme war kühl und ungewohnt hoch, aber gleichzeitig autoritärer als je zuvor. Sie klang beinahe wie die von Irina, eine der einflussreichsten Personen in ganz Xeranith. „Wieso gehst du nicht nach Hause oder wo auch immer du gerade hin wolltest?"
Hilang fühlte den Blick noch etwas länger auf sich kleben, doch dann entfernte sich der Mann mit schlurfenden Schritten. Das Platschen und Schmatzen auf dem Boden wurde immer leiser und Hilang schob sein Messer zurück in den Gürtel. Noch immer fühlte er sich unfassbar selbstbewusst und stark. Es war ein schönes Gefühl, er mochte das Spiel allein dafür schon. Fühlten sich Yīs immer so? Mit gerade nach vorn gerichtetem Blick setzte er seinen Weg durch die Gassen fort.
Wenn auch nicht sehr weit, denn plötzlich schlang sich von der Seite eine raue Hand um seinen Arm und zog ihn in eine kleine Nische.
„Loslassen", zischte er. Es konnte doch nicht sein, dass er hier alle paar Schritte von widerlichen Männern angefallen wurde.
Der Griff lockerte sich tatsächlich.
„Keine Sorge, ich tue dir nichts. Doch nicht bei deinem Waffenarsenal, offensichtlich kannst du gut auf dich aufpassen. Nur was treibt eine so schöne Dame wie du um diese späte Zeit ganz alleine hier draußen?"
„Ich bin auf dem Weg."
„Und wohin?" Mehr als ein schwammiger Umriss war in der kaum vorhandenen Beleuchtung nicht zu erkennen, doch Hilang fühlte wie sich seine Augen förmlich durch Liliths Körper bohrten.
„Nach Hause."
„Was, wenn ich dir sagen würde, dass ich Lügen erkennen kann und das definitiv eine war?"
„Dann würde ich das nicht glauben und weiter gehen", sagte Hilang so scharf wie es seine Stimme zuließ und drehte sich um. Gleichzeitig griff er allerdings nach einem der Messer in der Umhanginnenseite. Der kühle Metallgriff wog schwer in seiner schmalen Hand. Im echten Leben hatte er niemals ein Messer gehalten, instinktiv wusste er aber genau, wie er seine Muskeln bewegen musste, um einen tödlichen Wurf auszuführen.
„Ach, meine Liebe. Wir sind in einer Fantasywelt. Du magst eine gute Diebin sein, ich bin ein Seher."
Hilang spannte unwillkürlich seine Muskeln an. Es war natürlich bloß ein Spiel, aber so real wie sich alles anfühlte konnte er das beinahe vergessen. „Ich bin keine Diebin", war das einzige, was er - oder sie - hervorbrachte.
„Noch nicht, vielleicht. Aber ich kann die Kräfte von Leuten ebenso spüren, wie Lügen. Ich habe dich kommen gefühlt und ich möchte, dass du etwas für mich erledigst."
Der menschenförmige Schatten setzte sich in Bewegung und drückte Lilith im Vorbeigehen ein kleines Säckchen gegen den Bauch. Es war schwer und klimperte leise.
„Fünf Goldmünzen. Falls du vorhast zu überleben brauchst du in dieser Welt natürlich mehr Geld. Zum Beispiel die Hundert, die du für einen Auftrag von mir bekommen würdest."
Lilith folgte ihm. Es befand sich tatsächlich Gold in dem Beutel und sie war neugierig. Mit ihren Fähigkeiten sollte Stehlen wohl wirklich ein Kinderspiel sein.
„Ein paar Straßen weiter steht eine alte Scheune, am Stadtrand. Du hast sie vielleicht schon gesehen. Darin befindet sich eine Silberkette mit einem weißem Kristallanhänger. Und ich will, dass du sie mir zurück bringst. Sie ist sehr wertvoll und wird von einigen Personen bewacht, aber mehr Informationen kann ich dir nicht geben. Morgen um diese Zeit, die selbe Stelle. Falls du das Geld willst."
Die Kette - sehr wertvoll. Also sicherlich mehr als die Hundert Münzen Bezahlung. Wieso sollte sie sie dann überhaupt zurückbringen? Das ergab doch gar keinen Sinn. Dafür machte es den Auftrag noch einmal interessanter und unwiderstehlicher. Lilith konnte die Kette ja auch einfach stehlen und für sich behalten.
Besagte Scheune war wirklich nicht weit entfernt und sah von außen unbewacht aus. Zutritt würde sich Lilith aber nur über eine Nebentür oder die heruntergekommenen Wände verschaffen können, ihre Augen hatten wie von alleine die Außenwände abgescannt.
An einer Wand lehnte ein Palettenstapel, an anderen standen alte Geräte und Tonnen.
Mit einem kurzen Sprint konnte Lilith die Strecke ohne Deckung überwinden, ihr schwarzes Gewand bot zu dieser Zeit glücklicherweise zusätzliche Tarnung. Als sie sich vergewissert hatte alleine zu sein, kletterte sie vorsichtig auf die Paletten, um durch das winzige Fenster sehen zu können.
Ein kleines Feuer brannte inmitten der Scheune. Ebenfalls schwarz gekleidete Gestalten saßen zu allen Seiten, doch wo die Kette war konnte Lilith auch nach langem Warten nicht erkennen. Die Personen bewegten sich kaum und gaben damit keinerlei Aufschluss. Vielleicht war sie in einer Tasche, vielleicht in einer der vielen Kisten oder gar im Gemäuer versteckt.
Bei einer Frist von mittlerweile nur noch um die zweiundzwanzig Stunden würde auch keine Spionage funktionieren. Blieb die Konfrontation.
Lilith setzte vorsichtig wieder einen Fuß auf den Boden und ließ ihren Körper langsam folgen. Auf dem Weg zum Nebeneingang nahm sie in jede Hand ein Messer, weitere unter Stoff verborgen und doch jederzeit griffbereit. Die baufälligen Holzwände waren von innen mit Mauern verstärkt worden, durch diese konnte sie also doch nicht hindurchbrechen.
Sie stand vor der Tür und überlegte. Sollte sie versuchen, die Tür normal zu öffnen - und wie ging das überhaupt - oder sie lieber gleich eintreten? War sie dafür stark genug? Bei einem gescheiterten Versuch würde sie auf sich aufmerksam machen, egal welcher Art. Lilith hatte nur eine Chance, es richtig zu machen.
Sie verlagerte ihr Gewicht auf das linke Bein und trat mit mit voller Wucht gegen das Holz, direkt unter dem Metallknauf. Ein wenig überraschte es sie, wie einfach und hoch sie ihr Bein schwingen konnte, mit Hilangs eigenem Körper wäre das nicht möglich gewesen.
Trotz der nicht besonders hohen Kraft ließ der präzise Tritt das kleine Türschloss aus der Wand springen und sie schwang knarzend auf. Sofort flog das erste Messer durch die Luft und traf eine der Personen. Kein sofort tödlicher Treffer, dazu fehlte dann doch die Übung, aber sie war außer Gefecht gesetzt. Ohne lange zu überlegen griff Lilith wieder in den Umhang, holte aus und warf, bis alle am Boden lagen. Überrumpelt von dem Angriff hatten sich die Wachen kaum wehren können und als eine den Bogen gezückt hatte, hatte Lilith sich mit Leichtigkeit hinter der Wand retten können.
Jetzt, da es keine ersichtliche Gefahr mehr gab, betrat sie die Scheune. Blutlachen glitzerten im Feuerschein und die meisten Personen waren bereits verstummt. Es war nur ein Spiel. Niemand war wirklich verletzt.
Eine Wache lehnte wimmernd an der Wand, ein Messer im Unterschenkel steckend. Ein wenig tat Lilith die Person leid, es war alles zu realistisch, als dass sie komplett gewissenlos hätte töten können.
Noch immer hielt sie ein Messer in der Hand, instinktiv bereits auf ihr Opfer zielend.
„Warte, bitte! Ich- ich bin bloß eine Wache in Ausbildung, ich werde dir nichts tun."
Lilith verharrte mit ihrem Arm weiterhin wurfbereit hinter dem Kopf.
Die andere junge Frau schluchzte und lockerte dann langsam den Stoffgürtel, woraufhin ihr Gewand zu Boden glitt. Die Waffen kamen klirrend auf dem kalten Stein auf.
„D- darf ich sprechen?"
Lilith nickte.
„Ich heiße Seraphina. Ich wurde erst vor wenigen Tagen eingestellt, ich weiß nicht einmal worum es hier geht-"
Sie wusste nichts von der Kette und demnach auch nicht, wo sie war. Sie war eine nutzlose Gefahr. Und doch... Lilith überlegte. Sie könnte sie töten, sie könnte sie dort liegen lassen, sie könnte sie gefangen nehmen oder sogar als Helferin rekrutieren. Alles davon barg Nachteile und Risiken.
In ihrem Bauch rumorte es. Nein, in seinem Bauch. Die körperliche Empfindung aus der Realität rief Hilang ins Gedächtnis, dass er sich noch immer in einem Spiel befand. Und sein Körper hatte Hunger.
„Ich muss darüber nachdenken, was ich mit dir mache. Außerdem brauche ich sowieso etwas zu essen." Hilang würde das Spiel einfach verlassen und später wiederkommen. Vielleicht alleine, vielleicht aber auch erst noch später mit seiner Schwester.
„Bis nachher", sagte er ohne darüber nachzudenken, dass für Seraphina ja gar keine Zeit vergehen würde.
Ihre Gesichtszüge veränderten sich schlagartig. Sie runzelte besorgt ihre Stirn und als sie sprach, klang ihre Stimme seltsam verändert.
„Warte, willst du aufwachen?"
Verwirrt darüber, dass ein NPC plötzlich darüber Bescheid wusste im Spiel zu sein, nickte Hilang bloß zögerlich und öffnete dann wieder einen sprachgesteuerten Zugang zum XUN.
„Warte! Wach nicht auf! Sonst sehe ich dich nie wieder! Genauer gesagt wird dich niemand je wiedersehen."
Er hielt inne. Wieso sollte sie ihn nicht wiedersehen können? Es war doch bloß ein Spiel, in das er - wie auch alle anderen - jederzeit zurückkehren konnten.
„Ich muss dir etwas sagen. Aber bitte bleib ruhig, du darfst jetzt nicht aufwachen. Dieses sogenannte Spiel... Es ist nicht so, wie du denkst. Dieses Spiel ist ein Test, der herausfinden soll, ob wir es wert sind zu leben. Wenn du abbrichst beziehungsweise zu früh aufwachst, stirbst du und niemand wird sich an dich erinnern."
Nach einigen Sekunden, in denen sein Gehirn diese Behauptungen zu verarbeiten versuchte, konnte er wieder klarere Gedanken fassen.
„Woher willst du das denn wissen? Und außerdem wurde das Spiel doch als sicher eingestuft, wie sollte dabei bitte jemand ums Leben kommen können?"
„Durch das Spiel selbst stirbt ja auch niemand. Wie bereits gesagt, es ist alles ein Test. Und woher ich das weiß... Ich habe das Spiel mitentwickelt. Anfangs ohne Wissen von dem eigentlichen Plan. Ich wusste nur, dass durch die Aufgaben ein Profil eines jeden Players erstellt wird, mit seinen Schwächen und Stärken. Nachdem ich von den Morden erfahren habe, programmierte ich den Charakter, der jetzt gerade mit dir spricht, um. Ich setze zwar mein eigenes Leben aufs Spiel, aber vielleicht kann ich damit etliche andere retten."
„Wieso sollte ich das glauben!?"
„Weil du ein Leben zu verlieren hast! Sage ich die Wahrheit und du vertraust du mir und spielst weiter, lebst du. Brichst ab, stirbst du. Und nicht nur das, es wird so sein als hättest du nie existiert. Es wird niemanden geben, der sich an dich erinnert oder dich vermissen kann, es wird so sein, als hätte es ein du nie gegeben. Bitte, glaub mir, warum sollte das hier eine Lüge sein, warum sollte ich lügen?"
Nur hatte sie gelogen und das gleich sehr oft.
In Wahrheit war sie gar kein Player, sondern bewachte die Ordnung Xeraniths.
In Wahrheit starb hier niemand durchs Abbrechen, aber wer Xeraniths Regierung nach dieser Lüge nicht mehr traute - diese Leute starben.
Denn wer die Weltordnung so schnell fallen ließ, nur um sich vermeintlich zu retten, war das Leben nicht wert. Menschen mussten Vertrauen in das System haben, damit es bestehen blieb. Wenn der Mensch die natürliche Selektion überwand, musste anthropogene Selektion geschaffen werden. Auch genannt, das Ganjing.
Und in Wahrheit würden auch Menschen bleiben, die trauern konnten, aber natürlich nicht über die wahre Todesursache.
„Ich... ich würde wirklich sterben, wenn ich jetzt aufhöre?"
„Ja. Ich weiß, es klingt unfassbar, aber du musst mir glauben. Bitte, es dürfen nicht noch mehr unschuldige Menschen sterben."
So wirklich glaubte Hilang ihr nicht, aber was wenn sie wirklich recht hatte? Sicherer war es, zu bleiben. Trotz Angst und Misstrauen. Und Hunger, aber der war jetzt nebensächlich.
„Okay. Ich bleibe dann, denke ich", sagte Hilang. Und kaum, dass er das ausgesprochen hatte, atmete Seraphina erleichtert aus.
Während Hilangs Bewusstsein weiterhin im Körper von Lilith im Spiel blieb, öffnete sich seine Wohnungstür leise. Eine Person in blauschwarz glänzender Uniform trat ein, die Hand bereits zur Faust geballt. Hilangs Körper lag vollkommen schutzlos auf dem weichen Polster. Es war nicht der erste Wǔ, der heute aussortiert wurde und würde auch nicht der letzte sein.
Der Ganjist ging vorsichtig in die Knie und hielt seine behandschuhte Hand mit nur wenigen Millimetern Abstand an Hilangs Hals. Auf Knopfdruck schnellte ein dünnes Röhrchen hervor und injizierte ihm Gift, dass ihn tötete noch bevor er aufwachen konnte.
Wieder einer weniger.
∞
Es war später Nachmittag, als Nara ihre heutige Arbeitsschicht beendete und in ihre Wohnung zurückkehrte. Sie war erschöpft, aber freute sich darauf, mit ihrem Bruder Hilang das neue Spiel zu spielen. Die Proberunde hatte zwar bisher nur er gespielt, aber mit seiner kleinen Expertise von heute Morgen würden sie bestimmt auch das echte erste Level schaffen.
Weil sie spät dran war und Hilang bestimmt schon wartete, aß sie nur einen kleinen Bissen und schlug dann im XUN seine Kennnummer nach, um seiner Welt beizutreten.
„Suche Player 218306137439", sagte sie mit ihrer virtuellen Stimme.
Doch anstelle einer Nachricht, wo er sich befand erstrahlte vor Nara bloß eine Fehlermeldung. Der Zahlencode war lang, bestand aber aus den wichtigsten Personendaten wie Geburtstag und -ort, sodass Nara ihn eigentlich in und auswendig kannte. Vermutlich hatte sie sich einfach nur versprochen.
„Tastatur", forderte sie an. Es war ein anstrengender Tag gewesen, sie sollte die Nummer ganz in Ruhe und Ziffer für Ziffer eintippen. Und lieber noch einmal abchecken, als das ganze erneut tun zu müssen. 218306137439, das war die richtige Nummer. „Suche Player."
Doch wieder leuchtete nur die Fehlermeldung auf.
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„Überprüfen!" Ihre Stimme zitterte. Was stimmte hier nicht? Wo war Hilang?
Suche wurde überprüft. Systemfunktionen sind unbeeinträchtigt. Die angeforderte Nummer ist nicht in den Datenbanken verzeichnet. Person existiert nicht.
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Ohne Text darüber und darunter beträgt meine Geschichte 3.565 Wörter. Übrigens, es hat (trotz einiger Speicherprobleme und verlorenen Absätzen) sehr viel Spaß gemacht, das hier zu schreiben, ich nehme gerne wieder teil :)
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