•Verfolgt•

Sie lief hinter ihm. Er wusste es. Sie lief immer hinter ihm. Ihr Atem trotzte dem Lärm auf der Straße. Ihre Schritte hallten von den Häusern zu ihm herüber. Sie war da.

Er hatte die Blätter unter ihren Schuhen rascheln hören und das Knirschen des Schnees wahrgenommen. Mittlerweile hatte er ein Gespür für das Tempo ihres Ganges entwickelt. Der Takt war beruhigend für ihn.

Im Büro musste er alles geben. Wenn er dort war, war er durch nichts abzulenken, aber hier, unterwegs auf der Straße war er froh, dass sie die Stille unterbrach. Er genoss die Zeit, die sie unbekannter Weise gemeinsam teilten.

Er hatte sie noch nie direkt angesehen. Nie ihr Gesicht gesehen. Wenn er morgens zum Bahnsteig kam, war sie schon da.

Sie saß immer an unterschiedlichen Plätzen in der Bahn. Doch egal, welchen Platz er sich aussuchte, sie kam nie in seine Nähe. Und wenn doch, dann saß sie mit dem Rücken zu ihm. Er wollte sich selbst die Freude nicht nehmen. Wer weiß, vielleicht war sie gruselig anzusehen. Oder vielleicht war sie nur ein weiteres Püppchen. Wenn er sie nicht sah, konnte er träumen.

So genoss er also den stillen Spaziergang mit ihr. Getrennt und doch gemeinsam. Seit dem letzten Herbst ging das nun schon. Und obwohl er die gemeinsame Zeit genoss, wurde er langsam neugierig.

Er malte sich aus, wie er sie an einem Frühlingstag hinter sich unter dem Bahnhof hindurch gehen hören würde. Sie hätte ihren dicken schwarzen Wintermantel gegen die blaue, dünnere Jacke getauscht oder vielleicht trüge sie eine andere Jacke, die er noch nicht kannte.

Sie würde mit ihrem leichten Schritt hinter ihm laufen. Der Duft von frischem Kaffee vom Bäcker gegenüber des Bahnhofs würde zu ihm herüberziehen und sich mit ihrem Duft vermischen. Wonach sie wohl roch? Nach Seife? Oder Blumen? Ein lieblicher Duft, dachte er. Das würde zu ihr passen.

Ihre blonden Haare würden offen im Wind wehen, vielleicht würde der Wind ihr sogar eine Strähne mitten durchs Gesicht pusten. Wenn er dann stehen bliebe und sich umdrehte, würde sie sich die Haare aus dem Gesicht streichen, ihn anlächeln und fröhlich auf ihn zulaufen.

Vielleicht würden sie miteinander ins Gespräch kommen und sich für einen Kaffee und einen gemeinsamen Heimweg verabreden. Oder sie konnten ein richtiges Date vereinbaren. Wenn er doch nur endlich den Mut aufbringen würde, sich umzudrehen und sie anzusprechen.

Seine Laune sank abrupt. Nun fing er schon an sich selbst die Stimmung zu ruinieren, statt den Moment einfach zu genießen.  Was, wenn sie gar keinen Wert auf ein Gespräch mit ihm legen würde? Wenn sie vergeben war? Oder ein ganz unsympathischer Mensch. Sicherlich würde es dann keine gemeinsamen Spaziergänge mehr geben.

Vielleicht würde sie auch kein Interesse an einem alleinerziehenden Vater haben. Obwohl ihm klar war, dass er sie sich in diesem Fall aus dem Kopf schlagen musste, keimte die Hoffnung in ihm auf, sie würde Kinder mögen. Was gab es da auch nicht zu mögen? Kinder waren toll.

Robert verstand bis heute nicht, wie Max' Mama es fertig bringen konnte, dieses drollige Baby bei ihm abzuladen und für immer aus seinem Leben zu verschwinden. Aber das war ihr Verlust. Zuerst war er geschockt gewesen, einen schreienden Säugling im Arm seines One Night Stands von vor einigen Monaten zu sehen, dann aber verliebte er sich in das hilflose Bündel mit den braunen Knopfaugen.

Sie hatte ihm das Kind mit den Worten "Hier, dein Balg" überreicht und war dann so schnell sie nur konnte davongelaufen. Robert hatte seitdem jede Sekunde mit seinem Sohn genossen. Nichts und niemand würde sich je zwischen ihn und Max stellen können. Für keine Frau der Welt würde er bei Max Abstriche machen. Wer das nicht verstand, war in seinem Leben nicht willkommen.

Er sehnte sich dennoch danach, ihre Bekanntschaft zu machen. Aber was, wenn ihm jemand zuvorkam und sie ansprach? Wenn sie sofort verzaubert wäre? Auch dann wären ihre gemeinsamen Spaziergänge wohl vorbei. Ohne, dass er je versucht hätte, sie anzusprechen. Er war vielleicht schüchtern, aber ein Feigling war er nicht. Im Frühjahr würde er den ersten Schritt wagen.

Jetzt, in den letzten eisig kalten Wintertagen, waren die Bettler entlang des Weges immer weniger geworden. Sicherlich hatten sie Hilfe oder zumindest wärmere Plätze gefunden, dachte er sich.

Er hatte nichts gegen Bettler, aber er gab ihnen auch nichts. Er selbst musste schließlich auch für sein Geld arbeiten gehen und sich und seinen Sohn Max über Wasser halten. Nicht, dass es ihm schlecht ginge, aber man musste seine Kröten eben beisammenhalten. Nicht auszudenken, wie sich seine finanzielle Situation verändern würde, wenn er jedem Bettler nachgab und ständig Geld verschenkte.

Sie hingegen schien ein weiches Herz zu haben. Solange er sich erinnern konnte, hatte er jeden Freitagmorgen gehört, wie einigen Bettlern Geld gegeben wurde. Er hörte es leise in die aufgestellten Becher fallen. Immer die gleichen Bettler. Drei Stück. Jeden Freitagmorgen. Sie waren ihr dankbar.

Während sie ihn immer nur mit der Wiederholung von "eine Spende, bitte, eine Spende" empfingen, blickten sie ihr jedes Mal erwartungsvoll entgegen und rangen sich freitags sogar zu einem leisen "Danke" durch. Jedes Mal flammte die Wut in ihm auf, wenn er das Gefühl hatte, der Dank wäre nicht aufrichtig.

Gedankenverloren wanderte sein Blick an den Rand des Fußwegs, wo zwei Obdachlose sich im Eingangsbereich eines Ladens ein Quartier eingerichtet hatten. Sie sahen ihn abschätzig an, doch dann erhellte sich ihre Miene als sie an ihm vorbei blickten und sie sahen.

Der kleinere der beiden Obdachlosen verzog seine Mundwinkel zu einem hässlichen Grinsen und rutschte etwas weiter nach vorne. "Morgen", spieh er ihr entgegen, als sie ihm näherkam.

Er war bereits an ihnen vorüber gegangen. Der Bettler raschelte in seinem Schlafsack umher, doch er konnte ihn nicht mehr sehen.

"Guten Morgen", antwortet sie mit ihrer lieblichen Stimme und ging weiter.

"He, heute keine Spende?", rief einer der Bettler.

Ihre Schritte verhalten, sie blieb stehen. Er wusste nicht warum, aber seine Nackenhaare stellten sich auf und er verlangsamte seinen Schritt noch mehr.

"Ich habe kein Geld dabei, tut mir leid", erwiderte sie freundlich. "Beim nächsten Mal", versprach sie.

"He, Püppi, ich brauche aber heute was zu essen", knurrte der Obdachlose und raschelte erneut mit seinem Schlafsack.

Er konnte es nicht sehen. Die Scheiben um ihn herum spiegelten das Geschehen nicht wider.

"Zeig mal, was du da hast, Prinzessin", hörte er den Penner sagen, bevor er einen kurzen, spitzen Aufschrei und das Rascheln des Schlafsacks vernahm.

Er dreht sich um und sah, wie der Penner sie an ihren Schultern hielt und ihr die Tasche zu entreißen drohte.

"Finger weg." Sie legte den rechten Arm auf ihre Tasche und versuchte sich wegzudrehen, doch der Penner griff erneut nach ihr. Blinde Wut raste durch seine Adern.

"Verzieh dich", knurrte nun er als er mit wenigen Schritten an ihrer Seite war, den Kerl mit der linken Hand am Kragen griff, etwas zurück schob und ihm mit der rechten Hand einen Kinnhaken verpasst. Der Bettler ging zu Boden.

"Die Dame hat gesagt, heute nicht." Als der Bettler leise wimmernd in seine Ecke zurück kroch, hörte er ihr aufgeregtes Schnappen nach Luft.

Ohne weiter darüber nachzudenken drehte er sich zu ihr. "Alles… ehm, alles in Ordnung?", stotterte er.

Sie sah noch besser als er es sich jemals hätte vorstellen können. Obwohl ihr Haar von dem kurzen Gerangel völlig durcheinander hing und ihr Gesicht vor Angst gerötet war, hätte er schwören können, noch nie eine schönere Frau gesehen zu haben.

Ihre blauen Augen waren vor Schreck noch immer weit geöffnet und eine einzelne Träne kullerte auf ihrer Wange hinab. Ehe er sich beherrschen konnte, streckte er die Hand aus und fing sie auf.

Dann zuckte er zurück als hätte er sich verbrannt. Was tat er denn? Sie wurde gerade körperlich angegriffen und er nahm sich die Freiheit sie einfach zu berühren? Er stöhnte auf und widerstand dem Bedürfnis sich mit der flachen Hand auf die Stirn zu schlagen. Er benahm sich wie eine läufige Hündin.

"Danke", flüsterte sie. "Alles okay." Doch er nahm das Gesprochene vor lauter Abscheu vor sich selbst kaum wahr, nickte knapp, und ging strammen Schrittes davon. Er wusste genau, wie schnell er laufen musste um sie abzuhängen.

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