Strandspaziergang
"Hast du den Chef erreicht?", sagte die Frau neben ihm. Dabei richtete sie ihren Blick weiterhin starr geradeaus und sah keine Sekunde zu ihm rüber.
Marco nickte - obwohl seine Patin das nicht sehen konnte - und meinte: "Ja! Die Operation wird klar gehen! Morgen wird uns auch das letzte Viertel der Stadt gehören!"
"Bellissime!", meinte die Frau neben ihm, ohne ihren langsamen und majestätischen Schritt zu verändern. Das ungleiche Paar schritt einträchtig nebeneinander am Strand von Palermo entlang. Marco, der erst vor einer Stunde nach einem blutigen Job eingetroffen war, ging rechterhand, die Frau an seiner Seite - viele kannten sie nur als Vittoria Fiocetta, schritt mit gestrafften Schultern links neben ihm daher.
Vittoria ließ sich zu einem Seufzer verleiten und schaute rüber zum Meer. Die beiden gut bekleideten Menschen gingen etwa in der Mitte des großen Strandes entlang, stets gradlinig an allen liegenden Menschen und aufgestellten Strandkörben vorbei. Nicht weit links neben ihnen toste das Meer, wie ein unbesiegbarer Boxer, der selbst dem lautesten Gong keinerlei Beachtung schenken würde.
Vittorias Kopf wandte sich langsam wieder nach vorn, so als sah sie vor sich ein neues Ziel, das erobert werden müsste. "Gut - das ist sehr gut, Marco!", meinte sie schließlich, "alles läuft also nach Plan."
Marco nickte erneut - obwohl sie ihn immer noch nicht ansah - und ließ ein etwas lahm klingendes "Si!" von sich hören.
Vittoria grinste nur und ging schnurstracks weiter vorwärts. Ihr Lächeln verschönerte ihr Gesicht ungemein. Von ihrem Antlitz konnte man aber nicht viel erkennen, da sie eine dieser großen Sonnenbrillen trug, die jetzt wieder in Mode waren. Ihr bronzener Teint war makellos und ihre Figur ließ selbst den müdesten Mann munter werden.
Marco kannte sie schon seit zehn Jahren, doch nie im Traum würde er Unanständiges mit ihr erwägen! Der letzte Mann, der das versuchte, hatte relativ schnell das Leben gelassen. Zwar fragte er sich oft, auf was für Typen Vittoria stand, doch würde er selbst sich brav zurückhalten. Es war besser, nicht mit seiner Chefin in die Kiste zu steigen...
Vittoria strahlte inzwischen eine Aura der Ruhe aus und daher sagte Marco auch nichts mehr. Allmählich hatten die Beiden einen großen Teil des Strands hinter sich gelassen. Vittoria genoss die Sonne. Irgendwie kam in ihr plötzlich das Gefühl von Urlaub auf. Eigentlich hatte sie ja auch alles mit Marco besprochen - warum also sollte sie nicht etwas runterfahren? Zumindest vorerst...
Gemächlich schlenderten die beiden ungleichen Gefährten auf einen Eiswagen zu, der hier - etwas weiter ab vom Trubel des Hotels - mitten im Sand stand.
"Was wünschen Sie?", fragte der dicke Eisverkäufer schließlich, als das italienische Paar an der Theke des Wagens zum Stehen kam.
"Ich denke, ich nehme zwei Kugeln Straciatella", säuselte Vittoria mit einer zuckersüßen Stimme. Marco brummte kurz und entschied sich dann für das Gleiche.
Der Eisverkäufer nickte und stellte die beiden bestückten Eiswaffeln in den dafür vorgesehenen Ständer. "Das macht dann vier Euro", meinte er, doch in diesem Moment nahm Vittoria mit seltsamer Langsamkeit ihre Sonnenbrille ab und starrte den Eisverkäufer herausfordernd an.
Der Mann prallte förmlich zurück, als er den eiskalten Blick der dunkelgrünen Augen sah.
Er erkannte die Frau sofort. Unwillkürlich bildete sich Schweiß auf seiner Stirn.
"Ach Sie sind es, Frau..." setzte er nervös an, wurde aber sofort unterbrochen. "Keine Namen!", befahl die Frau ihm, ohne ihn von diesem gestochenen Blick zu erlösen. "Geben Sie uns nur das, was wir wünschen", ergänzte sie bedrohlich und zeigte auf die Eiswaffeln mit Straciatella.
"Natürlich - sofort!", willigte der Mann ein, nickte dazu wild umher und hielt den Beiden die Eiswaffeln hin. Gelassen nahmen Marco und Vittoria ihm sie ab, wobei Marco ein zufriedenes Grinsen zeigte. "Geht doch!", meinte er überheblich.
"Ich - ich hatte ja keine Ahnung...", setzte der Verkäufer entschuldigend an. Vittoria zeigte ein Haifisch-Grinsen, winkte königlich ab und meinte versöhnlich: "Das macht doch nichts. Sowas kann doch passieren."
Der Mann lächelte erleichtert, doch daraufhin erfror die Miene der Frau plötzlich sofort zu Eis. Sie starrte ihn durchdringend und böse an. 'Es kann passieren, aber sollte nicht noch einmal passieren!' - nichts Anderes als das sagte dieser Blick. Dem Mann trat der Angstschweiß erneut auf die Stirn.
Kurz darauf, von einer Sekunde auf die andere, setzte Vittoria erst ihr zauberhaftes Lächeln, dann ihre Sonnenbrille wieder auf. Die scheinbar bedrohliche Situation war wie weggespült. Sie ging einfach los und bedeutete Marco mit einem Wink, ihr zu folgen. So schritten die Beiden weiter und ließen einen verängstigten Eisverkäufer zurück.
Etwas später hatten Marco und Vittoria den abgelegenen Teil des Strands erreicht. Sie blieben stehen. Starrten auf die Wellen und genossen das kühle Eis und das Rauschen des Meeres. Vittoria grinste in sich hinein. Ja, die Geschäfte liefen richtig gut dieses Jahr. Und auch Marco gefiel ihr eigentlich ganz gut. Zu schade, dass sie ihn gleich würde umlegen müssen. Aber er hatte Mist gebaut und der Chef hatte deswegen ziemlich eindeutige Anweisungen erteilt. Sie durfte ihn nicht enttäuschen.
Verstohlen griff sich Vittoria an die linke Hosentasche ihres Hosenanzuges, in der sie den kleinen Revolver versteckt hatte. Hinter ihrer Sonnenbrille sah sie verdeckt zu Marco. Doch ihr kleiner Handlanger bekam nichts davon mit, was ihm drohte. Ahnungslos schlürfte er an seinem Eis, genoss den Anblick der Wellen und dachte so friedlich bei sich, was für ein schönes Fleckchen Erde dies hier eigentlich war...
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