amnesia | larry
Ich wusste, dass ich ihn vergessen sollte. Es war fast sechs Jahre her und er schien keinen einzigen Gedanken mehr an die ganze Sache zu verschwenden. Wieso tat ich das dann?
Eleanor hatte Recht. Liam hatte Recht. Sie hatten alle Recht. Ich sollte aufhören an ihn zu denken, ich sollte aufhören mich abends hin und her zu wälzen, ich sollte aufhören von ihm zu träumen. Davon wie er sagte „Es ist alles ein ganz großes Missverständnis, Louis. Ich liebe dich."
Himmel, ich hatte keine Ahnung was er machte. Wo er wohnte, wie er gerade aussah, was er arbeitete, ob er arbeitete, ob er in einer Beziehung war, ob er Single war, ob er jemals an mich dachte.
Ich wusste ja nicht mal ob er überhaupt noch lebte.
Ich wusste nur, dass Harry Styles mir das Herz aus der Brust gerissen hatte und darauf rumgetrampelt war.
Und ich nach sechs Jahren immer noch an ihn dachte. Weil ich ihn nunmal geliebt hatte.
„Ernsthaft, Louis, so geht das nicht weiter", ertönte jetzt wieder Liams Stimme aus der Küche. Ich seufzte nur.
Mein Mitbewohner und bester Freund kam ins Wohnzimmer, stellte einen Teller mit einem Käsesandwich vor mir ab und begann sein eigenes zu essen. Ich warf ihm nur einen dankbaren Blick zu und griff nach dem Essen.
„Ich meine...wie sehr musst du diesen Typen eigentlich geliebt haben, dass dich die Sache nach sechs Jahren immer noch so sehr mitnimmt?"
Ich schluckte und biss einfach in mein Sandwich. Ich wusste doch auch nicht warum es in den letzen Wochen noch schlimmer geworden war. Vielleicht weil vorletzte Woche sein 24. Geburtstag gewesen war? Vielleicht weil ich Call me by your Name zu oft gesehen hatte? Vielleicht weil ich das Gefühl hatte jeder um mich herum fand gerade die Liebe seines Lebens und ich hatte meine schon verloren?
Ich seufzte nochmal und sah zu meinem besten Freund. „Ich weiß auch nicht, Liam. Aber in den letzten Wochen...ist es fast so schlimm wie am Anfang. Und manchmal denke ich sogar so dämliche Sachen wie...bald wird irgendwas passieren. Das Universum will mir ein Zeichen geben, oder sowas. Ich meine...ich bilde mir sogar ein seine Schwester zu sehen. Und dann dreht die Person sich um und sieht sie nichtmal ansatzweise so aus."
Liam musterte mich mitleidig. Ich wandte den Blick einfach ab und sah mich in unserem Wohnzimmer um. Wir mussten dringend mal wieder aufräumen. Es sah aus wie auf einer Müllhalde.
„Louis...ich denke..." Er stockte. Ich hatte eh nur so halb zugehört. Meine Gedanken waren wieder bei Harry.
„Liam, weißt du...", begann ich und riss ein Stück des Sandwiches ab. Der Käse zog lange Fäden. „Manchmal glaube ich ernsthaft...dass es alles ein riesiges Missverständnis ist. Manchmal frage ich mich ernsthaft was passiert ist. Weil also..."
„Louis", unterbrach Liam mich, aber ich redete einfach weiter.
„Es kann doch sein...ich meine...ich hab keine Ahnung was passiert is. Es kann irgendeine gute Erklärung dafür geben, ich muss sie nur finden, ich..."
„Louis."
„Nein, ich meine...was wenn irgendwas...also...ich konnte ja auch seine Familie nie erreichen und..."
„Louis!" Jetzt wurde Liam laut und ich zuckte kurz zusammen.
„Hör dir mal selber zu!" Er stellte seinen Teller auf den Tisch, rückte zu mir und legte seinen Arm um meine Schulter. „Das wird langsam zur Obsession. Ich kenne dich seit fünf Jahren und ich hab das Gefühl jedes Jahr ist es nur schlimmer geworden. Du musst mal mit der Scheiße abschließen. Harry wird nicht zurückkommen. Es tut mir Leid. Ich weiß, ich kenne ihn nicht, aber diese fünf Jahre haben mir gezeigt was für ein Arschloch er ist. Du leidest seit sechs Jahren wegen eines Typen, der wahrscheinlich nicht einen einzigen Gedanken an dich verschwendet. Und das ist wirklich nicht gut für dich!"
„Liam, das ist doch das Problem, Harry ist kein Arschloch." Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und Liam nahm den Arm von meinen Schultern und stand auf.
Er schnaubte. „Er hat dich von jetzt auf gleich aus seinem Leben gestrichen. Ohne Erklärung, ohne irgendwas."
„Mann, verdammt Liam, wir haben unser ganzes Leben miteinander verbracht. Ich kenne Harry besser als irgendeine andere Person auf diesem Planeten, ich-"
„Nein, das tust du nicht!", rief Liam laut. „Vielleicht war das früher so. Aber es ist nicht mehr so. Du hast Harry seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Und Menschen ändern sich. Außerdem hattest du offensichtlich auch damals schon irgendwie eine falsche Einschätzung von ihm. Der Harry, den du uns immer beschreibst hätte sowas nicht getan."
„Und das ist ja genau, was so merkwürdig ist. Ich meine, ich war am Anfang nur sauer und enttäuscht und so so unglaublich gebrochen, dass ich nicht mal darüber nachgedacht habe, aber-"
„Bitte hör auf damit." Liam sah wirklich aus als wäre er langsam fertig mit den Nerven. „Es macht dich nur fertig, wenn du dich weiter so viel damit beschäftigst und dir den Kopf zerbrichst und dir irgendwelche Theorien darüber ausdenkst. Ich bin dein bester Freund. Ich will einfach nur, dass du glücklich bist. Und das geht nicht, wenn du dich immer weiter in dieser Sache verläufst. Bitte...Versuch langsam darüber hinwegzukommen."
Ich sah ihn nur an.
Liam seufzte, als er bemerkte, dass er damit nicht weiterkam. Er ließ sich wieder neben mich auf die Couch sinken. Eine Weile war es still.
„Louis, wann hattest du das letzte Mal Sex?", fragte er dann.
Ich sah ihn nur ungläubig an. „Ernsthaft, Liam? Jetzt kommst du mit der du-bist-untervögelt-Masche?"
Liam sah mich nur an. „Wann hattest du das letzte Mal Sex?", wiederholte er.
Als ich gerade ansetzte etwas zu sagen fügte er noch hinzu: „Und das mit Eleanor zählt nicht."
Ich schnaubte. „Schon klar."
Ich hatte meine beste Freundin vor zwei Jahren kennengelernt als Liam mich in den Club gezerrt hatte und ich war am Ende mit ihr nach Hause gegangen, um...nun ja das zu tun was man halt tat wenn man den Club mit jemandem verließ. Bevor aber irgendwas hätte passieren können hatte ich einen Riesenzusammenbruch gehabt und das Ganze hatte so geendet, dass Eleanor mir um vier Uhr nachts eine Heiße Schokolade gemacht, sich in ihrem Bett an meine Seite gekuschelt und ich ihr die ganze Geschichte mit Harry erzählt hatte. Was mir damals wirklich geholfen hatte zumindest ein bisschen über die Sache hinwegzukommen.
„Also?" Liam sah mich mit hochgezogener Augenbraue an.
Ich schluckte und nuschelte etwas Unverständliches.
„Was?"
Ich seufzte. „Vor drei Jahren", meinte ich dann leise.
„Wie bitte?" Geschockt sag Liam mich an. Dann verstand er. „Oh Gott, dieser Typ, der dich so an ihn erinnert hat, stimmt's?"
Ich nickte nur und aß den Rest meines Sandwiches, ohne Liam auch nur eines Blickes zu würdigen. Mein bester Freund schien nachzudenken.
„Drei Jahre?", fragte er dann nochmal ungläubig.
„Mann, Liam, was willst du denn hören? Ich kann nicht einfach mit irgendwem schlafen, so bin ich nicht. Nicht nachdem...also...nicht nach Harry. Ich breche ja fast schon zusammen wenn ich nur jemand anderen küsse, weil ich die Person automatisch mit ihm vergleiche."
Liam legte den Kopf schief. „Und wann hast du das letzte Mal jemanden geküsst?", fragte er trocken und ich griff das nächstbeste Kissen und warf es ihm ins Gesicht. „Du bist unmöglich."
Aber gegen das aufkommende Grinsen konnte ich trotzdem nichts machen.
Liam grinste zurück. Am Kissen war jetzt ein Fettfleck, weil ihm ein Käsefaden aus dem Mund hing. Ich lachte ihn aus.
Eine Weile veranstalteten wir eine Kissenschlacht, dann lagen wir irgendwann einfach auf dem Sofa nebeneinander, jeder mit seinem Handy beschäftigt.
Plötzlich sah er auf. „Okay, Louis. Du kommst heute Abend mit El, Maya und mir mit in den Club. Wird Zeit, dass du dir jemanden suchst und über diesen Idioten hinwegkommst."
„Liaaam", meinte ich nur langgezogen und seufzte. „Ich will nicht. Warum zwingst du mich immer zu sowas?"
„Oh Louis, ich weiß, dass du es liebst feiern zu gehen, du musst dich gar nicht verstellen. Von mir aus musst du dir auch niemanden suchen, sondern kannst einfach mit deinem Hintern alle schwulen Männer beim Tanzen verrückt machen. Ist mir egal. Hauptsache du hörst auf so einen Trübsal zu blasen. Die letzten Wochen ist es echt viel schlimmer geworden mit dir."
Ich seufzte. „Die letzten Wochen war es auch schlimmer."
„Dann such dir doch mal jemanden. Ein weiser Mensch hat mal gesagt don't tell your mother, kiss someone else. Ich finde das ist ne gute Methode."
„Hast du gerade ernsthaft Demi Lovato zitiert? Und dann auch noch komplett falsch?"
„Was denn?" Liam grinste. „Dafür muss ich mich nicht schämen. Und ich stehe dazu, es ist eine gute Methode. Wenn ich über irgendwen hinwegkommen muss mach ich das immer so."
Ich schnaubte. „Liam, du und Maya seid seit vier Jahren zusammen und mittlerweile verlobt."
„Na und?" Liam zuckte mit den Schultern. „Was hat das denn damit zu tun?"
Ich seufzte. Und gab auf.
„Ich hab das Gefühl du willst nicht mal über ihn hinwegkommen", meinte Liam dann. Ich seufzte nur verzweifelt.
„Liam, er war die-"
„Wag! Es ja nicht!", unterbrach er mich, aber bevor ich den Satz aussprechen konnte. „Ihn wieder als die Liebe deines Lebens zu bezeichnen."
„Aber er war-"
„Naaaaaaah!"
„Lia-"
„Shhh, nein. Ich will das nicht hören."
Ich seufzte nur.
„Also. Heute Abend gehen wir feiern. Du kommst mit."
Und ich kam auch mit. Und ich hatte auch Spaß, tanzte mit El, sah Liam beim Rummachen mit seiner Verlobten zu und flirtete sogar mit dem ein oder anderen. Aber ich ging alleine nach Hause. Ich konnte mich einfach nicht dazu bewegen mich auf irgendetwas einzulassen.
Vor allem weil ich wirklich dieses Gefühl tief in mir hatte, dass bald irgendwas passieren würde. Irgendwas in Bezug auf die ganze Harry Sache.
Und ich wusste ja gar nicht, wie Recht ich damit hatte.
_____
Etwa eine Woche später hatte ein völlig verkaterter Liam mich losgeschickt, um Brötchen und starken Kaffee zu holen, weil unsere Kaffeemaschine natürlich ausgerechnet gestern kaputt gegangen war.
Der Bäcker war nicht besonders nah, deshalb holten wir meistens Brötchen beim Supermarkt in der Nähe, aber heute wollte ich mal ein guter bester Freund sein, also war ich unterwegs zu der etwas weiter entfernten Bäckerei.
Ich war etwas abgelenkt, mit den Gedanken ganz in einer anderen Welt (und nein, nicht bei Harry. Ganz bestimmt nicht), deshalb war ich so unaufmerksam, dass ich in jemanden reinlief.
Oder dieser jemand in mich.
„Oh sorry." Ich sah auf und sofort stockte mir der Atem.
Diese Augen kannte ich.
Das Grün strahlte mir regelrecht entgegen.
„Sorry, ich hab dich nicht gesehen", meinte er und wollte schon weitergehen, aber ich hielt ihn am Arm fest.
„Harry?" Meine Stimme war eher ein Hauchen, aber er schien mich zu verstehen.
Er blieb stehen und ging einen Schritt zurück. Verwirrt runzelte er die Stirn.
Er sah anders aus. Er war noch größer, seine Haare etwas anders geschnitten und er war viel muskulöser. Seine Gesichtskonturen waren markanter. Er sah einfach älter aus. Und er...er sah mich anders an. Nämlich irgendwie...als würde er mich zum ersten Mal in seinem Leben sehen.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Und es tat weh. Es tat so sehr weh. Das kam komplett unerwartet, ich war unvorbereitet und einfach nicht in der Lage jetzt plötzlich den Mann zu sehen, der mir vor sechs Jahren das Herz gebrochen hatte.
Aber hier stand er.
Lebendig.
Und noch heißer als früher.
„Äh...Kennen wir uns?", fragte Harry jetzt und kurz zuckte ich zusammen, weil seine Stimme so tief war, dann runzelte ich die Stirn.
„Wie bitte?"
Er musterte mich mit aufeinander gepressten Lippen und ich lachte leise auf.
„Ist das dein Ernst?"
„Äh." Etwas hilflos sah er sich um, dann fiel sein Blick wieder auf mich. „Tut mir Leid?", versuchte er es. „Ich...bist du auf meiner Uni?"
Ich sah ihn fassungslos an. Das war jetzt nicht sein Ernst. Erst zertrümmerte er mein Herz und jetzt tat er so als hätte er keinen Schimmer wer ich war?
„Willst du jetzt ernsthaft so tun als ob du mich nicht kennst?" Meine Stimme hatte einen drohenden Unterton angenommen.
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er runzelte die Stirn, dann weiteten sich seine Augen und sein Mund klappte auf. „Meinst du damit, dass du...dass du mich kennst?"
Ich starrte ihn nur an.
„Also...du kennst mich? Aus...aus meiner Vergangenheit?"
Ich schnaubte. „Sag mal willst du mich eigentlich verarschen?"
„Nein, nein, du verstehst nicht!" Er schien zu merken, dass ich kurz davor war auszurasten. „Ich..." Er seufzte. „Ich kann mich an nichts erinnern was passiert ist, bevor ich ich achtzehn war."
Ich brauchte einen Moment.
Dann trat ich einen Schritt zurück. „Wa-" Ich stockte. „Wie jetzt?"
Er atmete langsam aus. „Ich hab keine Erinnerungen an mein Leben bevor ich achtzehn war."
Ich blinzelte.
Er fuhr sich durchs Gesicht. „Ich...können wir das bitte...irgendwie bei 'nem Bier besprechen, oder so?"
Ich starrte ihn einfach nur an. Harry stand vor mir. Harry Styles, der Mensch mit dem ich mein ganzes Leben verbracht hatte, der mein Herz gebrochen hatte, stand vor mir und behauptete sich an nichts mehr erinnern zu können.
„Bitte?" Er kam einen kleinen Schritt näher. „Ich...bitte?"
Ich blinzelte nur, absolut nicht imstande irgendetwas zu sagen. „Äh."
„Heute Abend? Kannst du heute Abend?"
Überfordert sah ich ihn an. Dann nickte ich wie ferngesteuert. „Ja, ich...ich kann heute Abend. Denk ich."
„Ja?" Hoffnung glitzerte in seinen Augen. Was mich noch mehr verwirrte. „Das wäre...du weißt nicht wie viel mir das bedeuten würde."
Ich schluckte.
„Gibst du mir deine Nummer?" Mittlerweile schien er ziemlich aufgeregt zu sein. „Wie heißt du überhaupt?"
Das war zu viel für mich. Wortlos nahm ich das Handy, das er mir hinhielt, tippte meinen Namen und meine Nummer ein, gab es ihm zurück und drehte mich dann um.
„Hey, warte..." Er schien aufs Handy zu gucken. „Louis!", rief er dann.
„Louis", hörte ich ihn noch zu sich selber flüstern, dann war ich weg. Immer schneller ging ich zurück nach Hause.
_____
„Wieso sehe ich weder Brötchen noch Kaffee in deinen Händen?", stöhnte Liam als ich die Küche betrat.
„Ich hab gerade Harry getroffen", flüsterte ich, immer noch komplett in Schock und ließ mich auf den Stuhl gegenüber von Liam sinken.
„Was?" Als wäre sein Kater von jetzt auf gleich verschwunden saß Liam kerzengrade da und starrte mich ungläubig an. Er brauchte mich gar nicht so anzusehen, ich glaubte es ja selber kaum.
„Harry...wie in...dein Harry? Der Typ, der...also...Harry Styles?"
Ich nickte und blinzelte. „Und er kann sich nicht mehr an mich erinnern", meinte ich dann. „Sagt er zumindest."
„Was?" Diesmal schien Liams Kater ihn an sich zu erinnern, denn direkt nachdem er das gerufen hatte hielt Liam sich den Kopf. „Was?", fragte er dann nochmal, etwas leiser.
„Ja. Ich...ich weiß auch nicht. Ich war vollkommen überfordert. Ich wollte doch nur Brötchen holen und plötzlich laufe ich in jemanden rein und dann gucke ich hoch und dann steht plötzlich Harry vor mir. Nur größer, älter und...und ohne mich zu erkennen. Ich bin richtig sauer geworden, aber dann meinte er er kann sich an nichts erinnern was passiert ist bevor er achtzehn war."
„Wie bitte?" Liam war genauso verwirrt wie ich. „Du...okay Moment." Er holte tief Luft. „Du hast Harry getroffen? Den Harry, über den du weit sechs Jahren einfach nicht die Klappe halten kannst? Den Harry? Der dir das Herz aus der Brust gerissen hat?"
Ich nickte stumm und meine Kehle schnürte sich zu.
„Und er meint, er kann sich nicht an dich erinnern?"
„Er meinte, er kann sich an gar nichts erinnern." Meine Stimme war nur ein Hauchen.
Liam runzelte die Stirn. „Und...und das glaubst du ihm?"
Ich starrte auf den Tusch vor mir. „Ich weiß es nicht."
„Okay, was genau ist passiert? Ich...wirst du ihn wieder sehen? Habt ihr irgendwie...keine Ahnung..."
„Ich hab ihm meine Nummer gegeben." Ich sah auf, direkt in Liams braune, warme Augen, aber er sah genauso ratlos aus wie ich.
„Okay...ähm..."
„Und er meinte er will sich heute Abend mit mir treffen, um das alles zu klären." Ich griff nach dem Salzstreuer, der noch von gestern Abend auf dem Tisch stand und schob ihn vor mir immer von der linken Hand zur rechten. „Ich bin so überfordert, Liam. Meine Gefühle wissen gar nicht wohin mit sich."
Liam nickte nur. „Ähm...und wirst du dich mit ihm treffen?"
Ich zuckte mit einer Schulter. Dann nickte ich. „Also...wenn er anruft...ich meine..." Ich seufzte und ließ das Salz stehen. „Dieser Mann hat für die schlimmste Zeit meines Lebens gesorgt. Aber einerseits bin ich einfach viel zu neugierig, um falls er wirklich anruft nicht hin zu gehen."
„Und andererseits?"
Verzweifelt sah ich auf. „Andererseits ist es Harry." Pause. „Von ihm würde ich mir das Herz doch gleich nochmal brechen lassen."
Liam sah mich nur an. Eine Weile schwiegen wir.
Irgendwann schnaubte er. „Stell dir mal vor...deine ganzen wilden Theorien, für die ich dich absolut verrückt erklärt habe...stell dir mal vor du hast irgendwie Recht. Und es war wirklich alles nur ein großes Missver-"
„Stopp!" Ich hielt mir die Ohren zu. „Liam, wenn du sowas sagst mache ich mir wieder Hoffnungen, dass es ernsthaft stimmen kann."
„Sorry." Er sah auf den Tisch. „Du kennst mich, das Letzte was ich will ist, dass du dir falsche Hoffnungen machst. Ich meine, ich habe nicht umsonst die letzten fünf Jahre damit verbracht dich davon zu überzeugen, dass du Harry nicht nachweinen solltest, weil er ein absoluter Idiot ist, der deinen Wert nicht sehen konnte."
Kurz war ich ein bisschen gerührt. Ich hatte so ein Glück Liam gefunden zu haben. Er war wirklich der beste Freund, den man sich wünschen konnte.
„Soll ich El anrufen?", fragte er. „Vielleicht weiß sie eher was du tun-"
Liam wurde von dem Klingeln meines Handys unterbrochen. Ich zog es aus meiner Hosentasche.
Unbekannt.
Ich legte das Handy vor mir auf den Tisch und Liam las was auf dem Bildschirm stand.
„Ist er das?"
Ich schluckte. „Wer sonst?"
Liam sah mich nur an. „Willst du rangehen?", fragte er leise.
„Ich weiß nicht", flüsterte ich zurück. „Ich hab Angst."
„Warte, warum flüstern wir?"
„Keine Ahnung." Und da schien meine Hand sich selbstständig zu machen, denn ich nahm den Anruf entgegen.
„Hallo?", fragte ich mit zitternder Stimme und beobachtete Liam, der komplett aufgeregt an meinen Lippen ging.
„Uhm. Louis?", ertönte Harrys Stimme und ich musste mir auf einen Finger beißen, um keinen Schrei loszulassen. Ich hatte das Gefühl, ich stand immer noch unter Schock.
„Ja?", fragte ich, aber meine Stimme klang absolut piepsig. Ich räusperte mich. „Ja?", sagte ich dann nochmal deutlicher.
„Ähm...also...triffst du dich...heute Abend mit mir?"
Ein paar Sekunden blieb ich still. Harry fragte sich vermutlich schon ob ich noch dran war.
Dann entschied irgendwas in meinem Gehirn wohl für mich. „Ja. Wo denn?"
„Es...ähm...es gibt da so eine ganz nette Bar, in einer Seitenstraße, ziemlich im Zentrum. Ich kann dir die Adresse schicken, wenn du willst."
„Mhm", bejahte ich und Harry begann noch irgendwas zu sagen, aber ich unterbrach ihn mit einem „20 Uhr, bis dann" und legte auf.
Das war zu viel.
_____
Komplett ferngesteuert bewegte ich mich aus der Tube in die Londoner Abendluft und versuchte gleichmäßig zu atmen. Ich glaube, ich war noch nie in meinem Leben so nervös gewesen.
Nach einer sehr langen Krisensitzung mit Eleanor und Liam (und Maya) hatten wir beschlossen, ich sollte mit absolut null Vorstellungen oder Hoffnungen oder auch nur Ideen an die Sache rangehen. Und weil das kaum möglich war sollte ich eher denken Harry verarscht mich, als alles wird gut, er liebt mich noch, wir kriegen unser Happy End, denn dann konnte ich weniger einfach enttäuscht und verletzt werden. Aber vielleicht würde mir das Ganze ja endlich die Antworten geben, die ich seit sechs Jahren suchte.
Natürlich funktionierte das nur so semi-gut, man konnte seine Gedanken ja leider nicht steuern.
Trotzdem war die ganze Situation noch vollkommen surreal.
Ich machte mich auf die Suche nach der Bar, die Harry mir gesagt hatte, in der Straße war ich tatsächlich noch nie gewesen, dabei kannte ich die Gegend hier eigentlich ganz gut.
Ich fand die Straße auch ohne Probleme, sah das Schild von der Bar und bewegte mich darauf zu.
Und dann sah ich ihn. Scheiße, ich hatte eigentlich gedacht ich hätte noch zwei Minuten, um mich irgendwie zu sammeln.
Harry lehnte an der Wand neben der Bar und hatte die Augen geschlossen. Er hatte Kopfhörer in den Ohren, trug eine dunkelblaue Hose und einen schwarzen Pulli, aber er sah einfach nur anbetungswürdig aus.
Scheiße, er löste so viel in mir aus.
Für einen kurzen Moment überlegte ich einfach umzudrehen und abzuhauen, aber als ob er meine Anwesenheit gespürt hätte blickte er plötzlich in meine Richtung und öffnete die Augen. Ein sanftes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, er zog sich die Kopfhörer aus den Ohren und ich schluckte.
Vorsichtig lächelte ich zurück, gab mir einen Ruck und setzte mich auch in Bewegung als er sich von der Wand abstieß und auf mich zukam.
Er blieb vor mir stehen und obwohl ich unglaublich nervös war und fast zitterte fiel mir sofort auf, wie er seine Hände in den Saum seines Pullis krallte und seinen linken Knöchel abknickte. Das hatte er früher schon immer gemacht. Er war mindestens genauso nervös wie ich.
Und wie heute morgen konnte ich nicht anders als ihn genau zu mustern. Scheiße, er sah so unglaublich heiß aus. Und so...erwachsen. Er sah halt einfach aus wie damals nur älter. Und das hatte ihm wirklich gutgetan.
„Äh...hi", meinte er und ich holte tief Luft.
„Hey." Ich zog die Ärmel meines Hoodies über meine Hände und er räusperte sich.
„Wollen wir...wollen wir reingehen?"
Ich nickte nur.
„Ähm. Ok...gut." Er drehte sich um und ich folgte ihm etwas zögerlich in die Bar. Ich war hier noch nie gewesen, generell hatte ich das Gefühl ich kannte diese Seitenstraße nichtmal, aber es war eine wirklich gemütliche Kneipe, mit etwas gedimmtem Licht, zwei Billardtischen im hinteren Bereich und einer beleuchteten Bartheke.
Harry steuerte einen Tisch am Rand an, in einer ziemlich ungestörten Ecke und ich schluckte nochmal als ich mich auf die Bank sinken ließ und Harry sich mir gegenüber auf den Stuhl setzte.
Die ganze Situation war so irreal. Harry. Harry, mein Ex-Freund, von dem ich seit sechs Jahren kein Lebenszeichen mehr gesehen hatte. Saß jetzt vor mir. In einer Bar.
Er fuhr sich durch die Haare und ich konnte nicht anders als auf die vielen Ringe an seinen Händen zu starren. Generell, ich starrte ihn einfach nur an. Zu mehr war ich nicht in der Lage.
„Sollen wir vielleicht-", fing er an und gleichzeitig sagte ich „Also du meintest, du-"
Wir verstummten beide und grinsten etwas awkward (Korrektur: Sehr awkward. Ich glaube, ich war Jahre nicht mehr in einer so unangenehmen Situation gewesen).
Ich bedeutete ihm zu sprechen und er lächelte vorsichtig. „Sollen wir uns erstmal was zu trinken bestellen?", fragte er und ich nickte schnell und nahm die Karte. Jede Ablenkung wäre jetzt gut.
Ich entschied mich schnell für ein einfaches Bier und gab Harry die Karte. Dann zog ich mein Handy hervor und textete Eleanor einfach nur SOS.
Sie schrieb schnell zurück. Allerdings nur mach dich mal locker, Lou. Und sobald ich irgendwen zusammenschlagen soll schreib nochmal.
Ich seufzte und dann kam ein Kellner zu uns an den Tisch.
„Hey Harry, wie geht's dir? Schön dich zu sehen", begrüßte er Harry und ich runzelte die Stirn.
„Hey Jeff!", meinte er und sein Sonnenscheinlächeln erschien auf seinem Gesicht. „Das müsste ich dich fragen, Mann! Du warst schließlich weg. Wie geht es Alicia?"
Das Lächeln von diesem Jeff wurde noch breiter. „Sehr gut", meinte er zufrieden. „Am Anfang gab es ja ein paar Komplikationen, aber sie ist gesund und alles ist super."
Harry lächelte. „Das freut mich."
Ich presste die Lippen aufeinander. Die Situation wurde mit jeder Sekunde einfach nur unangenehmer. Jeffs Blick fiel auf mich, dann sah er wieder zu Harry und Harry sah ebenfalls zu mir.
„Ja, äh, ich hätte gerne ein alkoholfreies Bier", meinte er dann und lächelte Jeff zu. Der runzelte die Stirn. „Bin mit dem Auto da", erklärte er und Jeff nickte, notierte sich was auf seinem Block und sah dann zu mir.
„Äh, ein großes Bier, einfach", sagte ich. „Mit Alkohol." Jeff lachte leise, nickte dann und lächelte.
„Okay, kommt sofort." Und damit verschwand er. Irgendwie war er mir sympathisch. Er hatte ein nettes Lächeln und Harry und er schienen irgendwie befreundet zu sein.
Ich sah zu Harry und der lächelte mich vorsichtig an und sah dann auf seine Finger. Er war definitiv nervös. Sehr nervös.
„Ähm", begann ich dann. „Also...du sagst du..." Ich schluckte, schloss kurz die Augen und sah dann geradewegs in Harrys. „Du sagst du hast keine Erinnerung mehr?"
Harry blinzelte und schüttelte dann den Kopf. Er seufzte. „Also...an nichts bevor...bevor ich achtzehn war."
Ich runzelte die Stirn.
„Aber wie...", begann er. „Vielleicht...vielleicht sagst du mir erstmal...in was...also in was für einer Beziehung du zu mir standest. Also damit ich irgendwie einschätzen kann...also..." Wow, er war wirklich nervös. „Also damit ich in etwa weiß, wie das hier für dich...ist."
Ich schluckte. „Wir äh...", begann ich dann. „Wir waren zusammen." Ich sah ihn nicht an.
„Wir waren zusammen?"
Ich nickte. „Und ich bin heute morgen so ausgerastet, weil...also weil ich die letzten sechs Jahre damit verbracht habe mich zu fragen, warum du von jetzt auf gleich zum größten Arschloch auf der Welt geworden bist und ich mich im ersten Jahr jeden Tag in den Schlaf geweint habe und überall dein Gesicht gesehen habe und komplett am Ende war und-" Ich stockte als ich merkte wie sehr ich mich in Rage redete, ohne wirklich irgendwas zu erklären. Ich seufzte.
„Sorry. Es ist nur...ich hab das Gefühl ich werde verrückt. Letzte Woche habe ich mir sogar eingebildet ich hätte Gemma im Supermarkt gesehen." Ich seufzte und schüttelte den Kopf.
Und dann bemerkte ich Harrys Blick.
„Gemma?", fragte er.
Ich starrte ihn an.
„Oh heilige Scheiße", stieß ich dann leise hervor. Meine Unterlippe begann zu beben und mir stiegen Tränen in die Augen.
„Harry, I swear, wenn du mich hier gerade verarschst, dann bringe ich dich eigenhändig um." Meine Stimme zitterte und Harry griff nach meiner Hand als er merkte, wie sehr er mich mit diesem einen Wort aus der Fassung gebracht hatte. Ich holte tief und zitternd Luft. Einerseits weil Harry verdammt nochmal meine Hand hielt, andererseits weil sein Blick so ehrlich und echt war, dass ich mir wirklich sicher war.
Er wusste es nicht. Er wusste es echt nicht. Er hatte keinen blassen Schimmer.
Ich atmete zitternd durch, schloss dann die Augen und krallte meine Hand in seine. „Gemma ist deine Schwester", brachte ich dann hervor und sah zu ihm auf.
Harry sah mich kurz einfach an. Dann wanderte sein Blick auf den Tisch und er biss sich auf die Unterlippe.
In dem Moment tauchte Jeff mit unseren Getränken auf, aber er schien ein perfektes Gespür für die Situation zu haben und stellte die beiden Gläser ab ohne irgendein Wort zu sagen. Dann war er wieder weg.
Harry drückte meine Hand noch einmal, dann zog er sie weg, um sich mit beiden Händen durchs Gesicht zu fahren.
„Okay, also", begann er. „Von Anfang an." Ich war eh nicht imstande etwas zu sagen. Er griff nach seinem Bier, trank in großen Schlucken etwa die Hälfte und sah mich dann an. „Die erste Erinnerung, die ich habe ist...im Krankenhaus."
Ich runzelte die Stirn.
„Ich bin im Krankenhaus aufgewacht, hatte keine Ahnung wer ich war oder wie ich ins Krankenhaus gekommen bin...ich hatte einfach generell keine Ahnung. Keine Erinnerung. Gar nichts."
Er kratzte sich am Hals und sah seinem Bier beim Rumstehen zu während er weitersprach. „Mein zuständiger Arzt hat mir dann erzählt, dass ich aus einem etwa dreimonatigen Koma aufgewacht bin. Dass ich einen schweren Autounfall hatte. Den ich als Einziger im Auto überlebt habe. Meine Familie, die mit mir im Auto war...ist gestorben. Er hat mir gesagt, dass ich eine Amnesie habe, die entweder irgendwie durch irgendetwas vielleicht wieder rückgängig gemacht werden kann...oder eben auch...nicht." Harry malte mit seinem Zeigefinger Muster auf das beschlagene Glas. „Und ich wusste ich sollte mich eigentlich...also ich sollte traurig sein, am Boden zerstört, schließlich war meine ganze Familie gestorben, aber...also...ich wusste ja nicht mal wie ich heiße." Er blinzelte, fuhr sich über die Augen. „Der Arzt hat mir erzählt, dass ich anscheinend außer den Personen im Auto keine Familie hatte. Also...man hat anscheinend gesucht, aber niemanden gefunden, meine Großeltern waren tot und meine Eltern hatten wie es aussah keine Geschwister. Es hat sich auch während der gesamten Zeit in der ich im Koma war wohl niemand nach mir erkundet gehabt. Ich hatte also anscheinend keine...Bezugspersonen." Harry kratzte sich an seinem Hals. Ich konnte ihm nur zuhören. Verstehen tat mein Gehirn noch gar nichts.
„Der Arzt meinte dann, man könnte gucken ob man Leute findet, die mich kennen, vielleicht in meinem Geburtsort, aber 1. wusste man ja nichtmal ob ich nicht vielleicht nur da geboren wurde, als Wohnort war nämlich London in meiner Akte eingetragen, und 2. bin ich in Manchester geboren. Und Manchester ist riesig, wie hätte man da Leute gefunden, die mich kennen? Also meinte der Arzt dann ich könnte auch...also...er meinte, es gäbe zwei Möglichkeiten. Ich könnte alles versuchen, um meine Erinnerung zurückzubekommen, sowas wie in Ämtern Dinge erfragen, meine alte Schule rausfinden und so weiter...oder ich könnte einfach...ein neues Leben aufbauen. Beziehungsweise überhaupt ein Leben. So hätte ich dann auch nicht mit Dingen wie dem Schmerz um meine Familie zu kämpfen. Und irgendwie...also...ich meine, ich kannte meine Familie nicht. Und klar, es war irgendwie...eine unglaublich egoistische Entscheidung, weil ich mir nur dachte ich habe bestimmt irgendwo Freunde oder Bezugspersonen, oder...irgendwas, aber..." Harry zuckte mit den Schultern. „Außerdem gab es eh keine Garantie, dass ich meine Erinnerungen wenn ich es versuche wirklich wiederbekommen würde. Es könnte auch immer noch sein, dass ich...egal was ich versuche...mich nie erinnern kann." Er schluckte. „Ich hab mir also einfach ein Leben hier in London aufgebaut. Ich bin in eine kleine Wohnung gezogen, hab mich an der Uni eingeschrieben und die sechs Jahre damit verbracht neue Erinnerungen zu machen."
Ich konnte ihn nur weiter anstarren.
„Allerdings hab ich irgendwie in den letzten Wochen...ich weiß nicht, irgendwas war anders. Ich hatte plötzlich das Gefühl ich muss rausfinden, wer ich war. Also hab ich mich gegoogelt, aber nichts rausgefunden. Dann hab ich Niall, also...Niall ist der Arzt. Er ist inzwischen einer meiner besten Freunde. Jedenfalls hab ich ihn gefragt, ob er mir was über meine Familie sagen könnte und er meinte er würde mal in den Akten von damals nachschauen, aber er hatte sehr viel zu tun diese letzte Woche, deswegen ist er noch nicht dazu gekommen. Ähm. Und plötzlich...also. Ich hab versucht irgendwie Leute zu finden, die mich kennen. Also von früher. Aber ich wusste nicht wirklich wie, bin sogar aus Verzweiflung nach Manchester gefahren, hatte da aber natürlich auch keinen Erfolg und ich hab die Sache fast schon aufgegeben, da...bin ich in dich reingelaufen. Heute Morgen."
Ich schluckte.
Harry schien fertig zu sein mit seiner kleinen Rede. Und ich wusste nicht was ich sagen sollte. Oder was ich denken sollte. Oder was ich fühlen sollte.
Ich starrte Harry einfach nur an und blinzelte.
Er...hatte seine Erinnerung verloren. Er hatte seine gesamte Erinnerung verloren.
Er hatte keine Ahnung wer ich war. Alles was er wusste war, dass ich Louis hieß und sein Ex-Freund war, den er nicht kannte.
„Uhm." Harry räusperte sich. „Also ich...es tut mir Leid, dass ich..." Seine Stimme versagte und er räusperte sich nochmal. „Es tut mir Leid, dass ich dir anscheinend so wehgetan habe. Ich weiß nicht was passiert ist, aber...es tut mir Leid."
Und sein Blick war so aufrichtig und ehrlich und ich konnte die Reue in seinen Augen so klar sehen, obwohl er nichtmal wusste was passiert war, dass ich nichts gegen die Tränen tun konnte.
Ich wischte sie von meinen Wangen und sah dann wie Harry mir seine auf dem Tisch liegende Hand anbot. Ich griff wieder danach und umklammerte seine Finger. Es war anders als früher. Seine Hände waren so...männlich. Groß, stark und er trug diese Ringe.
Aber es fühlte sich trotzdem irgendwie gleich an. Es war immerhin Harry. Und klar, er hatte anscheinend keinerlei Erinnerung an...alles, aber bis jetzt wirkte er...genau gleich. Er redete vielleicht etwas langsamer, aber er lächelte gleich, bewegte sich gleich und seine Hände...lösten das Gleiche in mir aus wie damals.
Ich klammerte meine Hand um seine Finger und wischte mir mit der anderen die Tränen weg. „Sorry", stieß ich hervor und er lächelte nur sanft.
„Schon okay." Seine Stimme war sanft, tief und warm und irgendwie fühlte ich mich...zuhause. Es war schwierig zu beschreiben.
Aber ich hatte Harry sechs Jahre lang vermisst und jetzt war er hier und...und das war einfach zu viel für mich.
Ich brauchte ein paar Minuten und ein paar Schlücke Bier bis ich wieder einigermaßen klar denken konnte.
„Also du...du weißt wirklich gar nichts mehr?", fragte ich komplett dumm nach und Harry schüttelte nur den Kopf.
„Sorry."
„Nein...nein, entschuldige dich nicht, du kannst ja nichts dafür." Wieder sagte ich eine Weile nichts, um mich zu sammeln.
Das Ganze brachte mich dermaßen aus dem Konzept. Ich wusste nicht mehr was ich denken sollte. Vielleicht war jetzt alles anders. Wenn Harry nicht seine Erinnerung verloren hätte...vielleicht wäre dann alles anders gewesen.
Ich holte tief Luft. „Okay." Ich schluckte und bereitete mich emotional auf das vor was jetzt kommen würde. „Was möchtest du wissen?"
Harry zuckte leicht mit einer Schulter. „Was weißt du denn?"
„Alles", meinte ich vorsichtig und trank einen weiteren Schluck. „Ich weiß alles."
Harry lächelte leicht und biss sich auf die Unterlippe. „Dann...vielleicht kannst du bei meiner Familie anfangen?"
Ich nickte und spürte wie sich sein Griff um meine Hand verstärkte. Er hatte Angst. Verständlicherweise.
„Also...du bist hauptsächlich mit meiner Mutter und deiner Schwester aufgewachsen. Deine Eltern haben sich relativ früh nach deiner Geburt getrennt und hatten nie wirklich ein gutes Verhältnis zueinander. Du hast deinen Vater kaum gesehen, vielleicht einmal in drei Jahren oder so. Deine Mutter..."
Ich stockte als mir klarwurde, dass Harrys Mutter tot war. Scheiße. Das hatte ich noch gar nicht realisiert. Genau wie Gemma. Und vermutlich sein Stiefvater. Ich holte rasselnd Luft und zwang mich weiterzusprechen auch wenn es mir schwerfiel.
„Deine Mutter hieß Anne. Und du hast sie wirklich geliebt. Ihr standet euch sehr nahe. Sie hat dann irgendwann wieder geheiratet. Und auch mit deinem Stiefvater, der hieß Robin...hast du dich sehr gut verstanden. Ihr standet euch auch sehr nahe. Genau wie du und deine Schwester. Gemma war vier Jahre älter, aber ihr habt euch immer gut verstanden, ihr hattet eine sehr enge Beziehung zueinander. Gemma ist auch nicht ausgezogen, bis du mit deinen A-Levels fertig warst. Also...das wollte sie nie. Ich hab nicht mitgekriegt wie..." Ich holte tief Luft. „Okay, vielleicht sollte ich wirklich erst mal mit unserer Beziehung zueinander anfangen. Dann verstehst du vielleicht...alles ein bisschen besser."
Harry sah mich nur an und nickte vorsichtig, auch wenn seine Augen einen traurigen Ausdruck angenommen hatten.
„Wir...ähm. Wir waren beste Freunde. Also, so richtig beste Freunde. Wir waren zusammen im Kindergarten, ich bin sogar ein Jahr später eingeschult worden, um ein Jahr länger bei dir zu sein, weil ich zwei Jahre älter bin. Dann waren wir zusammen auf der Grundschule und dann zusammen auf der weiterführenden Schule. Als ich fünfzehn und du dreizehn warst haben wir uns zum ersten Mal geküsst. Wir hatten zwar beide mal für etwa einen Monat eine Freundin, aber eigentlich war schon immer irgendwie klar, dass wir zusammenkommen würden." Ich schluckte. „Und das sind wir dann. Ich war siebzehn und du sechzehn. Ich hab meine A-Levels gemacht und bin für das Jahr in dem du noch zur Schule gegangen bist schon nach London gezogen. Ich bin jedes Wochenende zu dir gefahren. Eigentlich wolltest du zu mir ziehen. Aber dann sollte ich an einem Wochenende, nachdem du gerade deine A-Levels bestanden hattest mal nicht kommen, weil du meintest deine Familie und du müssten irgendwohin. Und dass es eine Überraschung wäre." Ich schluckte. Jetzt kam der schwere Teil. „Und dann hast du mich irgendwann plötzlich angerufen. Die Verbindung war wirklich schlecht. Alles was ich verstehen konnte waren Gesprächsfetzen wie ‚Du und ich', ‚ich kann dich nicht mehr lieben' und irgendwas mit ‚ist jetzt vorbei'. Und dann war die Verbindung ganz weg. Und ich war mir ziemlich sicher, dass du gerade mit mir Schluss gemacht hattest. Aber ich wusste es natürlich nicht hundertprozentig, schließlich hab ich dich total schlecht verstehen können. Also hab ich ungefähr dreizehn mal versucht dich wieder anzurufen, aber es kam immer nur ‚dieser Teilnehmer ist aktuell nicht verfügbar'. Egal bei wem von deiner Familie ich es versucht habe, niemand ist rangegangen. Ich konnte euch nicht erreichen. Als ich dann nach Hause zu meiner Familie gefahren bin, um dich persönlich zu sehen war euer ganzes Haus leergeräumt. Angeblich seid ihr umgezogen. Meine Mutter wusste aber nicht wohin. Das heißt ich hatte keinerlei Anhaltspunkt was irgendwie los war, keine Möglichkeit wie ich dich erreichen konnte und irgendwann, nach einem halben Jahr war deine Nummer neu vergeben. Ich..." Ich schluckte und spürte wie ich schon wieder weinen musste. „Du hast also mit mir Schluss gemacht, ich konnte dich nicht erreichen und dann warst du einfach wie...verschwunden. Du hast mich einfach geghostet. Und zwar nach allen Regeln der Kunst." Ich machte eine Pause.
„Zumindest...dachte ich das immer." Eine Idee, ein dummer Einfall entstand in meinem Kopf und ich runzelte die Stirn.
Was wenn...was wenn Harry in Wirklichkeit gar nicht mit mir Schluss gemacht hatte? Das hatte sich aus den Gesprächsfetzen schließlich nur erahnen können. Ich war immer davon ausgegangen, dass er einfach absichtlich alle Möglichkeiten ihn zu kontaktieren danach irgendwie geblockt hatte, weil er nunmal mit mir Schluss gemacht hatte. Ich hatte ihn schließlich nirgendwo erreichen können. Ich hatte das immer als Bestätigung angesehen. Dass er sich wirklich von mir getrennt hatte.
Aber was wenn...was wenn er einfach nur...
Ich traute mich gar nicht den Gedanken zu Ende zu denken.
Stattdessen sah ich auf, in Harrys grüne Augen, in denen jetzt auch Tränen standen.
„Es tut mir so Leid", flüsterte er und ich nickte nur.
„Nein, wirklich. Es tut mir so Leid, dass du das durchstehen musstest." Er stand von seinem Stuhl auf, setzte sich neben mich auf die Bank und sah mich fragend an. Ich nickte nur und er umarmte mich vorsichtig. Ich schlang eng meine Arme um seinen Hals, drückte ihn an mich, heulte gegen seine Schulter und es fühlte sich einfach nur so unbeschreiblich gut an in seinen Armen zu liegen. Nach so langer Zeit.
„Es tut mir Leid, was du durchstehen musstest", flüsterte ich zurück. „Ich hatte nur Liebeskummer. Du...musstest durch was ganz anderes gehen."
Harry löste sich ein Stück von mir und schüttelte den Kopf. „Louis...ich weiß das klingt jetzt vielleicht komisch, aber...es war nicht so schlimm. Ich erinnere mich ja an nichts. Ich meine, klar war es schwer und natürlich ist es komisch irgendwie...niemand zu sein und ich verstehe immer noch nicht so richtig wie das Ganze funktioniert - ich meine, ich weiß was Handys sind, was Stühle sind, ich weiß was England ist, was die Welt ist, ich weiß alles nur nichts aus meinem Leben? Wie meine Schwester heißt, wo ich aufgewachsen bin...das ist doch komisch..." Er seufzte. „Aber...aber es ist nicht so schlimm, weil ich nunmal keine Erinnerungen habe. Es wird viel schlimmer, falls ich sie jemals zurückkriege. Dann werde ich um meine Familie trauern. Dann werde ich wissen wer ich bin und es wird bestimmt komisch sein, weil ich nunmal diese sechs Jahre keine Ahnung hatte. Es hätte ja auch sein können, dass ich meine Familie nicht ausstehen konnte. Dass ich als Kind geschlagen worden bin. Oder Teil irgendeiner Mafia-Gruppe war. In dieser Ungewissheit zu leben ist auch schwierig, klar. Aber ich hab ein tolles Leben. Das was ich durchstehen musste wird aber erst dann wirklich richtig schwer...wenn ich meine Erinnerungen wiederkriege."
Ich sah ihn stumm an. „Denkst du, das wirst du irgendwann?", flüsterte ich.
Er sah mir tief in die Augen. Dann sah ich ihn schlucken. „Ich denke, du bist der Schlüssel."
„Was?" Ich runzelte die Stirn. „Warum?"
Harry lächelte traurig. „Weil ich in deine Augen sehe und das Gefühl habe, ich bin zuhause."
Ich war sprachlos.
Ich holte zitternd Luft.
Ich senkte den Blick.
Harry lächelte und setzte sich dann zurück auf seinen Stuhl, aber er nahm wieder meine Hand und verschränkte vorsichtig unsere Finger.
„Ich weiß nicht, warum ich damals mit dir Schluss gemacht habe", sagte er dann leise. „Ich meine, ich werde meine Gründe gehabt haben, aber ich denke nicht..." Er schluckte wieder. „Aber ich kann dir sagen, dass du mir wohl ziemlich viel bedeutet haben musst. Und es tut mir wirklich Leid."
Ich biss mir auf die Unterlippe, trank einen Schluck von meinem Bier und holte dann Luft. „Weißt du, ich...mir ist da so ein Gedanke gekommen", meinte ich und Harry sah mich aufmerksam an.
„Ja?"
Ich wippte nervös mit meinem Bein auf und ab. „Vielleicht hast du ja gar nicht...also vielleicht hast du ja...gar nicht mit mir Schluss gemacht." Ich sah ihn an. „Ich meine...ich hab die Tatsache, dass ich dich nicht erreichen konnte immer so verstanden, dass es einfach vorbei war. Aber...aber vielleicht konnte ich dich einfach nicht erreichen, weil du im Koma lagst. Und deine Familie..." Ich schluckte nochmal. Der Tod von Gemma, Anne und Robin nahm mich auch ziemlich mit. „Tot war. Ich meine, ich hab mich eh immer gefragt warum du von jetzt auf gleich mit mir Schluss gemacht hast. Wir waren glücklich, weißt du? Wir wollten zusammen ziehen, wir waren Harry und Louis. Das Traumpaar. Und dann..." Ich sah in seine Augen, die mich aufmerksam musterten. „Es besteht die Möglichkeit, dass du nicht mit mir Schluss gemacht hast. Und ich sechs Jahre lang...umsonst...also..." Ich fand keine Worte.
Harry musterte mich nur nachdenklich.
„Das werden wir wohl nicht wissen, solange ich meine Erinnerungen nicht habe."
„Und du denkst, die kriegst du mit meiner Hilfe wieder?"
„Ich denke, mit deiner Hilfe würde ich meine Erinnerungen wiederbekommen", bestätigte Harry und sah mich dann lange an, ohne etwas zu sagen.
„Jetzt gibt es nur noch zwei Fragen. Erstens: Wärst du bereit mir dabei zu helfen mich zu erinnern?" Er schluckte.
„Und zweitens...", begann er.
„Willst du deine Erinnerungen wirklich wiederhaben?", beendete ich.
Er nickte. „Das ist die Frage."
to be continued...
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ok ähm...es kann noch dauern bis der zweite teil kommt. ich wollte diesen teil zwar eigentlich erst hochladen, wenn der zweite fast fertig ist, aber es ist jetzt schon ein paar tage her, dass ich den geschrieben habe...und ich kann irgendwie nicht mehr warten haha
also. ich hoffe es hat euch gefallen und ihr seid gespannt auf die fortsetzung.
💕
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