amnesia II | larry

recap von teil 1, weil es schon lange her ist (sorry dafür übrigens...wer will kann sich natürlich den ersten teil auch einfach nochmal durchlesen):

louis lebt seit sechs jahren mit gebrochenem herzen, weil sein bester freund und große liebe harry aus dem nichts mit ihm schluss gemacht und ihn nach allen regeln der kunst geghostet hat - denkt louis. dann trifft er genau diesen harry plötzlich auf der straße - der kann sich aber an nichts mehr erinnern, was passiert ist bevor er achtzehn war. die beiden treffen sich in einer bar, um etwas ausführlicher über die sache zu sprechen, vor allem weil louis harry noch nicht so richtig glaubt. es stellt sich heraus, dass harry einen autounfall hatte, mit seiner ganzen familie, er war der einzig überlebende, hat aber sein gesamtes gedächtnis verloren. erst hatte er sich entschieden nicht zu versuchen seine erinnerungen wiederzukriegen, sich in den letzten wochen aber doch auf die suche gemacht. louis scheint eine möglichkeit zu sein sich zu erinnern. für beide ist das gespräch sehr schwer, vor allem louis weiß kaum wie er fühlen soll. und...ja das ist ungefähr where we left off...

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„Woah." Liam, Eleanor und Maya sahen mich komplett geflasht an. Die drei hatten es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und ich saß vor ihnen auf dem Boden.

„Du...woah."

„Krass."

„Ich komm nicht klar." Eleanor blinzelte überfordert und ich lachte nur leise auf.

„Ja. So geht's mir auch."

„Harry weiß nichts mehr. Gar nichts?", fragte Maya.

Ich schüttelte den Kopf. „Gar nichts", hauchte ich und vergrub seufzend mein Gesicht in meinen Händen.

„Und du...wirst dich jetzt die nächsten Wochen über mit ihm treffen und versuchen ihm seine Erinnerungen irgendwie wiederzuholen?", wiederholte Liam das was ich vor einer halben Minute gesagt hatte.

Ich nickte. „Ja."

„Ist das auch wirklich eine gute Idee?", fragte Eleanor vorsichtig und ich seufzte nur laut auf.

„Was weiß ich? Ey, keine Ahnung." Kurz vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen. „Ich weiß nur, dass ich...dass ich gar nicht anders könnte."

Die anderen drei sagten nichts.

„Ich meine...after all...es ist Harry. Harry, mein Harry. Und ich..." Ich seufzte wieder und schluckte. „Abgesehen davon...was ich alles fühle wenn er in meiner Nähe ist, auch wenn er sich an nichts erinnern kann...irgendwie bin ich es ihm auch schuldig, oder?"

„Was?" Liam sah mich verwirrt an. „Louis, du bist ihm rein gar nichts schuldig. Er hat dich verlassen. Du hast seinetwegen sechs Jahre lang mit Liebeskummer gelebt und jetzt denkst du, du bist ihm was schuldig?"

Ich schluckte wieder. „Liam, er lag drei Monate im Koma, ist aufgewacht und wusste gar nichts mehr. Seine Familie ist gestorben..." Meine Stimme zitterte als ich das sagte. „...und es hat sich niemand nach ihm erkundigt. Ich weiß, er sagt, das, was er durchstehen musste war nicht schwer, aber er muss sich so schrecklich alleine gefühlt haben. Und auch wenn er mit mir Schluss gemacht hat...hätte ich für ihn da sein sollen."

„Louis." Mayas Stimme war sanft. „Du wusstest nichts davon. Du dachtest einfach er hätte dich überall blockiert und geghostet und wer kann dir das verübeln? Es ist nunmal auch viel wahrscheinlicher als...als dass jemand wirklich im Koma liegt. Ich meine, was für eine Telenovela-Situation ist das denn bitte?"

Ich lächelte sie nur leicht an.

„Ich..." Ich stockte und schloss die Augen. „Dazu kommt ja noch, dass ich gar nicht weiß...also...ob er wirklich mit mir Schluss gemacht hat."

Ich sah zu Liam auf und sein Blick war komplett verwirrt. „Wie jetzt? Du weißt es nicht?"

„Na ja, du weißt ja wie er mit mir Schluss gemacht hat. Und wie schlecht die Verbindung war. Und dass ich mir damals gar nicht sicher war, aber als er dann auf keine Anrufe und so reagiert hat ich das halt als Bestätigung genommen habe?"

Liam nickte.

Ich schluckte. „Na ja. Was wenn er nicht geantwortet hat, weil er im Koma lag? Und seine Familie tot war?"

Darauf wusste Liam auch nicht was er sagen konnte.

Eine Weile schwiegen wir alle vor uns hin, dann stand ich seufzend auf. „Ich mache Tee, will noch jemand was?"

Die Anderen schüttelten den Kopf, anscheinend alle in Gedanken versunken und ich konnte in der Küche verschwinden. Was gut war. Denn ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich fühlen sollte. Mein Gehirn und vor allem mein Herz waren komplett überfordert.

Scheiße, wie sollte ich es denn die nächsten Wochen überstehen Harry immer wieder zu sehen, wenn es mich so aufwühlte?

_____

„Wo fangen wir an?", fragte Harry voller Tatendrang und lächelte mir zu. Sein Lächeln hatte sich kein Stück verändert. Kurz musste ich mich zusammenreißen ihn nicht einfach zu küssen.

Aber er wusste nicht mal wirklich wer ich war. Er wusste ja nicht mal wer er selbst war.

Also holte ich nur tief Luft und nickte. „Ja, ähm...ich hatte gedacht vielleicht...vielleicht helfen Fotos?"

Es war komisch ihn in meiner Wohnung zu sehen. Es warf mich ziemlich aus der Bahn. Als er eben vor meiner Tür gestanden hatte, als er reingekommen war, als er seine Mütze von seinem Kopf gezogen hatte, als er seine Schuhe von seinen Füßen gestreift hatte, wie er sich aufs Sofa gesetzt hatte...all das hatte sich irgendwie angefühlt wie ein weiterer Schlag in den Magen.

So hatte es vor sechs Jahren sein sollen. Harry hatte mich nur ein paar Mal in London besucht, weil er so viel mit der Schule zu tun gehabt hatte, dass ich immer zu ihm gefahren war. Schließlich konnte ich dann auch meine Familie sehen und so. Aber die paar Mal, die er da gewesen war hatten wir uns in meinem Bett aneinander gekuschelt und unsere kalten Füße aneinander aufgewärmt und geplant wie wir die Wohnung gestalten würden wenn er endlich zu mir ziehen würde und...

Und dann war es mit uns vorbei gewesen. Und nach dem ersten Jahr Liebeskummer hatte ich dann Liam kennengelernt. Und er hatte eh einen Mitbewohner gesucht. Es hatte einfach gepasst.

Aber trotzdem war Harry jetzt hier. Zwar nicht in der Wohnung von damals, aber immerhin in meinem Appartement in London.

Liam war bei Maya. Kurz hatte ich schon Angst gehabt er würde so neugierig über Harry sein, dass ich ihn nicht aus der Wohnung kriegen würde, aber Liam war mein bester Freund und wusste, dass er stören würde.

„Ja, das...das klingt doch gut." Harry lächelte vorsichtig und ich atmete tief durch und nickte. Ich war völlig neben der Spur. Immer noch.

„Okay." Ich saugte die Innenseite meiner Wange zwischen meine Zähne. „Ähm...ich mach mir noch einen Tee...trinkst du-" Ich stockte, weil ich ihn fast gefragt hätte ob er seinen Tee noch so trank wie früher...aber das wusste er nunmal selbst nicht. „Wie trinkst du Tee?"

„Äh..." Er schluckte und verschränkte seine Hände. „Hast du auch...Kaffee?"

Etwas ernüchtert schluckte ich. „Ja. Ja, hab ich, mein Mitbewohner ist ein richtiger Kaffeefreak." Ich lachte leise, die Situation war immer noch komisch. Also drehte ich mich um, blieb aber in der Tür nochmal stehen. „Du...trinkst du keinen Tee?", fragte ich.

Er sah zu mir hoch, löste seine Hände wieder, schob eine Hand in seinen Nacken und massierte seine verspannten Muskeln. „Nicht wirklich", meinte er dann. „Also...ich hab es halt irgendwie...noch nie so richtig ausprobiert? Denke ich?"

Ich nickte nur und verschwand in der Küche.

Er war immer noch unsicher. Die Stimmung zwischen uns war extrem komisch. Und ich hatte so eine riesige Sehnsucht nach ihm.

Ich wollte mich einfach nur in seine Arme werfen, mich von ihm halten lassen und seinen Geruch tief einatmen. Das in der Bar hatte sich so gut angefühlt. Er roch sogar wie damals. Was absolut keinen Sinn ergab, er benutzte bestimmt nicht mehr die gleichen Pflegeprodukte oder was auch immer, aber trotzdem war der Geruch irgendwie...der gleiche. Ich war so zu ihm hingezogen. Wie sollte ich mich denn bitte zurückhalten wenn ich ihn jetzt öfter sah?

Ich machte mir einen Tee und griff dann zu einer weiteren Tasse, um sie in Liams Kaffeemaschine zu stellen. Doch ich zögerte und biss mir auf die Unterlippe. Vielleicht könnte ja ein Geschmack von früher auch irgendwie helfen seine Erinnerungen wiederzubekommen?

Also machte ich ihm einen Tee. Einen Tee so wie damals immer, Earl Grey mit einem Schuss Milch und zwei Stück Zucker. Ich ging mit beiden Tassen zurück ins Wohnzimmer und stellte sie vor Harry ab, der mich dabei nur beobachtete und auf seiner Unterlippe herumkaute.

„Du kannst natürlich einen Kaffee haben wenn du willst", sagte ich. „Aber ich hab dir mal genauso einen Tee gemacht, wie du ihn früher immer getrunken hast. Ich dachte vielleicht..." Ich holte tief Luft. „Vielleicht...hilft das ja auch..."

Als ich zu Harry sah legte sich nur ein liebevolles Lächeln auf sein Gesicht und er nickte. „Vielleicht funktioniert das ja wirklich."

„Ja, ich äh..." Die Situation war immer noch komplett komisch und ich wusste einfach nicht wie ich mich entspannen sollte. In der Bar hatte das doch auch einigermaßen geklappt, warum ging es jetzt nicht? „Ich geh mal die Fotos holen."

Harry nickte und ich verschwand aus dem Zimmer. Liam hatte mich oft schon fast gedrängt, die Fotos mal wegzuschmeißen („weil Harry nunmal ein Arschloch ist, dem du nicht mehr hinterher weinen sollst, wenn er deinen Wert nicht sieht, dann fuck him"), aber ich konnte es nie übers Herz bringen. Und jetzt erwies sich das als ziemlich praktisch.

Ich hatte nicht viele Fotos hier, die meisten waren in meinem alten Zimmer bei meiner Familie, aber ich hatte einige mitgenommen. Vor allem weil Harry und ich ja noch zusammen gewesen waren als ich ausgezogen war.

Ich hatte die Kiste jahrelang in der hintersten Ecke meines Kleiderschrankes verbannt, aber gestern hatte ich sie rausgeholt und auf meinem Schreibtisch gestellt, weil Harry nunmal heute vorbeikommen würde.

Allerdings hatte ich mich nicht getraut sie zu öffnen. Ich hatte zu viel Angst vor meinen eigenen Gefühlen gehabt.

Ich griff nach der Box und strich sanft über den Deckel. Dann atmete ich tief durch, hob sie hoch und ging damit ins Wohnzimmer, wo Harry gerade in den Tee pustete, damit er kälter wurde. Ich blieb im Türrahmen stehen.

„Hey", sagte ich, warum auch immer, schließlich hatten wir uns vor zehn Minuten schon begrüßt.

Er sah so gut aus.

Er blickte zu mir auf und ein sonniges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Zum ersten Mal wirkte es nicht angespannt, sondern aufrichtig. „Hey", sagte er zurück und ich ging auf ihn zu und setzte mich neben ihn, im Schneidersitz, sodass ich ihn ansehen konnte. Die Box stellte ich vor mich zwischen uns. Kurz sagte ich nichts, bis mir auffiel wie komisch das war. „Ja also...", begann ich dann und räusperte mich. „Hier...hier sind ein paar Fotos."

Ich klopfte auf die Kiste, machte aber keine Anstalten sie zu öffnen. Harrys Blick senkte sich auf die blaue Pappe und auch er schien sich erstmal sammeln zu müssen.

Ich verstand ihn. Das hier war schließlich seine Vergangenheit. Seine Vergangenheit, die er vergessen hatte. Es waren Erinnerungen, die er nicht mehr hatte. Ich konnte mir nicht mal vorstellen wie merkwürdig sich das anfühlen musste.

Er pustete nochmal in den Tee, lächelte mich an und stellte ihn dann auf den Tisch.

„Bereit?", fragte ich und er nickte. Ich zog mit zitternden Händen den Deckel der Kiste ab. Dass ich die Luft anhielt fiel mir gar nicht auf.

Es waren nicht nur Fotos in der Kiste. Das meiste waren Fotos, aber es lag auch ein USB-Stick und ein paar andere Dinge in der Kiste, wie zum Beispiel ein Armband. Das Armband.

Harry legte den Kopf schief und ich hatte schon Panik, aber er griff nicht danach, sondern nur nach einem Stapel Fotos.

Ich sah mit ihm zusammen auf das erste und lächelte sanft. Es war ein Foto von Harry und mir, vielleicht zehn und acht Jahre alt, wie wir zusammen im Gras saßen und Blumenketten flochten. Ich erinnerte mich noch, ich wollte es lernen, um meiner Schwester eine zum Geburtstag zu schenken, also hatte Gemma es uns gezeigt und dann hatten Harry und ich stundenlang dort gesessen.

„Das war bei euch im Garten", erklärte ich.

„Bei uns?"

Ich nickte. Harry blickte auf das Foto und eine Falte erschien auf seiner Stirn.

„Irgendwas?", fragte ich und er schüttelte nur seufzend den Kopf. Ich konnte seine Enttäuschung sehen. Aber es war ja auch nur ein Foto. Und erst der Anfang.

Er blickte das Foto eine Weile an, dann ging er zum nächsten im Stapel. Es war ein Foto aus der Zeit in der wir schon zusammen waren. Wir saßen mit einer Gruppe Freunde im Park, viele mit einer Flasche Limonade in der Hand und ich saß schräg auf Harrys Schoß. Alle sahen in die Kamera (Phil hatte irgendwas gesagt wie „sagt alle Spagetti mit Tomatensauce" oder so einen Unsinn), nur wir beide waren irgendwie abgelenkt.

Ich liebte das Bild.

„Waren das unsere Freunde?", fragte er und ein kleines Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Also...also auch meine Freunde?" Ich nickte.

„Hier, das ist Luke", sagte ich und zeigte auf den blonden Jungen. „Und das Josh, das hier Sierra und der braunhaarige ist Sandy." Ich sah wie Harry das Bild musterte und seufzte fast. „Und dieses Mädchen ist Carla."

Harry strich mit seinem Daumen über die einzelnen Gesichter und ich konnte nicht anders als ein bisschen an ihn ranzurücken. Ich wusste nicht ob es so tröstend war wie ich wollte, aber er warf mir einen kurzen Blick zu und lächelte.

Dann ließ er langsam Luft entweichen. „Nichts", sagte er schulterzuckend und resigniert, bevor er das Bild weglegte und das nächste ansah.

Es war ein Bild mit Gemma. Sie hatte uns beide jeweils unter einem Arm und grinste, während Harry und ich etwas gequält versuchten ihrer schmerzhaften Umarmung zu entkommen.

Harry schluckte. „Und wer ist das?"

„Das ist Gemma", hauchte ich.

„Meine Schwester?" Harrys Stimme wurde ebenfalls immer leiser.

Ich nickte. „Ja."

Er starrte das Foto eine Weile an. Ich merkte wie sein Gesichtsausdruck immer frustrierter wurde. Er fuhr sich durch die Haare und ging dann schnell zum nächsten Bild.

Es waren wir beide, bei Harrys Einschulung. Ich hatte brüderlich meinen Arm um ihn gelegt und Harry grinste mit Zahnlücke im Mund und Schultüte in der Hand in die Kamera.

Wir sahen uns noch zwei weitere Bilder an, auch die erweckten bei Harry nichts, keine Erinnerung, gar nichts, dann kamen wir zu einem Bild bei dem mein Herz sich kurz zusammenzog.

„Das..." Ich brauchte eine Sekunde. „Das war unser erstes Foto als Paar. Als wir zusammengekommen sind hast du Mum quasi genötigt sofort ein Foto zu machen."

Meine Mutter hatte damals nur gelacht, uns gratuliert und dann einen Moment eingefangen, indem Harry wahrscheinlich irgendetwas dummes gesagt hatte, denn er grinste in die Kamera und ich sah ihn nur liebevoll von der Seite an. So ganz nach dem Motto ‚er ist ein Idiot, aber er ist endlich mein Idiot'.

„Wir sehen glücklich aus", sagte Harry nach einer Weile leise und ich spürte wie er seinen Blick hob und mich ansah, aber ich konnte nur weiterhin auf das Foto blicken.

„Ja", flüsterte ich dann. „Das waren wir auch."

Harry schien spüren zu können wie schwierig das für mich war, also ging er schnell zum nächsten Foto.

Das machte es allerdings nicht besser.

Ich hielt die Luft an.

Es war ein Kussfoto. Bei meinem Abschluss. Ich hatte mein Zeugnis und die Blume, die wir alle bekommen hatten in einer Hand und trug zwar schwarze Jeans, aber ein Hemd und ein Sakko. Harry hatte ebenfalls ein Hemd an, die Ärmel hochgekrempelt, was immer noch unsagbar heiß aussah (Himmel, heute würde es sogar noch heißer aussehen). Er hatte seine Arme um meinen Hals geschlungen und drückte sich an mich. Obwohl wir uns küssten konnte man sehen wie breit wir beide dabei lächelten.

Verdammt, an dem Tag war ich so glücklich gewesen. Endlich mit der Schule fertig, also endlich frei und mit Harry zusammen. Mehr wollte ich doch gar nicht.

Eigentlich immer noch nicht.

Harry sah mich von der Seite an und legte dann sanft eine Hand auf mein Bein. „Wir...wir müssen uns das jetzt auch nicht ansehen", sagte er leise, aber ich schüttelte den Kopf. „Ist schon okay."

Harry sah skeptisch aus, aber ich nickte nachdrücklich. „Wirklich."

„Okay."

„Klingelt denn irgendwas bei dir?", fragte ich und ich sah in seinem Blick, wie Leid es ihm tat, als er zaghaft den Kopf schüttelte. Ich lächelte nur und griff dann nach dem USB-Stick in der Box.

„Ich hab auch Videos", sagte ich und griff nach meinem Laptop, der neben uns auf der Couch lag. „Vielleicht...vielleicht hilft das ja eher."

Harry nickte langsam. Ich sah, dass er wieder nervös war. Er hatte Angst mich zu enttäuschen. Ich legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter und suchte seinen Blick.

„Hey. Harry."

Er sah mich an.

„Du kannst nichts dafür, okay?"

Er nickte langsam. Und blickte dann einfach auf den Bildschirm meines Computers. Ich unterdrückte ein Seufzen, startete den Laptop und steckte den Stick ein.

Die Videos waren nur mit Nummern betitelt, deshalb hatte ich keine Ahnung welches welches war. Ich wusste, dass einige noch aus unserer Kindheit waren, als ich immer die Digitalkamera meiner Mum benutzt hatte, um Videos zu machen, aber die meisten waren wohl mit unseren alten Handys aufgenommen worden, vor allem Harry hatte immer mal wieder Videos gemacht, um Momente festzuhalten. Ich hatte oft darüber die Augen verdreht, aber im Endeffekt waren die meisten Videos wirklich schöne Erinnerungen.

Beziehungsweise seit Harry mich verlassen hatte schmerzhafte Erinnerungen.

Ich fuhr mit der Maus zu irgendeiner zufälligen Datei.

In dem Moment in dem das Video anfing, bereute ich es darauf geklickt zu haben. Nein. Nicht dieses hier. Wieso hatte es nicht das sein können nachdem Harry seinen Führerschein bestanden hatte? Oder eins von einem Geburtstag? Oder...irgendein anderes Video nur nicht dieses hier.

Man sah den siebzehnjährigen Harry, wie er in die Kamera grinste und sie dann links von sich so hielt, dass man auch mich sehen konnte. Beziehungsweise mein neunzehnjähriges Ich.

Wir lagen im Bett und ich sah zur Kamera, um dann die Augen zu verdrehen und den Kopf zu schütteln. „Machst du schon wieder ein Video?"

Harry nickte nur und lächelte zu mir rauf. Ich lag quasi auf seiner Brust, mein Kinn auf meinen Händen abgestützt, Harry in die Kissen gelehnt, sodass er mich ansehen konnte. „Irgendwann bist du mir noch dankbar, dass ich Momente wie diese als Erinnerungen festhalte."

Ich verzog das Gesicht als ich das hörte. That didn't age well.

„Außerdem will ich einfach für immer die Möglichkeit haben zu sehen wie du mich ansiehst. Ich brauche Beweise."

„Für wen?", fragte 19-jähriger Louis und Harry fuhr mit seiner freien Hand in dessen Haare.

„Für mich. Damit ich auch in zwanzig Jahren noch sehen kann wie du mich ansiehst als wäre ich das Wichtigste auf der ganzen Welt."

„Glaubst du wirklich das kommt auf einem Video rüber?", fragte Louis und ich seufzte innerlich. Ja Louis, dachte ich. Es kommt rüber. Viel zu deutlich. Man sieht ganz genau wie sehr du den Jungen unter dir liebst. „Statt in zwanzig Jahren ein Video anzugucken, kannst du auch einfach zum echten Louis gucken."

„Was wenn du mich verlässt?" Harrys Stimme war leise, aber sein Handy damals schien ein gutes Mikrofon gehabt zu haben, denn man verstand es trotzdem. „Dann kann ich nicht einfach zum echten gehen."

Der Louis von damals seufzte und lächelte. Dann zog er sich etwas höher, sodass sein Gesicht über Harrys schwebte und strich ihm sanft die Haare aus der Stirn. „Keine Chance, Baby", sagte er. „Ich werde dich nicht verlassen. Niemals. Ich liebe dich über alles."

Harry lächelte und reckte sein Kinn ein Stück hoch. „Ich liebe dich auch."

„Trifft sich gut", grinste Louis, seine Augen schon auf Harrys Lippen und dann küssten die beiden sich.„Und jetzt hör auf zu filmen", meinte Louis zwischendrin, küsste Harry weiter und versuchte mit einer Hand nach dem Handy zu greifen. Der Bildschirm wurde schwarz.

Mein Herz lag jetzt endgültig in Scherben.

Fuck, ich konnte das nicht machen. Ich konnte Harry doch nicht dabei helfen seine Erinnerungen wiederzubekommen, wenn es mir so wehtat.

„Sorry, Harry, ich muss kurz..." Ich sprang auf, griff noch alibimäßig nach meiner Tasse und verschwand in der Küche. Dort holte ich nur tief Luft und versuchte runterzukommen. Ich spürte wie Tränen in meine Augen traten und seufzte. Zu sehen wie sehr wir uns geliebt hatten, zerriss mein Herz gleich nochmal.

Ich hätte ihn wirklich niemals verlassen.

Und trotzdem befanden wir uns jetzt in der Situation, dass einer von uns über diese beschissenen Videos weinte.

Eine Weile lehnte ich einfach nur an der Heizung und starrte aus dem Fenster. Eine einsame Träne lief meine Wange hinunter. Kurz fragte ich mich, warum das Ganze so schwer für mich war, aber die Antwort war simpel.

Harry war die Liebe meines Lebens, er erinnerte sich nicht an mich und eigentlich hatte ich immer noch Liebeskummer, weil er mich verlassen hatte.

Das war nunmal keine leichte Situation. Fuck.

Ich wischte die Träne weg und trank den letzten Schluck Tee, dann stellte ich die Tasse auf das Fensterbrett vor mir.

Nach einigen Minuten hörte ich hinter mir ein Klopfen und fuhr herum. Harry stand im Türrahmen und sah mich mit einem vorsichtigen Lächeln an.

Ich seufzte und lächelte zurück.

„Der Tee schmeckt vertraut", sagte er und ich musste mich zusammenreißen nicht wieder zu weinen.

Als er ein paar Schritte auf mich zukam stieß ich mich ebenfalls von der Heizung ab und ging ihm entgegen. Meine Finger verzehrten sich danach ihn einfach nur zu berühren. Meine Hände sanft unter seinen Pullover fahren zu lassen und über seine weiche Haut zu streichen.

Erst als er vor mir stand entdeckte ich das Armband in seinen Händen. Er musste es aus der Box genommen haben.

Ich nahm es ihm bedächtig aus der Hand und drehte das Metallplättchen so, dass ich die Gravur sehen konnte. 1:38:36. Ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht.

Eine Weile spürte ich Harrys Blick auf mir. „Was bedeutet das?", fragte er dann flüsternd.

„Das hab ich mich damals auch gefragt." Ich lachte leise, dann schluckte ich. „Dein Lieblingsfilm war immer the Notebook", sagte ich und sah zu ihm. „Und äh...die Zahlen stehen für die Zeit. Wenn du in dem Film zu einer Stunde, 38 Minuten und 36 Sekunden gehst, dann sagt Noah ‚because I want you. I want all of you, forever, everyday.'" Ich zuckte mit den Schultern. „Und du meintest...das ist wie du für mich fühlst."

Harry sah von dem Armband auf in mein Gesicht. Seine Lippen standen leicht auseinander und sein Gesichtsausdruck war ernst.

„Du hast es mir zum Einjährigen geschenkt", flüsterte ich, blickte wieder auf das Armband und strich sanft über die Zahlen.

Kurz war Stille.

„Ich muss dich ziemlich geliebt haben", flüsterte Harry dann und ich sah doch wieder hoch in seine grünen Augen.

Sie waren so vertraut und es tat mir in dem Moment so weh und ich schluckte und wollte wieder wegsehen, da hob Harry eine Hand und schob mir eine Haarsträhne hinters Ohr, auch wenn meine Haare dafür eigentlich viel zu kurz waren. Wie von selbst lehnte mein Kopf sich in seine Berührung.

„Das hast du", flüsterte ich leise und er verfolgte seine eigene Hand mit seinen Augen.

Harry nickte nur und drehte einer meiner Haarsträhnen zwischen seinen Fingern. „Ja, ich...ja."  So richtig zu wissen was er sagte, schien er selber nicht. Er schluckte und sah dann wieder in meine Augen. Sein Gesichtsausdruck spiegelte Sehnsucht wider.

„Gott, ich wünschte, ich könnte mich an dich erinnern."

Ich starrte ihn überfordert an.

„Mein Herz vermisst dich so sehr. Aber ich..." Er blinzelte schnell. „Aber ich kenne dich nicht, weißt du?"

Ich atmete langsam aus. „Vielleicht...", begann ich vorsichtig und zog so sanft wie möglich Harrys Hände aus meinen Haaren. Ich hielt die Berührung kaum aus, wenn er so weitermachte überfiel ich ihn noch und küsste ihn einfach. „Vielleicht ist das alles hier zu viel für uns."

Er runzelte die Stirn und ich sah Panik in seinem Blick. „Was meinst du damit?"

Ich schluckte. „Diese ganze Erinnerungssache. Vielleicht sollten wir das alles langsamer angehen. Also...vielleicht sollten wir uns erstmal ein paar Wochen lang etwas besser kennenlernen. Uns langsam annähern. Und dann nach und nach versuchen deine Erinnerungen wiederzukriegen." Ich seufzte und drückte seine Hände. „Das hier ist ziemlich viel auf einmal. Und ich glaube wir sind beide etwas...überfordert. Also...überwältigt von der ganzen Sache."

Harrys Blick wurde weniger panisch und etwas verständnisvoller. „Ja", sagte er und holte tief Luft. „Ja, vielleicht hast du Recht."

„Also..." Ich zuckte fragend mit den Schultern. „Also lernen wir uns erst ein bisschen kennen?"

Er begann zu lächeln und nickte vorsichtig. „Das würde mir gefallen."

Ich lächelte zurück. „Mir auch."

_____

„Oh Nein", seufzte Liam als er mich einige Stunden später auf der Couch fand, zusammengekauert in meine Kuscheldecke, den Laptop vor mir. „Louis."

Ich sah mit wässrigen Augen hoch zu meinem besten Freund, das Taschentusch in meiner eiskalten Hand zerfiel fast.

„Ich liebe ihn so sehr, Liam", schluchzte ich und Liam ließ sich sofort zu mir sinken und zog mich in seine Arme.

„Ich weiß", flüsterte er gegen meine Schläfe, während ich mein Gesicht in seinem Hemd vergrub.

„So sehr." Meine Stimme war kaum da. Und man müsste meinen ich hätte kaum mehr Tränen übrig, soviel wie ich in den letzten Stunden geweint hatte, aber das war ein Irrtum. Es wurden einfach nur immer mehr.

Liam verfestigte nur seinen Griff und sah auf den Monitor von meinem Laptop. „Fuck, Lou", flüsterte er. „Hast du dir den ganzen Abend lang Videos angeguckt?"

Ich wimmerte. Ich war so erbärmlich. „Nachdem er gegangen ist wollte ich es eigentlich alles wegräumen. Aber irgendwie konnte ich nicht."

Der Bildschirm zeigte Harry und mich, wie wir uns küssten. Ich hatte mir alle Videos angeguckt und wir küssten uns auch nicht nur in diesem, aber irgendwie kehrte ich immer wieder zu dem Video zurück, das ich mir heute mit Harry angeguckt hatte. Das Video, in dem er erklärte, dass er festhalten wollte wie ich ihn ansah.

Danach hatten wir miteinander geschlafen, das wusste ich noch. Das war auf dem Video natürlich nicht mehr drauf.

Ich hatte so eine riesige Sehnsucht nach ihm, es war kaum auszuhalten. Es war eigentlich jetzt noch schlimmer. Denn jetzt war Harry zwar da...also...irgendwie greifbar, aber mein Harry war dafür so unendlich weit weg.

Und ich wusste nicht mal ob ich ihn jemals zurückbekommen würde.

„Louis, ich weiß wirklich nicht, ob es so eine gute Idee ist", meinte Liam und löste die Umarmung ein kleines Stück. „Vielleicht solltest du Harry nicht dabei helfen. Wenn es dich nach ein paar Stunden schon so fertig macht...du musst auch auf dich selber achten..." Er sah ernsthaft besorgt aus und ich versuchte mich an einem Lächeln.

„Ja, deshalb haben Harry und ich das auch erstmal aufs Eis gelegt." Ich zog die Nase hoch. „Also...also nicht komplett, aber wir wollen uns erstmal besser kennenlernen, ein bisschen annähern, bevor wir uns an die Erinnerungssache ranwagen", erklärte ich und Liam musterte mich nur.

„Okay", sagte er dann nach einer Weile. „Okay, wie auch immer du willst. Nur..." Er schluckte. „Pass auf dich auf, ja Louis? Ich hab gesehen wie du wegen Harry leiden kannst. Ich will nicht, dass es schlimmer wird. Bitte."

Ich lächelte sanft und nickte vorsichtig. Dann wischte ich die Tränen von meinen Wangen. „Ja, Liam, ich pass auf. Ich versprech's dir."

Liam lächelte. „Danke."

Dann klatschte er in die Hände und stand auf. „So! Genug Drama für heute. Wir packen die Erinnerungskiste jetzt weg, machen uns Tiefkühlpizza und gucken Die Hard. Bist du dabei?"

Ich musste grinsen. „Ich bin dabei."

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„Also...du magst Fußball?", fragte Harry und nahm den nächsten Löffel von seinem Eis.

Ich nickte. „Ja, ich spiele seit ich denken kann. Aber seit einigen Jahren nur noch hobbymäßig, wir mieten uns jeden zweiten Freitagabend ein Feld im Sportcenter und gehen danach in die Kneipe."

Harry warf mir ein Grinsen zu. „Das klingt extrem...Mann."

„Was?" Ich lachte leise und leckte eine Stelle von meinem Eis ab, an dem es Gefahr lief die Waffel runterzulaufen.

„Na ja, das ist so das klischeehafteste Männerding, was ich je gehört hab."

„Und das ist jetzt schlimm?"

„Nein, überhaupt nicht." Er schüttelte den Kopf und kratzte das letzte bisschen Eis in seinem Becher zusammen. „Es klingt auch wirklich nach Spaß. Ich sag's ja nur."

Wir waren unterwegs zum Baumarkt, um Farbe zu kaufen und er hatte mich auf dem Weg noch auf ein Eis eingeladen. Harry wollte eine Wand in seinem Zimmer hellgrau streichen und weil wir eh nicht so richtig wussten, was wir zusammen machen sollten hatten wir einfach beschlossen das zu tun.

Ich hatte gedacht Zeit mit Harry zu verbringen würde absolut schwierig werden, aber irgendwie war es erstaunlich leicht. Wir sprachen über leichte Themen, lernten uns langsam wieder kennen und es tat mir nicht so sehr weh wie ich gedacht hätte.

„Du kannst ja mal mitkommen." Keine Ahnung wo das jetzt plötzlich hergekommen war.

Harry lachte und warf seinen leeren Becher beim Vorbeigehen in einen Mülleimer. „Ich hab das Gefühl mit meinem Wissen über Fußball sollte ich im Spiel viel besser sein, aber ich bin wirklich eine Niete. Ich weiß also nicht ob die Idee so gut ist."

Ich lachte. „Also hast du immer noch zwei linke Füße?", fragte ich.

Harry warf mir einen Blick zu. Und auf jeden anderen hätte er jetzt vielleicht undefinierbar gewirkt, aber ich wusste, dass Harry wieder für eine Sekunde vergessen hatte, dass ich ihn schon sein ganzes Leben lang kannte. Und ich meine, klar, es hätte natürlich sein können, dass er absolut anders war. Er könnte eine vollkommen andere Person sein, er hatte sein Gedächtnis verloren und ein komplett anderes Leben gelebt, aber bis jetzt war Harry...

Na ja. Er war nicht anders. Er war ziemlich genau so wie früher. Und ich hatte immer noch eine gespaltene Meinung darüber. Denn einerseits...konnte ich mir nicht vorstellen wie groß meine Enttäuschung sein würde, wenn Harry eine komplett neue Person wäre, aber andererseits...

Scheiße, ich liebte Harry nunmal. Und er war gleich, aber er war trotzdem irgendwie nicht er. Ich konnte es nicht beschreiben, es war einfach nur merkwürdig.

Aber es war okay. Es war wirklich okay und ich genoss es Zeit mit ihm zu verbringen.

Hilfe, meine Gedanken waren wirklich vollkommen durcheinander.

„Ja", sagte Harry. „So ziemlich. Ich weiß also nicht ob es so eine gute Idee wäre, wenn du mich mitnimmst."

„Na ja", sagte ich. „Immerhin würdest du meine Freunde kennenlernen."

Harry warf mir noch einen Blick zu und er war mir zu intensiv, also widmete ich mich schnell wieder meinem Eis.

„Was?"

„Nichts, ich bin nur froh, dass du es angesprochen hast."

„Was? Meine Freunde kennenzulernen?"

„Na ja, du kannst dir ja vorstellen, dass meine Freunde neugierig sind, wer du bist. Ich meine...ich hab jemanden aus meiner Vergangenheit gefunden, der mir vielleicht dabei helfen kann mein Gedächtnis wiederzufinden." Er zuckte mit den Schultern. „Wer wäre da nicht neugierig?"

.„Ja", flüsterte ich und mein Blick fiel von ihm auf den Gehweg. „Wer wäre da nicht neugierig?"

Ich spürte Harrys Blick auf mir, aber ich sah ihn nicht an. „Willst du den Rest von meinem Eis?", fragte ich stattdessen und stockte in dem Moment, in dem ich die Frage gestellt hatte. Auch keine schlaue Idee. So nah standen wir uns noch nicht und er konnte ja nicht wissen, dass wir früher immer-

„Ja. Wenn du es nicht mehr willst", unterbrach Harry meine Gedanken und ich sah ihn mit offenem Mund an.

Er runzelte die Stirn. „Alles okay? Hab ich irgendwas im Gesicht?"

„Nein, nein." Ich schüttelte mich kurz und gab ihm das Eis.

„Danke." Er lächelte unwiderstehlich und warf sich den Rest der Waffel in den Mund. Ich schluckte.

In dem Moment waren wir am Baumarkt angekommen und ich dankte dem Universum dafür, denn das hieß jetzt musste ich mir erstmal Gedanken über Wandfarbe machen und nicht über Harry.

Wir betraten das riesige Gebäude und Harry folgte zielstrebig irgendwelchen Schildern, die ich erst sah als wir an ihnen vorbeiliefen.

Und kurz darauf standen wir vor den Wandfarben.

„Also. Du wolltest grau, oder?"

„Ein helles Grau, damit das Zimmer trotzdem nicht zu dunkel und das ganze Licht von der Wand geschluckt wird."

„Irgendeine Präferenz was die Marke angeht?"

„Nö, ich würd sagen wir nehmen das erstbeste, billigste was wir finden."

Ich grinste. „Ganz schlicht und einfach, so gefällt mir das."

Harry grinste zurück und dann suchten wir Grau. Und schon fünf Minuten später gingen wir mit zwei Eimern zur Kasse und weitere zehn Minuten später machten wir uns auf den Weg zu seiner Wohnung.

Ich war immer noch leicht verwirrt warum es mein Herz nicht in Stücke riss Zeit mit Harry zu verbringen, aber es war eher schön als schrecklich.

Ich hatte ihn einfach unglaublich vermisst. Vielleicht war es das.

Er wohnte nicht besonders weit vom Baumarkt entfernt wie sich herausstellte (wir hatten uns bei der Eisdiele getroffen, deshalb wusste ich nicht wo er wohnte) und nach einem kurzen Spaziergang waren wir schon da. Er schloss die schwere Eichentür auf und öffnete sie mir. Ich ging mit einem „Danke" an ihm vorbei in den Hausflur und versteckte mein Lächeln. Harry hatte sich kein Stück verändert.

Bis jetzt konnte ich wirklich keinen einzigen Unterschied ausmachen. Gut, er sah ein bisschen anders (also...älter) aus und er hatte keine Erinnerungen an mich oder irgendwas aus unserem Leben zusammen. Aber seine Person, seine Art...war einfach unverändert.

Und ich wusste nicht so richtig, ob das jetzt gut oder schlecht war.

„Zweiter Stock", sagte Harry und dann gingen wir hintereinander die Treppe hoch und ich konnte mich insgeheim nur fragen, ob er auf meinen Hintern sah. Ich meine, beim Treppensteigen war das ja in gewisser Weise sogar unvermeidlich, manchmal guckte man auch Leuten auf den Hintern, denen man definitiv eigentlich nicht auf den Hintern gucken wollte, aber ich machte mich wirklich verrückt.

Vor seiner Wohnung blieb ich stehen, sah lächelnd auf das Klingelschild auf dem Styles stand und drehte mich dann zu Harry, der mir ein Lächeln zuwarf, den richtigen Schlüssel suchte und dann die Wohnungstür aufschloss.

„Na dann kommen Sie mal rein, Herr-" Er stockte kurz. „Tomlinson?", fragte er dann nochmal nach und ich nickte.

„Hast du dir gut gemerkt", grinste ich und er lachte.

„Ja, ich musste nur an dein Klingelschild denken, ich bin ein ziemlich visuell denkender Mensch." Dann machte er eine Kopfbewegung zu seiner Wohnung und ich lief lächelnd an ihm vorbei und stellte den Eimer Farbe neben mir auf den Boden. Hier wohnte er also.

Die Wohnung war nicht besonders groß, aber wirklich schön. Die Tür führte direkt ins Wohnzimmer, von dem aus eine Tür in die Küche und eine ins Schlafzimmer führte. Vom Schlafzimmer kam man dann ins Bad. Es gab viele große Fenster, was für ein tolles Licht sorgte und Harry hatte nicht so viele Möbel, sondern nur das nötigste, was der Wohnung viel Raum gab. Das meiste war in hellem Holz gehalten, vor allem seine Küche und als er mit seiner kleinen Tour fertig war ließ ich mich auf das Sofa fallen, was wirklich bequem aussah.

„Nichts da, Louis. Wir machen jetzt keine Pause, wir haben Arbeit vor uns", meinte Harry grinsend und zog mich an meinen Händen wieder ins Stehen. Er drückte mir einen Farbeimer in die Hand und nickte dann zum Schlafzimmer. „Wir müssen auch noch alles abkleben und so."

Ich nickte und ließ mich von ihm ins Schlafzimmer schieben. Dann verschwand er kurz und kam mit Streichutensilien wieder. Ein leerer Eimer, Farbrollen, Pinsel, Kreppband und eine Menge Planen.

„Welche Wand soll denn überhaupt Grau werden?", fragte ich und er nickte zu der an der sein Bett stand.

„Die da."

„Okay, dann muss doch erstmal das Bett weg, oder?"

Er nickte und dann begannen wir alles fürs Streichen vorzubereiten. Wir zogen das Bett in die Mitte des Raumes, schützten die Seite die Farbe abbekommen könnte mit Plastikplanen, genau wie den Boden und klebten dann alle Fußleisten und Steckdosen ab, damit wir die nicht mitstrichen.

„Okay, ich denke, das war's soweit oder?" Harry stemmte die Hände in die Hüften und scannte die Wand prüfend ab.

„Ich schätze ja."

„Dann sollten wir uns jetzt vielleicht was Renovierungstaugliches anziehen und anfangen zu streichen." Er lächelte. Ich nickte.

Harry ging zu seinem Schrank, machte eine Schublade auf und kramte ein bisschen herum bis er anscheinend etwas gefunden hatte. Er warf mir ein riesengroßes Hemd zu und nahm noch ein T-Shirt raus.

„Das ist uralt und viel zu groß", sagte er und nickte zu dem Stoff in meinen Händen. „Hab ich aus irgendeinem Second Hand Laden, weil ich dachte es sieht cool aus, aber im Endeffekt ist es einfach nur ein bisschen lächerlich. Also perfekt, um es dreckig zu machen."

Er lächelte. „Du äh...du kannst auch ins Bad, wenn du-"

„Schon okay", sagte ich und lächelte zurück, bevor ich mir mein T-Shirt über den Kopf zog. Harry drehte sich weg und ich hatte gemischte Gefühle. Einerseits war es einfach er, er war schon immer ein Gentleman gewesen und würde nie jemanden in eine unangenehme Situation bringen, aber andererseits...wir hatten uns ja nicht mehr weggedreht. Ich meine, nicht mal Freunde drehen sich weg, wenn einer oben ohne rumläuft, warum denn auch?

Und ich hatte ihn schon so oft nackt gesehen, das...das war einfach irgendwie merkwürdig.

Ich lenkte mich schnell ab, indem ich sein Shirt überzog. Das half aber auch nicht wirklich, es reichte mir fast bis zu den Knien und ließ mich daran denken, wie wir uns früher immer Kleidung geteilt hatten. Irgendwann hatten wir wirklich den Überblick verloren gehabt wem jetzt welches Kleidungsstück eigentlich ursprünglich gehörte. Und jetzt war Harry so viel größer als ich. Und ich trug sein Shirt.

Und es fühlte sich viel zu richtig an.

Harry knöpfte jetzt auch sein Hemd auf und schob es über seine Schultern und ich musste mich zusammenreißen nicht anzufangen zu sabbern als ich auf sein muskulöses Kreuz starrte.

Liam hatte Recht. Ich war wirklich untervögelt.

Verdammt, vermisste ich Sex. Und vor allem Sex mit Harry. Wenn es nach mir ginge würde ich ihn jetzt sofort zu seinem Sofa schieben, küssen und ihm noch mehr ausziehen.

Aber es ging nunmal nicht nach mir. Und Harry war zwar so ziemlich wie Harry, aber irgendwie auch nicht und meine Gedanken waren durchgehend so widersprüchlich, dass ich das Gefühl hatte ich wurde verrückt.

Denn irgendwie war dieser Harry mein Harry und deshalb tat es so weh, weil ich ihn liebte, aber irgendwie war dieser Harry auch nicht mein Harry, weil er mich nicht so kannte und deshalb tat es so sehr weh, weil es meinen Harry einfach nicht mehr gab und meine Fresse, ich brauchte wirklich Hilfe.

Dann hatte mein Gehirn aber keine Zeit mehr auszuflippen, denn Harry hatte das T-Shirt an und drehte sich zu mir um.

„Süß", kommentierte er als er mich in dem viel zu großen Shirt sah und ich hatte das Gefühl ich würde gleich in Ohnmacht fallen. Wieso hatte er das gesagt?

„Okay, also ich würde sagen wir machen einfach einen Eimer auf und fangen an, oder? Ich meine Wände streichen wird immer viel komplizierter gemacht als es ist, ja, es können hässliche Schlieren entstehen, aber irgendwie hat das doch auch seinen Charme, oder?" Er öffnete einen der Farbeimer und warf mir eine Farbrolle zu, die ich gerade so auffing.

Dann verließ er den Raum und kam kurz darauf mit einer Box wieder. „Musik?", fragte er und ich nickte nur begeistert. Er verband sein Handy und machte irgendeine Playlist an und einige Minuten später waren wir damit beschäftigt die Wand zu streichen. Es war sehr friedlich und wir erzählten uns einfach ein paar Sachen und hatten Spaß.

Bis Harry mich irgendwann ansah. „Weißt du, was das beste am Streichen ist?"

Ich zog die Augenbrauen hoch, denn ich hatte irgendwie Angst. „Was denn?"

„Man kann auf die Wand malen was man will", meinte Harry und malte einen Smiley mit Herzaugen. „Und es ist total egal, vor allem wie hässlich es ist, weil man es eh überstreicht."

Siehe da, ich hatte begründet Angst gehabt. Ich schluckte. „Das hast du damals auch gesagt."

„Was?" Harry sah wieder zu mir und runzelte die Stirn.

„Wir äh...wir haben damals meine Wohnung auch gestrichen. Also die erste hier in London. Zusammen. Weil die Vormieterin alles rosa gestrichen hatte und das ist nicht so meine Farbe." Ich lachte etwas awkward und räusperte mich. „Na ja und da hast du genau das gleiche gesagt."

Harry sah mich einfach nur an.

„Sorry, ich...es tut mir Leid, ich weiß wir wollten über diese ganze Erinnerungssache erstmal nicht sprechen, aber..." Meine Stimme wurde leise und ich widmete mich einfach wieder der Wand und warf Harry keinen einzigen Blick zu.

Wieso hatte ich es überhaupt gesagt?

Eine Weile sagten wir nichts, nur die Musik spielte und wir strichen stumm die Wand.

Dann sah ich aus dem Augenwinkel wie Harry seinen Pinsel sinken ließ und mich ansah.

Ich drehte mich zu ihm. „Was?"

Sein Blick war irgendwie traurig.

„Louis, es tut mir Leid, dass ich mich nicht erinnern kann. Wirklich. Ich sehe, dass es dir wehtut und es tut mir ehrlich Leid, ich-"

„Ich weiß", unterbrach ich ihn, ließ meine Farbrolle kurz in der Farbe liegen und ging einen Schritt auf ihn zu. Ich legte ihm die Hände auf die Schultern. „Ich sehe es dir an. Aber ich will das nicht, du solltest dich nicht so schuldig fühlen. Harry, du kannst nichts dafür." Ich sah ihm tief in die Augen. „Es ist wirklich okay."

„Ja?" Sein Blick verhakte sich mit meinem.

Ich nickte und lächelte leicht. „Ja."

Ich wollte wieder zurück zum Streichen gehen, aber ich konnte mich nicht von ihm lösen. Seine Augen waren einfach zu schön.

Und irgendwie war die Stimmung plötzlich anders.

Harry schien sich auch nicht entfernen zu wollen. Stattdessen kam er einen Schritt näher. Sein Blick flatterte zu meinen Lippen und ich leckte mir fast schon instinktiv darüber.

Auch meine Augen wanderten zu seinen Lippen und ich holte tief Luft. Sie sahen viel zu einladend aus.

Was passierte denn hier gerade?

Fast schon quälend langsam lehnten wir uns beide vor. Aber die Luft schien zu flimmern und jede hastige Bewegung würde den Moment kaputt machen.

Unsere Gesichter waren nur noch Zentimeter voneinander entfernt, da...

Klingelte es plötzlich.

Erschrocken fuhren wir beide auseinander und Harry kratzte sich am Kopf. „Äh, ich...ich geh mal besser...gucken wer das ist..."

Ich nickte nur, wich seinem Blick aus und presste die Lippen aufeinander. Dann griff ich einfach wieder nach der Farbrolle während Harry das Zimmer verließ.

Was zur Hölle war das denn gewesen? Hätten wir uns wirklich geküsst?

Wie war das nochmal mit dem die Sachen langsam angehen?

Verwirrt begann ich einfach wieder die Wand zu streichen, während ich hörte wie Harry die Tür öffnete.

„Oh hey, was machst du denn hier?", fragte er überrascht.

„Wieso siehst du so nach renovieren aus?", stellte eine männliche Stimme die Gegenfrage. „Ich dachte du wolltest, dass ich dir dabei helfe?"

„Ja, ähm...jetzt macht Louis das mit mir", antwortete Harry.

„Louis?", fragte der Typ. „Er ist hier?"

„Ja, aber-" Doch da ertönten schon Schritte und kurz darauf betrat ein braunhaariger Mann in Jeans und Hemd den Raum.

„Hi", sagte er und grinste. Harry kam hinter ihm her und warf mir einen entschuldigenden Blick zu.

Ich ließ die Rolle wieder sinken. „Hi", sagte ich.

Der Typ kam auf mich zu. „Ich bin Niall, Harrys bester Freund. Und...Arzt...also früher, ich denke das wurde dir erzählt." Er streckte mir die Hand hin.

Ich sah runter auf meine Hände, die beide voller Farbe waren. Dann hielt ich ihm einfach meinen Ellbogen hin und er grinste und schüttelte ihn.

„Louis", sagte ich. „Harrys..." Ja. Harrys was? Das war jetzt irgendwie die Frage.

„Ex-Freund, ich weiß, das hab ich schon mitgekriegt", nahm Niall es mir ab zu antworten und ich zuckte leicht zusammen.

Ex-Freund. Ich meine er hatte Recht, das war vermutlich das was am besten passte. Aber es tat immer noch weh das zu hören.

Ich warf einen Blick zu Harry, der nur auf seine Unterlippe biss und sich an den Türrahmen lehnte.

„Niall, was machst du hier?", fragte er und Niall fuhr zu ihm herum.

„Ach so, ja. Ähm, wir gehen in die Bar. Also...die anderen sind schon da, ich will dich nur abholen, um sicherzugehen, dass du auch wirklich kommst." Er warf einen Blick zu mir. „Und jetzt hol ich anscheinend dich und Louis ab."

„Ääh", sagte ich etwas awkward und auch Harry runzelte nur die Stirn. „Niall, was-"

„Nein, keine Widerrede! Du drückst dich schon seit Ewigkeiten vor einem Barabend und keiner weiß wieso. Ihr kommt beide mit. Die anderen sterben eh schon vor Neugier, weil sie nicht mal Louis' Namen wissen, also können wir jetzt auch einfach zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Auf, auf!" Und damit drehte Niall sich um und verließ das Zimmer wieder.

Harry und ich sahen uns nur etwas hilflos an.

„Ähm", sagte er dann. „Wäre das...also, ich meine..."

Ich lächelte sanft und kam zu ihm. „Es ist okay. Ich komm gerne mit."

„Wirklich?"

„Ja."

„Okay." Er lächelte und ich konnte nicht anders als mir diesen Moment ganz genau einzuprägen, um ihn nie zu vergessen. Harry war wunderschön wenn er lächelte. Ich meine, ja, er war immer wunderschön, aber in manchen Momenten, wie jetzt, kam noch irgendwas dazu, was ihn noch schöner machte.

Vielleicht war es meine Liebe.

Den Gedanken verwarf ich ganz schnell wieder. Daran durfte ich nicht denken.

„Jungs, kommt ihr? Ich warte!", rief Niall von der Tür und wir verdrehten synchron die Augen und machten uns fertig, um ihm zu folgen.

_____

Am liebsten hätte ich einfach Harrys Hand genommen, um mich irgendwie zu beruhigen, aber wir waren nicht zusammen. Oder Freunde? Oder irgendwas, um ehrlich zu sein.

Ich war unglaublich nervös seine Freunde kennenzulernen. Und wir betraten dieselbe Bar, in der Harry und ich uns getroffen hatten, was meinen Puls nicht gerade beruhigte.

Niall ging voraus, Harry hinter mir, aber er blieb plötzlich stehen und hielt mich an meinem Arm fest. Ich drehte mich fragend zu ihm und und er legte mir sanft eine Hand auf den Rücken und lächelte. „Louis, entspann dich", sagte er. „Meine Freunde sind keine Monster."

Ich seufzte und biss mir auf die Lippe. „Ich weiß, aber das ist trotzdem ziemlich nervenaufreibend."

„Das versteh ich. Wirklich. Und glaub mir, wenn ich deine Freunde kennenlerne werde ich noch mehr ein nervöses Wrack sein als du es gerade bist, aber Louis...sie haben keinerlei Erwartungen, okay? Sie sind nur neugierig, weil du mich von früher kennst, aber sie sind alle tolle Menschen, sonst wäre ich nicht mit ihnen befreundet."

Ich schluckte, dann nickte ich. Vielleicht war meine Nervosität auch teilweise seiner Hand auf meinem Rücken geschuldet, das fühlte sich nämlich unglaublich gut an. Die Geste war vertraut und irgendwie intim und es ließ mich näher zu Harry fühlen. „Okay."

„Okay?", fragte er nach und ich nickte.

„Ja."

„Gut." Er lächelte und dann schob er mich sanft weiter zu dem Tisch, an dem Niall gerade bei anderen Personen Platz genommen hatte. Ich erkannte Jeff, den Kellner, der heute aber nicht zu arbeiten schien. Neben ihm saß ein Typ mit einer weißen Mütze und einem schwarzen Dreitagebart, der mit der blonden Frau auf seiner anderen Seite sprach. Außer ihnen saßen noch zwei dunkelhaarige Frauen, ein Mann, der sich für den Jesus Look entschieden hatte und einer, der etwas jünger wirkte als die anderen am Tisch und als Harry und jetzt jetzt vor ihnen zum Stehen kamen, sahen sie alle auf.

Ich biss mir auf die Unterlippe.

„Harry!", rief der Typ mit der Mütze und grinste. „Wir dachten schon du wärst tot, weil du dich nie blicken lässt."

Harry lachte. „Nein, keine Angst, alles noch lebendig." Er klopfte sich gegen den Kopf. „Schön euch zu sehen. Und äh" Er legte mir eine Hand auf die Schulter. „Das ist Louis", stellte er mich dann vor. „Der Typ, von dem ich-"

„Aus deiner Vergangenheit, ja ja. Louis heißt er also."

„Ja, äh, hi", sagte ich und grinste schief.

„Hier komm warte, wir setzen uns hin." Zwischen Niall und der einen dunkelhaarigen waren noch zwei Stühle frei und Harry zog mir den neben Niall zurück. Ich warf ihm ein dankbares Lächeln zu und setzte mich hin. Er zog sich seine Jacke aus (ich hatte keine angehabt) und hängte sie auf die Lehne seines Stuhls bevor er sich neben mich setzte.

„Okay", sagte er. „Pass auf, Niall kennst du ja schon und Jeff hast du zumindest schon mal gesehen."

Jeff nickte mir zu, ich lächelte zurück.

„Das daneben ist mein bester Freund Zayn. Also neben Niall mein bester Freund. Wir kennen uns...na ja. Für ihn ist es seit sechs Jahren, für mich ist es mein ganzes Leben."

Ich biss mir auf die Unterlippe und warf Harry einen flüchtigen Blick zu, was er aber nicht zu bemerken schien. Zayn hob die Hand, ich nickte ihm auch zu. „Hi."

„Das daneben ist Gigi, sie wohnt im Haus gegenüber von mir und die beiden sind zusammen", machte Harry mit seiner Vorstellungsrunde weiter und die blonde Frau lächelte mir wirklich freundlich zu.

„Freut mich dich kennenzulernen", sagte sie und es klang so aufrichtig, dass mir ein bisschen half mich zu entspannen.

„Das daneben sind Sarah und Mitch, die beiden sind auch zusammen, lass dich nicht davon einschüchtern, dass er immer so grimmig guckt, er ist eigentlich ein ziemlicher Teddybär."

Ich warf Harry ein Grinsen zu, was er erwiderte. Mitch nickte mir nur zu, Sarah lächelte.

„Er hier ist Fionn, wir arbeiten zusammen im Kino." Harry nickte zu dem etwas jüngeren Mann und ich lächelte auch ihm zu und grüßte ihn.

„Und ich bin Kendall", ergriff die Frau auf Harrys anderer Seite selbst das Wort und lächelte. „Hi."

„Hi", antwortete ich. „Ja, also wie Harry schon gesagt hat...ich bin Louis."

Einige Minuten später als wir alle etwas zu Trinken vor uns stehen hatten und Harry kurz über alles auf den Neuesten Stand gebracht worden war, schienen sie alle dann doch zu neugierig zu sein.

„So, Louis, jetzt mal zu dir", meinte Zayn also. Ich hatte mich ein bisschen mehr entspannt, bis jetzt schienen Harrys Freunde wirklich nett zu sein, also atmete ich nur tief durch und nickte.

„Ja. Was möchtet ihr wissen?"

„Wie alt bist du?"

„Ich bin sechsundzwanzig."

„Okay, Zayn, das ist doch unwichtig, jetzt mal bitte zu den interessanten Fragen", meinte Kendall und beugte sich über den Tisch ein kleines Stück weiter in meine Richtung. „In was für einer Beziehung standest du zu Harry? Wie kennst du ihn?"

„Ich äh..." Ich schluckte. Vermutlich war das was Niall gesagt hatte noch am passendstem, auch wenn es wehtat. „Ich bin sein Ex-Freund."

Sofort lagen alle Blicke auf Harry. Ich runzelte die Stirn. Was war denn jetzt los?

„Du bist schwul?", fragte Zayn überrascht und mein Mund klappte auf.

Oh mein Gott.

Da hatte ich ja gar nicht drüber nachgedacht. Für mich war so klargewesen, dass...sofort tat mir Leid was ich gesagt hatte und ich legte die Hand auf meinen Mund.

Aber Harry lächelte nur. Und zuckte mit den Schultern. „Ey, keine Ahnung, Mann." Dann wanderte sein Blick zu mir. „Aber ich steh definitiv auf Männer."

Mir wurde warm unter seinem Blick, deshalb sah ich schnell weg, griff nach meinem Bier und trank einen Schluck.

Flirtete er gerade mit mir? Erst dieser Fast-Kuss bei ihm in der Wohnung und jetzt auch noch das?

So viel zum Thema die Dinge langsam angehen lassen.

Das hielt mein Herz doch auf lange Sicht nicht aus.

_____

Der Abend war eigentlich wirklich schön. Harrys Freunde waren nett, ich unterhielt mich viel mit Niall und Kendall und ich fühlte mich tatsächlich wohl.

Irgendwann wurde Jeff von seiner Frau mit ihrer (wirklich niedlichen) Tochter abgeholt und auch Fionn und Mitch & Sarah machten sich auf den Weg, sodass nur noch Gigi & Zayn, Niall, Kendall und Harry und ich übrig blieben und alle ein bisschen näher aneinander rutschten.

Wir unterhielten uns nett, bis irgendwann das Thema auf jemanden namens Camille fiel. Es wurde nur beiläufig erwähnt, dann ging es schon wieder um etwas anderes, aber als ich mich zu Niall beugte, um ihn zu fragen wer das war hatte ich irgendwie nicht mit dieser Antwort gerechnet.

Seine Ex-Freundin.

Es riss ein Loch in mein Herz das zu hören. Er hatte gedatet. Innerlich schlug ich mir eine Hand vor die Stirn. Natürlich hatte er gedatet! Was hatte ich mir denn gedacht? Dass er irgendwie gespürt hatte, dass er die Liebe seines Lebens schon kannte und für immer auf mich warten würde?

Ja. Ja, vermutlich hatte mein Herz mich genau das denken lassen. Ich war wirklich erbärmlich.

In diesem Moment legte Harry seine Hand auf meinen Oberschenkel und sah mich prüfend an. „Alles in Ordnung, Louis?"

„Was? Äh...ja", winkte ich ab und versuchte nicht in seinen Augen zu versinken.

Scheiße, ich vermisste ihn. Ich vermisste ihn so sehr.

Er lächelte nur, nickte und strich einmal sanft mit seinem Daumen über den Stoff meiner Jeans, bevor er seine Hand wieder wegnahm und sich Kendall zuwandte, die irgendetwas auf ihrem Handy aufgerufen hatte, um es ihn zu zeigen.

Scheiße, ich wollte Harry zurück. So sehr. Es war noch nie so schlimm gewesen, nicht mal als wir bei mir in der Küche gestanden hatten und er seine Hände in meinen Haaren gehabt hatte, noch nie war das Verlangen danach Harry an mich zu ziehen, zu küssen und nie wieder loszulassen so groß gewesen.

Ich wollte ihn einfach nur berühren. Seine Lippen spüren, seine Haut an meiner, seine Stimme sagen hören, dass er mich liebte.

Fuck, Harry war die Liebe meines Lebens.

Ich brauchte ihn zurück.

Und ich würde dafür kämpfen.

_____

„Entspann dich Louis, wir werden ihn schon mögen." Eleanor legte mir eine Hand auf die Schulter und trank einen Schluck von ihrem Gin Tonic. Dann warf sie einen Blick ins Wohnzimmer zu Liam und zog den Mund schief. „Na ja, bei ihm wird es vielleicht etwas dauern, bis er warm geworden ist, aber glaub mir, selbst Liam wird ihn nicht umbringen."

„Da wär ich mir nicht so sicher", murmelte ich und nahm El ihr Gin Tonic aus der Hand, um selber einen Schluck zu nehmen. Sie grinste.

„Für ihn ist er der Typ, der mir das Herz gebrochen hat, mehr nicht."

„Kannst du es ihm verübeln?" Eleanor nahm das Glas was ich ihr hinhielt wieder und seufzte. „Lou, Liam ist halt beschützerisch was das angeht. Er hat die gesamte Zeit eurer Freundschaft versucht dich dazu zu bringen Harry zu vergessen und jetzt ist die Situation völlig anders."

„Ich hab einfach Angst, dass das alles Harry überfordert."

„Louis, du machst dir viel zu viele Gedanken."

In dem Moment hatte ich gar keine Zeit mehr mit Gedanken zu machen, denn es klingelte. Ich zuckte zusammen und rannte zur Tür, bevor Liam das tun konnte. Mein Mitbewohner und seine Freundin waren im Wohnzimmer und ich wollte es Harry jetzt nicht unbedingt zumuten Liam direkt gegenüberzustehen.

Etwas zu schnell riss ich also die Tür auf und sah in Harrys überraschtes Gesicht. Er fing an zu lächeln. „Hey", sagte er und mein Herz klopfte sofort drei Stufen schneller.

„Hey", sagte ich zurück, starrte ihn ein paar Sekunden einfach nur an, bis mir auffiel wie komisch das war und ich ihn an mir vorbei in die Wohnung bat.

Er trat ein und umarmte mich flüchtig zur Begrüßung. Okay, mein Herz würde sich wohl gar nicht mehr beruhigen.

El lehnte schon in der Tür zur Küche und lächelte Harry an. „Hallo Harry, ich bin Eleanor", meinte sie und reichte ihm die Hand.

Er lächelte nervös und ergriff sie. „Harry."

Sie lächelte und nickte Richtung Wohnzimmer. „Keine Angst, Liam hasst dich nicht, auch wenn es erst so scheinen kann. Er ist einfach sehr beschützerisch was Louis angeht."

„Okay", sagte Harry. „Danke für die Warnung."

Ich legte ihm eine Hand auf den Rücken und lächelte aufmunternd, bevor ich ihn ins Wohnzimmer schob.

„Liam, sei nett", wies ich meinem besten Freund an und er stand vom Sofa auf und kam auf uns zu. Harry sah aus wie ein verschrecktes Reh.

„Hi", sagte Liam. „Ich geb dir 'ne Chance, aber zu ihm nochmal so weh und ich breche dir jeden Knochen. Und das meine ich ernst. Ich bin MMA Kämpfer."

„Li, er erinnert sich nicht mal daran", sagte ich und schob ihn ein bisschen nach hinten. „Du drohst gerade einem unschuldigen Mann."

„Und außerdem übertreib mal nicht so", meldete sich Maya vom Sofa dazu woraufhin ich ihr einen dankbaren Blick zuwarf. Sie stand auf und kam zu uns. „Das hört sich ja an als wärst du ein Profi. Dabei kämpfst du nur zum Spaß."

„Nein, für Selbstvertiedigungszwecke", widersprach Liam und Maya rollte mit den Augen und legte ihren Arm auf Liams Schulter ab.

„Ja, ja, Schatz, genau." Dann sah sie zu Harry. „Wirklich lass dich von meinem Freund nicht einschüchtern, er ist ungefähr so gefährlich wie ein Teddybär."

„Hey", beschwerte Liam sich und ich musste lachen.

„Leute?", meldete sich jetzt Eleanor vom Flur. Sie kam zu uns und lächelte. „Wollen wir mal los? Ich hab genug vorgeglüht und für Harry nehmen wir einfach noch was mit."

Harry sah mich fragend an. „Wir wollen Billard spielen gehen", erklärte ich. „Und weil die Getränke da so teuer sind trinken wir immer vorher."

„Oh okay." Harry sah mich weiter an und mir wurde warm.

„Was?"

„Nichts. Nichts, lass uns los."

Und dann machten wir uns auch auf den Weg. Eleanor hatte sich bei Harry untergehakt und löcherte ihn mit Fragen während Liam und Maya händchenhaltend hinter uns liefen, in ihrer eigenen Welt. Aber so konnte Liam immerhin Harry nicht noch mehr verschrecken.

Das Bowlingcenter wo man auch Billard spielen konnte war nicht weit von unserer Wohnung, deshalb standen wir schon nur einige Minuten später unter dem Schwarzlicht (auch wenn Eleanor Harry draußen auf der Straße noch gezwungen hatte eine Mische zu exen, damit er betrunken wurde) und teilten uns auf zwei Tische auf. Liam und Maya spielten gegeneinander und Harry und ich zusammen gegen Eleanor. Sie war nämlich wirklich gut, sie zog mich jedes Mal ab.

Aber heute würde sie das wohl nicht, wie es schien, denn nachdem Harry zum ersten Mal an der Reihe gewesen war waren fast alle halben Kugeln versenkt. Jeder Stoß war präzise und nahezu perfekt.

„Du bist dran", sagte er zu Eleanor als die letzte Kugel das Loch knapp verfehlte und damit seinen Zug beendete und stützte sich auf seinen Queue.

„Wow." Eleanor sah ihn nur an und blinzelte.

Ich runzelte die Stirn.

„Endlich ein würdiger Gegner", sagte sie dann. „Willkommen, Harry. Louis, den sollst du behalten."

Und dann machte sie ihren Zug und verabschiedete sich anschließend kurz auf die Toilette.

Ich sah Harry an. „Wieso kannst du das so gut?", fragte ich und er lächelte.

„Wenn die Bar zumacht spielen Jeff und ich abends oft gegeneinander. Also, wenn er Schicht hat. Inzwischen hat er wegen seiner Tochter wenig Zeit, ich hab also etwas länger nicht mehr gespielt. Bin ein bisschen eingerostet."

„Bitte was?" Ich lachte leise. Wenn das eingerostet war, dann war ich komplett aus Stahl.

„Ich meine irgendwie ist es nur fair. Wenn ich schon nichts mit meinen Füßen kann, dann wenigstens mit meinen Händen."

Gott, klang das zweideutig.

„Oder...meinen Armen?", verbesserte Harry sich, aber ich konnte ihn trotzdem nur anstarren. Fuck.

„Louis?"

„Ja?" Ich hauchte fast schon.

„Du bist dran", meinte Harry und ich schüttelte mich kurz.

„Richtig. Ja. Ich bin dran."

Ich starrte kurz auf die Kugeln. „Aber ich bin nicht so gut, vielleicht sollten du und Eleanor am besten einfach gegeneinander..."

„Nichts da. Du kriegst das schon hin. Eigentlich musst du nur den richtigen Winkel finden, das ist das wichtigste."

Mein Gehirn war absolut ruiniert. Absolut. Ich musste mich zusammenreißen an etwas anderes als Sex zu denken.

Aber das wurde im nächsten Moment noch schwerer, denn innerhalb einer Sekunde landete ich in einer romantischen Komödie.

Harry schlang nämlich jetzt so seine Arme um mich, dass er mir zeigen konnte wie ich den Queue am besten hielt und den richtigen Winkel fand und dabei presste sich sein Oberkörper an meinen Rücken und ich spürte seinen Atem in meinem Nacken und meine Fresse, es war in Harrys Präsenz ja generell schon schwer nicht die ganze Zeit an den unglaublichen Sex zu denken und jetzt war ich sogar noch einigermaßen betrunken also war es quasi unmöglich.

Erst als er sich wieder von mir entfernte konnte ich aufatmen. Es war ja jetzt auch nicht so als könnte ich kein Billard spielen. Ich war nur schlechter als Eleanor und bei Weitem schlechter als Harry.

In dem Moment kam auch Eleanor wieder und das kurze Flimmern in der Luft zwischen ihm und mir, das ich mir vermutlich eh nur eingebildet hatte verschwand. Ich machte meinen Zug, dann war El wieder dran.

Der Abend war extrem schön, wir hatten eine Menge Spaß und waren ziemlich betrunken. Selbst Liam fing an Harry zu mögen und das hieß es war ein voller Erfolg gewesen.

Meine engsten Freunde kannten jetzt also die Liebe meines Lebens. Nur er kannte mich leider noch nicht so richtig.

Aber wir hatten ja vor das zu ändern.

_____

Wir verbrachten extrem viel Zeit miteinander. Das mit dem „uns erstmal wieder kennenlernen" nahmen wir wohl beide ziemlich ernst und trafen uns ständig, gingen zusammen essen oder telefonierten einfach nur. Manchmal war es wirklich schwer für mich, denn es gab Momente in denen war es für mich einfach zu sehr genau wie früher und das riss mein Herz auseinander.

Die ganze Erinnerungssache schoben wir irgendwie ein bisschen vor uns her, wie etwas was wir beide nicht ansprechen wollten, weil wir irgendwie das Gefühl hatten es würde alles verändern. Es war nur irgendwie schwierig alles was Harry beinhaltete auszulassen, wenn ich ihm Sachen aus meiner Schulzeit oder meiner Kindheit erzählte.

Und deshalb mussten wir darüber reden. Wir sollten wieder versuchen seine Erinnerungen zu wecken, in unser beider Interesse. Ich meine, es war ja nicht mal garantiert, dass sie wiederkommen würden. Aber ich hielt es nicht länger aus so zu tun als wären wir einfach neue Freunde. Dafür hatten wir zu viel Geschichte.

Oder besser gesagt, dafür hatte ich zu viel Geschichte mit ihm.

„Harry?", fragte ich also und er sah von der Kaffeemaschine auf und mich fragend an.

„Ja?"

„Sollten wir...also..." Ich setzte mich auf den Küchentisch und seufzte. „Sollen wir den Elefanten im Raum vielleicht mal ansprechen?"

Harry schluckte, lehnte sich an die Küchenanrichte hinter sich und sah mich mit einer Falte zwischen den Augenbrauen an. „Du meinst...meine Amnesie?", fragte er und ich nickte vorsichtig.

„Ja."

Er nickte. „Ich denke seit Tagen an nichts anderes." Er seufzte und kam näher. „Louis Ich vermisse Erinnerungen, die ich nicht habe. Ich vermisse Momente, die ich nicht kenne, Menschen, die ich noch nie gesehen habe, ich hab eine Scheißangst was passiert wenn ich mich erinnere."

„Das kann ich verstehen." Ich nahm seine Hand und sah ihn lächelnd an. „Aber es ist ja gar nicht garantiert, dass es überhaupt klappt. Ich denke einfach wir sollten...wir sollten es wieder versuchen. Oder? Also...ich weiß nicht, wir können ja auch nicht einfach so tun als wäre das alles nie passiert. Ich kann das zumindest nicht."

Harry seufzte und sah mich an. „Ich auch nicht", flüsterte er dann.

„Und ich meine..." Ich seufzte. „Was ist das Schlimmste was passieren könnte?"

„So vieles", flüsterte Harry verzweifelt und machte einen Schritt zurück. „Ich könnte Dinge rausfinden an die ich mich nie erinnern wollen würde. Ich...ich meine es gibt so viele Dinge, die schlimm sein könnten, mein ganzes Leben, ich meine..." Er seufzte. „Was wenn es ist wie die Büchse der Pandora? Wenn ich meine Erinnerungen wieder kriege und es einfach nur bereue?"

„Harry", versuchte ich ihn zu beruhigen. „Harry, so vieles was ich nicht weiß gibt es da nicht. Dein Leben war eigentlich wirklich schön. Natürlich ist das eine super schwierige Situation und du wirst um deine Familie trauern und ich kann mir gar nicht vorstellen wie komisch du dich fühlen musst, aber...aber 1. wirst du nur in diese Situation kommen wenn du dich wirklich erinnerst und 2.-" Ich stockte und seufzte. „Und zweitens, solltest du es vielleicht nicht mit der Büchse der Pandora, sondern eher mit Schrödingers Katze vergleichen. Solange du sie nicht wiederbekommst hast du keine Ahnung. Aber Harry wenn wir es nicht wenigstens versuchen wirst du dich dein Leben lang fragen, ob die Katze tot oder lebendig ist."

„Also irgendwo hast du mich verloren", sagte Harry und lächelte ein Stück.

Ich grinste. „Ich sag nur, du würdest dich dein Leben lang fragen was wäre wenn."

Eine Weile sah Harry mich nur an, griff dann auch mit seiner anderen Hand nach meiner und schloss kurz die Augen.

„Du hast Recht", sagte er dann, öffnete sie wieder und nickte. „Du hast Recht, wir sollten es versuchen."

„Ja?", fragte ich und er nickte noch stärker.

„Ja."

_____

Und das taten wir. Stundenlang sahen wir uns Fotos an, Videos, ich erzählte ihm Geschichten die uns passiert waren, ich brachte ihn zu Plätzen in London, wo wir zusammen gewesen waren in dem Jahr in dem ich schon hier gewohnt hatte und er noch nicht, wir versuchten wirklich alles.

Aber nichts.

Harry erinnerte sich an nichts.

Es war klar, er würde sich entweder irgendwann plötzlich an alles erinnern, oder niemals an irgendwas.

Mit jedem Tag wurden wir beide frustrierter und uns gingen die Ideen aus. Auch Niall wusste nicht was man noch versuchen könnte und es war schließlich sein Fachgebiet.

Es tat mir doch mehr weh als ich zugeben wollte und ich versuchte mich wirklich mit dem Gedanken abzufinden, dass er sich nie erinnern würde egal wie schwer das war. Heute wollten wir es nochmal mit Fotos versuchen, auch wenn das nichts bringen würde und dann würden wir es vielleicht einfach aufgeben? Ich wusste es nicht.

Ich war einfach nur ratlos. Meine Schwester hatte mir auf Nachfrage ein altes Fotoalbum geschickt, auch wenn ich ihr noch nicht gesagt hatte wofür es war. Ich wusste, dass ich meiner Familie irgendwann davon erzählen musste, aber noch schob ich das ganze vor mir her.

Es regnete wie aus Kübeln und ich hatte dummerweise keinen Regenschirm dabei, deshalb war ich völlig durchnässt als ich bei Harry klingelte.

Als ich oben in seiner Wohnung angekommen war war das auch das erste was ihm auffiel. „Oh Gott, Lou!", meinte er und zog mich in sein Schlafzimmer, während ich noch über den Fakt stolperte, dass er mich gerade Lou genannt hatte. Er öffnete seinen Kleiderschrank und nahm einen Pulli und eine Jogginghose raus, bevor er den Reißverschluss meiner Jacke öffnete und sie mir von den Schultern schob. Ich stand wie paralysiert da. Er schien gar nicht zu verstehen, dass mich das hier gerade überforderte, weil Harry mich zum ersten Mal seit Jahren auszog.

Natürlich verstand er es nicht. Für ihn war diese Situation null sexuell. Aber das einzige was ich tun konnte war ihn anzustarren und mich zusammenzureißen ihn nicht sofort in sein Bett zu zerren.

Er drückte mir die Kleidung in die Hand. „Zieh das an, sonst erkältest du dich noch", sagte er. „Ich mach unser Essen fertig."

Das erklärte den himmlischen Geruch, der durch die Wohnung zog.

Und dann ließ er mich in seinem Schlafzimmer alleine. Ich atmete tief durch, zwang mich an andere Dinge zu denken und zog dann meine Kleidung aus und Harrys an.

Nein, Louis. Du trägst die Kleidung weil du nass warst, nicht weil du und Harry gerade Sex hattet, ermahnte ich mich selber bevor ich ins Wohnzimmer zurückging und überrascht stehen blieb.

„Setz dich schonmal aufs Sofa, ich komm gleich."

Harry hatte hier gedeckt und nicht in der Küche. Und das Licht war gedimmt. Verwirrt ließ ich mich aufs Sofa sinken und beobachtete wie Harry mit zwei Tellern wiederkam und sich neben mich fallen ließ. Er stellte einen Teller vor mich und den anderen vor sich selber.

Er hatte einen Riesenaufwand betrieben. Zumindest wirkte es so. Er hatte irgendeine Art Kartoffelgratin gemacht, aber es sah extrem exquisit aus.

Harry warf mir ein Lächeln zu. „Guten Appetit, Louis", meinte er und ich nickte nur und murmelte ein „Ja, äh, Guten Appetit", bevor ich anfing zu essen. Und heilige Scheiße, Harry konnte wirklich gut kochen. Das schmeckte himmlisch. Er hatte wirklich großen Aufwand betrieben. Ich meine, ja, selbst sein Rührei schmeckte vermutlich fantastisch, aber das hier war wirklich außerordentlich.

Trotzdem konnte ich mich nicht dazu bringen irgendetwas zu sagen, die Situation verunsicherte mich extrem.

Und es wurde nur noch schlimmer als Harry in der Küche verschwand und mit einer Weinflasche und zwei Gläsern wiederkam.

„Willst du?", fragte er und ich nickte langsam, sodass er nur lächelte und uns beiden etwas einschenkte.

Kam ihm das Ganze hier nicht komisch vor? Er wusste doch, dass ich ihn liebte und das ganze eh schon schwer für mich war, wieso machte er sowas? Also...so etwas...romantisches?

Das tat doch nur unnötig weh.

Harry gab mir das Glas und stieß dann mit mir an.

Ich konnte das nicht länger.

Statt ebenfalls zu trinken nahm ich mein Glas und sein Glas und stellte sie auf den Tisch. Harry sah mich fragend an.

„Harry...was wird das hier?" Ich drehte mich so, dass ich ihm gegenüber saß und ihn genau ansehen konnte. „Du weißt doch genau, was ich für dich fühle, wieso tust du das, wenn du weißt, dass ich..."

„Ich weiß überhaupt nicht, was du für mich fühlst", unterbrach Harry mich und ich runzelte verwirrt die Stirn und wich ein Stück zurück.

„Was?"

„Louis, ich weiß, was du für deinen Harry fühlst", sagte er. „Den Harry, mit dem du aufgewachsen bist, mit dem du zusammen warst, den du geküsst hast, mit dem du dein Leben verbracht hast. Ich hab keine Ahnung wie du für mich fühlst." Seine Augen strahlten Verletzlichkeit aus, Angst fast schon. „Und das hier...ich..." Er seufzte und stand auf, um nervös hin und herzulaufen.

„Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie unsicher ich in deiner Nähe bin. Ich hab durchgehend Angst dich zu enttäuschen und...und ich..." Er blieb stehen und sah mich an.

Ich stand ebenfalls auf. „Harry, du enttäuschst mich doch nicht. Ich weiß ganz genau, was du dir für eine Mühe machst. Ich will nur nicht, dass du irgendwas machst, was du eigentlich gar nicht willst, nur aus Angst mich zu enttäuschen. Und das Ganze hier fühlt sich irgendwie an wie ein Date an und-"

„Es ist auch eins", unterbrach Harry mich und ich sah ihn wieder nur überrascht an.

„Was?"

„Na ja, ich..." Er verknotete nervös seine Finger und schluckte. „Die ganze Situation ist komplett durcheinander und ich...ich meine, ich hab keine Ahnung ob es echt ist oder nicht, ob es nur ist, weil ich dich von früher kenne oder wirklich weil du so unglaublich bist, aber ich hab mich nun mal irgendwie in dich verliebt und ich weiß, dass ich dir wenn ich mich nicht erinnere, niemals das geben kann was du willst oder was du brauchst und ich weiß auch nicht, was ich mir hiervon erhofft habe, aber ich wollte wohl irgendwie zumindest die Illusion haben mit dir auf ein Date zu gehen, oder so, ich weiß auch nicht, ich-"

„Du hast dich in mich verliebt?"

Harry stockte in seinem Redefluss, sah zu mir auf und sagte nichts. Er schloss seinen Mund, saugte seine Unterlippe zwischen die Zähne und sah mich einfach nur an. Dann nickte er langsam.

„Ja? Irgendwie schon."

„Ich..." Ich wusste gar nicht was ich sagen sollte.

Harry hatte sich in mich verliebt? Auch ohne das ganze Leben, das wir zusammen verbracht hatten, ohne die Erinnerungen, die wir miteinander teilten... hatte er sich in mich verliebt? In mich.

Mein Herz explodierte irgendwie.

Harry sah runter auf den Boden und seufzte. „Es tut mir Leid."

Ich runzelte die Stirn und ging auf ihn zu. Dann griff ich nach seiner Hand.

Er blickte wieder auf und ich sah Tränen in seinen Augen glitzern.

„Was tut dir Leid?"

„Na ja, Louis, ich..." Er seufzte nochmal. „Ich kann dir doch niemals das geben was du brauchst. Du kennst...also...du liebst mein altes Ich, derjenige der ich war bevor ich im Krankenhaus aufgewacht bin und ich kann diese Person nun mal einfach nicht sein. Zumindest nicht wenn ich meine Erinnerungen nicht langsam mal wiederkriege."

„Oh Harry." Ich legte vorsichtig meine freie Hand auf seine Wange. Er lehnte sich in die Berührung. „Du bist doch kein Stück anders."

„Was?" Seine Stimme war nur noch ein Hauchen.

„Seitdem ich dich wieder getroffen habe versuche ich verzweifelt irgendwas zu finden, was anders an dir ist. Damit es eben nicht so wehtut. Aber Harry...du bist genau die gleiche Person, die du damals warst."

„Aber..." Harry sah mich einfach nur an und ich lächelte vorsichtig.

„Was?"

„Wir wissen gar nicht was die Geschichte damals war. Also...ich meine, ich hab dir das Herz gebrochen. Und du...du würdest mich trotzdem..."

„Harry, ehrlich gesagt bezweifle ich inzwischen ernsthaft, dass du damals mit mir Schluss gemacht hast. Und selbst wenn...ist das denn jetzt wichtig?"

Harrys Blick wanderte zu meinen Lippen und er schüttelte langsam den Kopf. „Vielleicht nicht."

„Ich denke auch nicht."

Ich zog meine Hand aus seiner, um sie auf seine andere Wange zu legen und Harry schlang seine Arme etwas zögerlich, aber sanft um meine Taille.

Er senkte seinen Kopf und wir kamen uns immer näher.

Mein Herz schlug so schnell wie noch nie zuvor.

Ich würde so viel fühlen. Ich war nervös, ich vermisste Harry, ich hatte Sehnsucht nach ihm, so große Sehnsucht und Angst, dass es vielleicht doch anders wäre, dass es sich anders anfühlen würde, ich hatte einfach Angst vor diesem Kuss.

Aber als unsere Lippen aufeinander trafen, ließ ich mich einfach fallen. Ich vertraute Harry. Ich liebte ihn sogar. Auch wenn ich diese Erinnerungen nicht hätte, wenn es mir so gehen würde wie ihm, allein diese letzten Wochen hatte ich mich wieder in ihn verliebt. Und ich würde mich immer wieder in ihn verlieben.

Und Harrys Lippen fühlten sich einfach nach zu Hause an.

Ich versank und ging fast unter in dem Strudel von Gefühlen, der mich erfasste, aber es fühlte sich gut an. Es fühlte sich unglaublich an.

Doch plötzlich stieß Harry mich von sich, stolperte einen Schritt nach hinten und starrte mich mit gerunzelter Stirn an. Er hatte einen undefinierbaren Blick drauf. Fast schon ängstlich. Sein Mund bewegte sich als würde er etwas sagen wollen, wüsste aber nicht was.

„Nein", flüsterte ich, als mich die Erkenntnis traf. „Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, das ist viel zu Klischee, sag mir, dass es nicht stimmt." Ich keuchte. „Verdammt, Harry, wir leben doch in keinem Märchen, sag mir, dass du nicht gerade deine Erinnerungen wiederbekommen hast!" Ich starrte Harry an und sah nur wie sich seine Augen mit Tränen füllten.

„Louis?", flüsterte er leise und atmete zitternd ganz ein. Und dieses eine Wort reichte. Ich konnte es in seinen Augen sehen. Ich konnte ihn sehen.

Harry.

Meinen Harry.

Er schlug sich die Hand vor den Mund, wandte sich ab und brach zusammen.

to be continued...



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es tut mir extrem leid, dass es so ewig lange gedauert hat. ich meine es war ernsthaft fast ein halbes jahr, holy shit! sorry, sorry, sorry!

und eigentlich sollten es nur zwei teile werden, aber seien wir mal ehrlich, wann läuft ein one shot mal so wie ich es plane...? also gibt es wohl noch einen :)

sorry, dass ich eure geduld so überstrapaziere, es hat viel zu lange gedauert...ich hoffe den dritten kriege ich schneller fertig. seid mir nicht böse :)

falls es irgendwelche tippfehler gibt...ich hatte keine lust alles nochmal probe zu lesen und wollte euch endlich den zweiten teil lesen, also vergebt mir.

und ähm außerdem...HOLY FUCK. über 100 tausend views? WAS? ich komm einfach nicht klar wtf

danke. wirklich. danke, danke, danke!! fühlt euch umarmt!

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