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Louis

»Hast du eine Vorliebe? Italienisch? Indisch? Vietnamesisch? Französisch?«

Harrys Blick hing an den Schaufenstern der Läden. Wir schlenderten in entspanntem Schritt die Straße entlang. Seine Hand ruhte in meiner. Ich konnte mich nicht an das letzte Mal erinnern, dass ich so langsam durch London gelaufen war.

Harry schüttelte den Kopf. »Nein. Ist mir ganz egal.«

Erleichtert fuhr ich in Kreisen mit meinem Daumen über seinen Handrücken. »Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest. Ich habe nämlich schon einen Tisch reserviert.«

Amüsiert schielte Harry zu mir herüber. »Was, wenn ich einen Wunsch gehabt hätte?«

»Dann hätten wir das gemacht. Jemand anderes hätte sich über unseren Tisch gefreut.«

»Nur weil es mein Geburtstagsgeschenk ist, müssen wir nicht automatisch alles machen, was ich will.« Es war nicht schwer herauszuhören, dass ihn das ganz und gar nicht störte.

»So funktionieren Geburtstage, Harry.«

»Eigentlich nicht.«

Ich zuckte mit den Schultern. Ich war immerhin derjenige, der das Geschenk gemacht hatte. »Bei mir schon.«

Harry grinste. »Bei dir, dem Sohn von vom Kapitalismus profitierenden Superreichen?«

»Ganz genau.«

Harry verdrehte die Augen, aber seine Mundwinkel zuckten nach oben. »Geld ist heutzutage die einzige Geldmaschine.«

»Tiefgründig.«

»Danke.« Jetzt brach er endgültig in ein Grinsen aus.

Zwischen unseren Körpern ließ ich unsere Hände sanft vor und zurück schwingen. »Wenn du nicht reich wärst, würde ich glatt glauben, dass du mich nur wegen des Geldes datest.«

Er wandte seinen Blick von mir ab und folgte dem langsamen Schritt unserer Füße. »Wenn du nicht reich wärst, würde ich glatt glauben, dass Autos zu klauen deine vielversprechendste Zukunftsperspektive ist.«

»Wer hat dem kleinen Harry denn Schlagfertigkeit beigebracht?«

»Ich bin größer als du, Louis.«, erwiderte er unbeeindruckt.

Ich runzelte trotzig die Stirn. »Hm. Einen halben Zentimeter vielleicht. Millimeter.«

»Ganz klar.«

»Größe ist im Leben nicht das Größte, Harry.«

»Tiefgründig.«

Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Danke.«

Wieso hatte Harry nur eine so große Macht über meine Gefühle? Ich meine, die Antwort war einfach; Liebe. Aber manchmal könnten meine Wangen wirklich eine Auszeit vom pausenlosen Lächeln gebrauchen.

»Also?«, fragte Harry nach ein paar Minuten der Stille. Ich blinzelte ihn fragend an. Wären wir an der Themse, würde sein Gesicht jetzt im goldenen Sonnenuntergang leuchten. Doch hier musste man sich die schwindende Sonne vorstellen.

»Also was?«

»In was für ein Restaurant gehen wir? Wo hast du reserviert?«

»Italiener.«, berichtete ich. »Habe ich für die sicherste Wahl gehalten. Jeder mag Pizza, oder nicht?«

»Jap.« Er drückte meine Hand. »Ich liebe dich, Louis.«

Die Willkürlichkeit seiner Liebesgeständnisse machten sie nur noch wirksamer. Wärme durchflutete meinen Körper, jedes Mal. Die Tatsache, dass ich damit auf ihn hatte warten müssen, steigerte die Macht seiner Gefühle für mich noch mehr. Jetzt wusste ich, dass er es ernst meinte.

›Wenn er die Worte sagt, will er, dass sie für immer sind.‹ Das hatte Niall gesagt. Es war natürlich nur seine Meinung gewesen. Aber niemand kannte Harry besser als Niall. Und allein der Gedanke daran, dass der Ire recht haben könnte, trieb mich in den Wahnsinn. Auf gute Weise. Gab es das? Ja. Schließlich fühlte ich es jedes Mal, wenn Harry die drei Worte sagte.

Für immer. Eine lange Zeit. Beängstigend. Beruhigend.

»Harry?« Etwas in mir verkrampfte sich. Es war zu einfach, Fehler zu vergessen, wenn man glücklich war. »Habe ich mich je entschuldigt?«

Er sah auf. Ich wollte stehenbleiben, aber er lief weiter. »Ja. Mehrere Male.«, sagte er ruhig.

Ich versuchte, mich nicht von dem Chaos in meinem Kopf verrückt machen zu lassen. »Aber nie explizit. Du weißt, was ich meine. Speziell das eine Wort. Ich will es nicht wiederholen. Das habe ich oft genug getan. Ich verstehe nicht, wie du mir das verzeihen konntest.«

»Ich habe es dir nicht verziehen, bis du nicht selbst darauf gekommen bist, dass es überhaupt etwas zu verzeihen gab.« Er versuchte mich zu besänftigen. Ich wusste selbst, dass ich mich geändert hatte. Aber das machte nicht wett, was ich gesagt hatte. Die Worte hatten meine Lippen verlassen. Und Harry hatte sie hören müssen. Es spielte keine Rolle, was danach passiert war.

»Es tut mir leid, Harry. Alles.«

»Das weiß ich, Louis.«

Ich schüttelte den Kopf. »Aber es gibt nichts, das es wieder wettmachen könnte. Es gibt nichts, das es wiedergutmacht.« Die Worte zu sagen war einfach, aber sie wirklich zu meinen, löste das unbändige Gefühl von Schuld in mir aus, das ich niemals vollkommen zugelassen hatte.

Harry stoppte noch immer nicht. »So funktioniert die Vergangenheit, Louis. Alle Menschen machen Fehler. Es ist gut, wenn man lernt, sie zu bereuen.« War es sanfte Entschlossenheit oder entschlossene Sanftheit in seiner Stimme?

»Aber das spielt hierbei keine Rolle. Bei Reue geht es um mich, nicht um dich. Und du bist derjenige, der verletzt worden ist.«

Harry neigte seinen Kopf von einer Seite zur anderen. »Solange du weißt, wer du bist, ist es nicht von Bedeutung, wer du warst.« Zweifelnd runzelte ich die Stirn. »Nutz die Reue, Louis.«, setzte Harry fort. »Ich habe dir nicht verziehen, weil ich Gefühle für dich hatte. Ich konnte dir verzeihen, weil ich wusste und immer noch weiß, dass du gelernt hast. Dass du nie wieder tun würdest, was du getan hast. Für mich ist das genug. Quäle dich nicht mit der Schuld. Nutze sie, um nie zu vergessen, was falsch war.«

Schweigen war alles, wozu ich fähig war. Harry hatte recht, das wusste ich. Aber ich hatte ebenso recht.

Es stellte sich heraus, dass Reue einfach war. Sie war belastend. Ich würde lernen müssen, mit ihr umzugehen. Aber es fühlte sich wenigstens ein bisschen gut an, sich entschuldigt zu haben.

»Weißt du, Lou«, meldete Harry sich nach ein paar Minuten der Stille zurück. »Zayn hat etwas zu mir gesagt, dass dir vielleicht hilft, mit dieser ganzen Sache. Dass es mehr Sinn für dich ergibt. Ich kann mir vorstellen, dass du es hören wollen könntest.«

Ich sah ihn skeptisch an. »Weil ich ja auch so scharf darauf bin, zu hören, was Zayn noch alles so zu sagen hat. Eigentlich hat mir meine bisherige Geschmacksprobe ausgereicht.«

»Als du noch nicht von Sardinien zurück warst«, begann Harry, als hätte er meinen Einwand nicht gehört, »hat Zayn mich über dich ausgefragt.«

»Fabelhaft.«

Wieder überging Harry meine Bemerkung. »Er hat die Parallele zwischen Homophobie und unterdrückter Anziehung zum eigenen Geschlecht gezogen. Ich weiß, dass das kein neues Konzept ist. Aber es würde für dich so viel Sinn machen wie für alle anderen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Mag sein, dass das ein Faktor war.«

»Aber letztendlich ist es egal, Louis. Ich dachte nur, vielleicht würde es dir helfen, es besser für dich zu verstehen. Jetzt, wo das mit deiner Sexualität fürs erste geklärt ist.«

»Wir sind hier, Harry.« Ich stoppte vor dem Restaurant. Ein kleiner Außenbereich war von Lichterketten erleuchtet. Die Wärme und der Geruch des Essens waren schon von hier verführerisch.

Harrys Augen spiegelten die kleinen, goldenen Lichter in der stärker werdenden Dunkelheit. Sein Lächeln war friedlich. Er wollte auf die geöffnete Tür zugehen, aber ich hielt ihn am Handgelenk fest.

»Hey, Harry.« Er war zu schön, hier, in London. »Danke, dass du so geduldig mit mir bist. Und warst.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen lachte er leise. »Du bist der Geduldige von uns beiden, Louis! Du hast viel zu lange darauf warten müssen, dass ich dein ›Ich liebe dich‹ erwidert habe.«

Jetzt kribbelte das Lächeln auch wieder in meinen Mundwinkeln. »Es hat sich gelohnt.«

Harry küsste mich, süß und weich. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass er derjenige war, der mich dazu gebracht hatte, mich in diese Art von Kuss zu verlieben.
Obwohl, ich konnte es eigentlich sehr gut glauben.

Hand in Hand betraten wir das Restaurant. Ein junger Kellner erwartete uns hinter seinem kleinen Pult.

»Hallo.«, übernahm ich. »Ich habe einen Tisch bestellt.«

Der Rothaarige warf einen Blick in sein schwarzes Buch. »Natürlich. Mr. Tomlinson, schön, dass Sie hier sind.« Mit freundlichem Lächeln und den besonderen Tagesangeboten auf den Lippen führte er uns zu einem freien Tisch für zwei Personen. Von irgendwoher zauberte er zwei Speisekarten hervor und ließ uns allein.

Harry schlug sein Menü grinsend auf.»Eine wunderbare Wahl mit dem Restaurant, Mr. Tomlinson.«

Kommentarlos verdrehte ich die Augen und überflog die aufgelisteten Getränke. »Trinkst du Wein, Harry?«

Schulterzuckend blätterte auch er zum hinteren Teil der Karte. »Keine Ahnung. Hab ich noch nie probiert.«

»Ich finde, heute wäre ein guter Abend dafür. Soll ich für uns bestellen?«

»Klar. Ich bin froh, wenn ich mich aufs Essen konzentrieren kann.«

Prüfend warf ich Harry einen Blick zu. Ich schätzte ihn als einen Rotwein-Typen ein. Außerdem hielt ich es nicht für allzu wahrscheinlich, dass er Fisch bestellte. Mit einer trotzdem eher beliebigen Wahl sprang ich zurück zum Anfang der Karte.

»Ich werde mich niemals entscheiden können.«, seufzte Harry nach einer Weile. »Im Internat habe ich einfach komplett verlernt, Entscheidungen über mein Essen zu treffen. Es geht nicht besonders weit über Parmesan; ja oder nein, hinaus.«

»Und das ist eine einfache Entscheidung«, grinste ich. »Parmesan; ja.«

Harry nickte. »Immer.«

»Wenn das Internat schlechtes Essen hätte, wäre ich schon zwanzigmal ausgerissen.«

»Ehrlich gesagt bin auch so ziemlich überrascht, dass du nicht in den ersten Wochen ausgerissen bist. Du hast so ziemlich alles und jeden dort gehasst.«

»Nicht das Essen«, erinnerte ich ihn.

»Außer das Frühstück an den Wochentagen.«, gab er zu Bedenken.

»Außer das Frühstück an den Wochentagen.«, bestätigte ich. »Trockenes Toast und Obst halte ich immer noch für ein Verbrechen.«

»Haben Sie Ihre Entscheidung getroffen?« Wie aus dem Nichts stand unser Kellner wieder neben uns.

Ich nickte und scannte kurz die aufgeschlagene Seite. »Wir hätten gerne zwei Gläser vom NéPriCa Primitivo und eine Flasche Wasser.«

»Still?«

»Ja, bitte.«

Ich spürte Harrys ruhigen Blick auf mir.

»Wie sieht es mit dem Essen aus?«, fragte der Kellner, jetzt sah er Harry an.

Panik blitzte kurz in dessen Gesicht auf. »Das Zitronen-Pilz-Risotto.«, sagte er hörbar willkürlich. »Bitte!« Ich konnte mir mein Grinsen nicht verkneifen, als auch ich bestellte. Erst als der Kellner wieder weg war, stieß ich Harry unter dem Tisch mit meinem Fuß an.

»Du bist süß.«

Er stützte sein Gesicht in seine Hände. »Halt den Mund, Louis William.«

»Das war ein Kompliment.«

»Es gibt Komplimente, die du mir nur machst, wenn du dich eigentlich über mich lustig machst.«, erklärte er mit leichtem Vorwurf in der Stimme.

»Ich mache mich nicht über dich lustig, Haz, ich finde deine Überforderung niedlich.«

Trocken sah er auf. »Ich finde es niedlich, wie gemein du zu mir bist.«

Mein Lachen war so laut, dass das Pärchen am Nachbartisch sich zu uns umdrehte. »Ich finde es niedlich, wie du überreagierst.«

Trotzig stapelte er unsere Speisekarten in der Mitte des Tisches übereinander. »Vorsicht, Louis, mach ›niedlich‹ nicht zu einem Schimpfwort.«

»Das war das Harry-ste, was du je gesagt hast.«

Harry runzelte die Stirn, aber ein Lächeln begann, seine Lippen zu umspielen. »Du hast Glück, dass ich dich liebe. Sonst bräuchten wir noch ein paar andere neue Schimpfwörter.«

Wäre der Tisch nicht zwischen uns, hätte ich ihn geküsst. Aber das funktionierte im echten Leben nicht. Filme waren Lügen.

»NéPriCa« Der teleportierende Kellner schenkte uns beiden etwas vom dunklen Wein in unsere Gläser ein. Wir bedankten uns. »Und das Wasser. Gibt es noch etwas, das ich für Sie tun kann?«

Gleichzeitig schüttelten Harry und ich die Köpfe. »Nein, danke.« So wurden wir wieder alleine gelassen.

Ich hob mein bauchiges Glas leicht in Richtung Tischmitte. »Na dann. Auf unser erstes richtiges Date!«

Auch Harry hob sein Glas. Leicht schwenkte er es hin und her, um den Wein beobachten zu können. »Es ist nicht unser erstes Date. Ich dachte, das hätten wir geklärt.«

»Aber unser erstes richtiges, oder nicht?«

»Für mich waren alles andere auch richtige Dates!«

»Okay« Ich hob das Glas ein wenig höher. »Dann eben auf unser viertes oder fünftes oder wie-viel-auch-immer-tes Date.« Skeptisch runzelte Harry die Stirn. »Auf uns.«, korrigierte ich.

Harrys Glas traf meines mit hellem Klang. »Auf uns.«

»Ich habe die Zahnpasta benutzt, die im Spiegelschrank war.« Harry schaltete das Licht im Flur aus und schloss die Tür zu meinem Zimmer.

Ich kippte das Fenster an. Die kühle Luft streifte meinen nackten Oberkörper. »Ist gut. Das Bad ist allein meins, du kannst alles benutzen.«

»Danke, Louis.« Harry setzte sich auf mein Bett und begann, seine Hose auszuziehen. Ich hatte mich schon aller überflüssigen Kleidung entledigt.

»Wenn du willst, kannst du das anziehen.«, sagte ich und deutete auf das zusammengelegte T-Shirt, das ich auf dem Bett bereitgelegt hatte. Harry liebte meine T-Shirts. Ich liebte seine dicken Wollpullover und -socken.

Harry zog sich sein langärmliges Shirt über den Kopf. Seine Wangen waren noch immer etwas rot vom Wein. »Ich bin so froh, dass wir schon heute losgefahren sind. Morgen ist erst Freitag.« Seine Stimme war samtig, er wurde langsam müde. Es war die Autofahrt.

»Ich auch.« Ich knipste das Licht auf meinem Nachttisch an und das Deckenlicht aus. Im Sitzen schlüpfte ich unter die Decke, die nach dem frischen Waschmittel meiner Kindheit roch.

»Das Essen war himmlisch, Louis.« Harrys Kopf verschwand im Stoff des weißen T-Shirts, das ihm wie mir etwas zu groß war. Es war kein Verbrechen, Harry für meine Erinnerung klein halten zu wollen. Der Saum schnitt hoch auf seinen Oberschenkeln ab. Diese perfekten Beine.

»Ich werde es dem Chefkoch ausrichten.«

Lächelnd kletterte Harry auf die Matratze und lehnte sich weit genug über mich, um auch das Nachtlicht jetzt auszuschalten. Ich hielt seine Taille. Als es plötzlich dunkel war, rutschte ich ins Liegen, Harry in meinen Armen.

»Es ist schön, sich ein Bett zu teilen, das groß genug ist, dass keiner Angst haben muss, herauszufallen.«, murmelte Harry leise. Seine Stirn lag an meiner Wange. Er küsste meinen Hals federleicht. Ich drehte meinen Kopf und küsste seine Stirn. In seinen Haaren hing der warme Geruch des Restaurants nach. Ich dachte an meine Pläne für morgen Abend. Harry würde dem großen Bett noch dankbarer sein.

»Es ist schön, dich hier zu haben, Harry.«, sagte ich leise. »Es hat sich lange nicht so gut angefühlt, in diesem Haus zu sein.«

»Ich bin glücklich, Louis.«, flüsterte Harry. Seine Hände wärmten sich langsam in meinen auf. Wieder küsste ich seine Stirn und schloss jetzt die Augen.

»Das verdienst du, Harry.«

»Ich liebe dich, Louis.«

»Ich liebe dich auch.«

Für ein paar Sekunden war es still. Ich fragte mich, ob es das war. Worauf alles hinauslief. Worauf es immer hatte hinauslaufen sollen. Glück. Und Liebe.

»Gute Nacht, Lou.«

Die Antwort war vielleicht. Denn womöglich sollte man nicht wissen, worauf es hinauslief.

»Schlaf gut, Harry.«

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