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Louis

Das bisher einzige Mal in meinem Leben, an dem sich mein Gehirn wie ein Stein angefühlt hatte, war nach meinem ersten und letzten härteren Drogentrip gewesen.

Wie es schien hatte ich jetzt Moment Nummer zwei erreicht.

Harrys verquollenes Gesicht spiegelte vielleicht, was auch immer es war, das sich in meinem Inneren abspielte. Ich hätte keine einzige der Emotionen benennen können.

Ich war nicht belogen worden.

Das Puzzle hatte sich wie durch einen Blitzschlag zusammengesetzt, durch die elektrischen Spannungen zwischen Harrys unkontrollierten Forderungen und Zayns verächtlichen Worten ausgelöst. Entladung.

Ich war nicht belogen worden.

Doch. Aber nicht von Harry. Oder Niall. Oder Liam.

Ich war es gewesen, der die ganze Zeit im Unrecht gewesen war. Schlimmer noch, die Erkenntnis rann kalt wie Eiswasser in meinem Blut durch meinen Körper. Ich hatte alles falsch gemacht.

Beziehungen 101. Kommunikation. Ich hatte Harry abgewiesen und mich geweigert, ihn auch nur anzusehen.

Zayn hatte Harry geküsst, ohne Einverständnis. Harry hatte mich nie betrogen. Genau, wie Harry es die ganze Zeit über gesagt hatte. Und Niall. Und Liam.

In mir überschlugen sich die Schuldgefühle. Die Scham. All die Vertrauensbrüche, die ich Harry vorgeworfen hatte, hatte ich selbst begangen.

Harry blinzelte. Seine Lippen öffneten sich leicht, er atmete aus, ich spürte es auf meiner Haut. Und wie auf Knopfdruck mischte sich Hoffnung in meine Schuld, Erleichterung in meine Scham.

Harry hatte Zayn niemals küssen wollen. Er hatte mich nie hintergangen. Er hatte nie etwas getan, das mein Herz gebrochen hätte.

»Du hast nicht gelogen.«, wiederholte ich, dieses Mal flüsternd. Mein Hals fühlte sich ausgetrocknet an, obwohl meine Wangen in Salz schwammen. Die Tränen liefen einfach weiter, schneller als Harrys. Keine guten oder schlechten Tränen. Womöglich waren es Tränen der Überwältigung.

Ich zwang mich dazu, tief ein- und auszuatmen. Wieder ließ ich meine Finger Harrys streifen. Es gab kein Kribbeln. Nur den kleinen Impuls bekannter Wärme, die sich reflexartig in mir ausbreitete. Gottverdammte Liebe. Nicht mal der Glaube an Harrys Betrug mit Zayn hatte sie ersticken können. Vielleicht hatte ein winziger Teil von mir die ganze Zeit die Wahrheit gekannt.

»Okay, okay« Zayn erhob sich in einer flüssigen Bewegung, sein Blick löste sich von Harry. »Bleiben wir alle ganz ruhig. Louis hat herausgefunden, dass der Kuss unser erster war. Ich habe also eine kleine Lüge erzählt, ertappt! Aber sein wir mal ehrlich, Louis, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Harry nach allem, was passiert-«

Harrys Finger schlossen sich um meine. Kommentarlos und schneller, als meine Beine es alleine geschafft hätten, zog er mich aus dem Zimmer. Irgendwie schloss er die Tür hinter uns.

»Louis«, mein Name war mehr Atem als Stimme, aber es spielte keine Rolle, »wie viel hast du gehört?«

Mir war bis zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen, wie sehr ich es vermisst hatte, in Harrys grüne Augen zu sehen, ohne ihn hassen zu wollen. »Genug.« Die Antwort schien ihm nicht ausreichend zu sein, hilflos zog er die Augenbrauen zusammen. »Alles seit der halben Drohung mit dem von der Schule schmeißen«, versuchte ich es genauer. Wieder zwang ich mich zum Durchatmen. Für ein paar Sekunden schloss ich die Augen und versuchte, meine Gedanken so gut es ging zu ordnen. »Du hattest recht, Harry. Wir müssen reden.«

Ich erwiderte den sanften Druck seiner Hand und geleitete den Weg zurück zum Ende des Flurs. Aber ich kam nicht weit.

»Louis!« Harry blieb stehen und zwang mich damit auch zum Anhalten. Eine kleine Gruppe Schüler schob sich an uns vorbei. »Stopp. Ich muss erst sicher wissen, was das hier bedeutet. Ich kann nicht einfach so deine Hand halten, ohne zu wissen-«

Ich legte den Zeigefinger meiner freien Hand unter Harrys Kinn. Zayn hatte mich gelehrt, etwas nicht für selbstverständlich zu nehmen, solange ich es hatte. Zart hob ich Harrys Kinn an und küsste ihn, als wäre es der letzte Kuss, den ich ihm nie gegeben hatte. Seine Lippen schmeckten nach dem Salz seiner und meiner Tränen.

Aber das merkte ich kaum. Harrys Atem wurde zu meinem, seine Lippen hingen mit einer Sehnsucht an meinen, die mir einen Stich im Herzen versetzte. Er roch nach nichts, nur Harry. Der Geruch, der in unserem Zimmer über die letzten Tage langsam verblasst war.
Ich hatte Harry so vermisst. Alles; seine Lippen, seinen Geruch, seinen Atem.

Wie hatte ich es nur so weit kommen lassen können?

Langsam löste ich mich von ihm. Unsere Augen öffneten sich gleichzeitig. Ich ließ den Finger von seinem Kinn fallen. Als ein vorsichtiges Lächeln seine Lippen umspielte, traute auch ich mich, erleichtert seufzend zu lächeln.

Zwei weitere Jungs liefen an uns vorbei, quatschend und ausgelassen. Harrys Blick schien das Gleiche zu sagen wie meiner. Ich ließ seine Hand nicht los, als wir uns auf den Weg zu unserem Zimmer aufmachten.

Durch das Fenster fiel blasses, orangenes Licht, als wir den Raum betraten. Bald würde die Sonne hinter dem Horizont verschwinden. Meine Schulsachen lagen vom Lernen noch immer auf dem Tisch ausgebreitet. Ich setzte mich auf denselben Stuhl wie vorhin, aber Harry wählte dieses Mal einen Platz neben, anstatt gegenüber von mir.

Ich wischte mir die verbliebenen Tränenspuren endgültig vom Gesicht. Harry tat das Gleiche. Mit geradem Rücken saß er aufmerksam neben mir. Unsere Beine berührten sich nicht. Ich wusste, dass ich beginnen wollte.

»Es tut mir so leid, Harry. Alles.«

Harry nickte schwach. »Es tut mir leid, Louis.«

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Dir muss nichts leidtun! Dir darf nichts leidtun. Du hast nichts falsch gemacht!«

Er zuckte mit den Schultern. »Doch. Ich habe nicht einmal versucht zu verstehen, wie du dich fühlst. Ich war wütend. Auf dich, auf Zayn, auf Niall. Auf alle außer mich selbst.«

»Wieso hättest du auf dich selbst wütend sein sollen? Du hattest keine Schuld, Harry. Du wolltest nicht, dass Zayn dich küsst.«

»Nein.«, er senkte den Blick. »Aber ich habe es zugelassen. Ich hätte ihn sofort von mir stoßen sollen. Ich hätte es gar nicht erst geschehen lassen dürfen. Ich hätte wissen sollen, dass er es versuchen würde. Er hatte es irgendwie angedeutet, schätze ich. Bei unseren Gesprächen vorher. Es ist meine Schuld, dass es zu allem anderen kommen konnte.«

Ich holte tief Luft und atmete langsam aus. »Lass uns nicht darüber streiten, ob es dir leidtun sollte, Harry. Aber ich muss mich entschuldigen. Du hattest recht mit allem, was du vorhin gesagt hast. Ich hätte Zayn niemals mehr glauben dürfen als dir. Ich hätte dich nicht abblocken dürfen. Ich hätte ganz einfach nicht an dir zweifeln dürfen.« Ich blinzelte mehrmals, um zu verhindern, dass ich wieder mit dem Weinen beginnen würde.

»Wir müssen aneinander zweifeln dürfen, Louis. Vertrauen soll nicht blindes Vertrauen bedeuten.«

»Vielleicht nicht. Aber es muss bedeuten, dass ich dir glaube, wenn du mir sagst, dass Zayn dich geküsst hat, ohne dass du es wolltest. Es tut mir leid, Harry. Und du verdienst mehr als das, aber ich weiß nicht, wie ich wettmachen sollte, dass ich unsere Beziehung grundlos fallengelassen habe.«

»Das alles können wir rückgängig machen, nicht wahr?« Besorgt faltete er die Hände im Schoß. »Ich meine, das mit unserer Beziehung; sie grundlos beendet zu haben. Ich weiß nicht, wie es sich für dich angefühlt haben muss. Zu denken, dass ich dich betrogen habe. Vorhin, du hast gesagt, ich hätte dein Herz gebrochen, und das ist mehr, als-«

Ich beugte mich wieder vor, um seine Worte mit einem Kuss zu ersticken. Nur kurz lagen unsere Lippen aufeinander, dann lehnte ich mich ein paar Zentimeter zurück. Mit meinem Daumen strich ich die einzelne Träne auf Harrys Wange weg. »Ich will dein Freund sein, Harry, dein fester Freund.«, versicherte ich ihm mit allem Nachdruck, den ich aufbringen konnte. »Ich habe dich lange genug für eine Lüge von mir geschoben. Wenn du mir verzeihen kannst.«

Erleichtert seufzte er. »Ich will dich nie wieder mit einem gebrochenen Herzen sehen, Louis.«

»Ich will dich nie wieder wütend darüber sehen, dass ich dir keinen Glauben schenke, Harry.«

Er verflocht unsere Finger miteinander. Sein Blick lag auf unseren Händen, als beschützten sie ein Geheimnis, das größer war als wir beide. Ich konnte mich von dem Anblick seines Gesichtes losreißen. So viel Schönheit lag in der Friedlichkeit seines Ausdruckes, die ich ihm für zu lange geraubt hatte.

»Louis?«, fragte Harry nach einer Weile leise. Noch immer sah er unsere Hände an. »Was du vorhin als letztes gesagt hast...das mit dem Ende. Dass du allein sein wolltest. Endgültig. Mich nicht mehr wiedersehen wolltest. Wieso warst du da? Vor Zayns Zimmer? Wieso hast du mitangehört, was wir gesagt haben? Was du vorher gesagt hast, war ziemlich unmissverständlich. Wieso bist du mir gefolgt?«

»Ich bin dir nicht gefolgt, Harry. Ich meinte, was ich da gesagt habe. Ich wollte abschließen. Das ist eine weitere Sache, die du mir verzeihen musst.«

»Dass du abschließen wolltest?«

Auch ich sah jetzt auf unsere verschränkten Finger hinab. Dafür ließ Harrys Blick die Haut meines Gesichtes kribbeln. »Nein.«, sagte ich so ruhig wie möglich. Ich zwang mich, ihm in die Augen zu sehen. »Am Freitag hat Eleanor mich aufgesucht. Um sich über mich lustig zu machen, wie immer. Aber auch, um mir ein Angebot zu machen. Du weißt, was für eine Art von Angebot. Ich habe abgelehnt. Aber ich war nicht sicher. Ich hätte beinahe angenommen, Harry. Ich war verletzt. Und hatte nicht viel mehr zu verlieren. Ich wollte dich vergessen. Ich wollte es dir heimzahlen. Aber ich habe abgelehnt.« Seine Augen waren groß und ich wünschte, die folgenden Worte wären gelogen. »Als ich die Sachen mit dem Ende vorhin gesagt habe, meinte ich sie. Das war mir vorher noch nicht so deutlich bewusst gewesen. Wie wichtig es war, dich zu vergessen. Weil ich begriffen hatte, dass du mir noch viel zu viel bedeutest. Also wollte ich Eleanors Angebot annehmen. Ich bin dir nicht gefolgt. Dein Geschrei bei offener Tür in Zayns Zimmer war nur zu laut, um mich nicht anhalten zu lassen. Sonst wäre ich jetzt bei Eleanor.«

Harrys verlorener Gesichtsausdruck machte mir Angst. Ich hatte ihm nie von der ganzen Öl und Wasser Geschichte erzählt. Er hatte nie auch nur erfahren, dass Eleanor und ich seit Harrys und meiner Beziehung überhaupt Kontakt gehabt hatten. Auch wenn der nicht von mir ausgegangen war – oder viel eher deswegen. Also sollte es keine Überraschung sein, dass Harry geschockt reagierte. Ganz bestimmt das letzte, womit er gerechnet hätte, wäre, mich sagen zu hören, dass ich auf dem Weg gewesen war, um Sex mit Eleanor zu haben. Aber wir hatten in den letzten Tagen zu viele Lügen und Halbwahrheiten zwischen uns stehen gehabt. Ich konnte es nicht bereuen, jetzt komplett reinen Tisch zu machen.

Es dauerte eine Weile, aber dann nickte Harry. Nachdenklich neigte er seinen Kopf von einer Seite zur anderen. Anschließend lächelte er zaghaft. »Ich schätze, dann wird Eleanor sich darüber freuen, wenn ich ihr erzähle, dass sie unsere Beziehung gerettet hat.«

Von der vielleicht letzten Last befreit lachte ich erleichtert. Ich drückte Harrys Hand. Er neigte sich vor und küsste meinen Mundwinkel. Ich hatte ihn so sehr vermisst. »Ich liebe dich, Harry.«, sagte ich geradeheraus, auch wenn ich nicht sicher war, ob ich damit zu eilig war. Alles, was ich wusste, war, dass wir gerade dabei waren, volle Wahrheiten zu sagen.

Doch Harry lächelte. Zum ersten Mal seit zu langer Zeit sah ich die Grübchen in seinen noch immer leicht verweinten Wangen. Eigentlich verdiente ich ihn nicht.

»Eine Sache ist da noch«, Harrys Gesicht wurde wieder ernst, »Was ist mit Zayn?«

Ich runzelte die Stirn. »Was sollte mit ihm sein?«

Kurz zögerte Harry. »Ich weiß nicht, wie schnell er aufgibt. Ich weiß auch nicht, wie ernst er es mit mir meinte. Keine Ahnung. Ich will nur sagen, dass wir vielleicht darauf vorbereitet sein sollten, dass er weiter versucht, uns zu manipulieren.«

Natürlich. An Zayn hatte ich noch keinen weiteren Gedanken verschwenden wollen. Aber Harry hatte recht. Womöglich waren wir ihn noch nicht endgültig los. »Wenn er sich nochmal an dir vergreifen sollte, werde ich ihn eigenhändig in ein Flugzeug nach New York setzen. Oder Paris, darf er sich aussuchen. Aber ich werde mir etwas einfallen lassen. Für den Fall, dass er seine Lektion noch nicht gelernt hat.«

Harrys Lächeln war schwach, aber ich war auf Entzug gewesen und so erschien es mir wie das Schönste, das ich je gesehen hatte.

Plötzlich fiel mir etwas ein. »Ich hätte da auch noch eine Sache.«, ich stupste sein Knie mit meinem an. »Ich weiß, Niall ist dein bester Freund und alles. Aber du kannst manchmal ein ganz schön anstrengender Mitbewohner sein, mit all deinem Zeichenkarton und den zahllosen Büchern und dem nach Farbe sortierten Kleiderschrank. Ich will nur sagen, dass Niall sich vielleicht darüber freuen würde, ein bisschen entlastet zu werden...«

Jetzt brach Harry in ein echtes, breites, aufgeregtes Strahlen aus. »Ich würde es lieben, wieder einzuziehen.«

Ich spiegelte sein Lächeln amüsiert. »Natürlich. Du hast meine Unordnung vermisst.«

»Ich bin mir gar nicht so sicher, ob du unordentlicher bist als ich«, grinste Harry. Ich legte meine Lippen auf seine und küsste ihn, einfach weil ich es jetzt konnte. Weil er der beste Küsser war. Weil ich ihn liebte. Weil ich ihn verdammt vermisst hatte. Weil ich jetzt wusste, dass ich ihn garantiert nicht wieder so einfach verlieren würde.

Mit einem seligen Lächeln löste ich mich aus dem Kuss. Harry hielt seine Augen geschlossen. Wenn es mir überlassen wäre, könnte ich ihn für immer so ansehen.

Doch ich überwand mich und seufzte leise. Harry schlug die Augen auf. Mehr oder weniger unfreiwillig ließ ich seine Hand los und begann, auf dem Rücken des Englischbuches einen Rhythmus zu klopfen. »Ich schätze, ich sollte weiter lernen. Du hast mir ein bisschen Lernzeit geraubt, Harry. Also schuldest du es mir jetzt, mich nicht weiter abzulenken.«

Harry nickte. Wir hatten beide gewusst, dass er nicht viel länger geblieben wäre, so oder so. »Also gut. Dann werde ich stattdessen Niall ablenken. Mit meinem Auszug aus seinem Zimmer.« Er stand auf. Natürlich war mir klar, wie wenig er es erwarten konnte, Niall von den Geschehnissen zu erzählen.

Mir ging es ähnlich. Nicht mit Niall, aber Liam. Ich musste mich bei ihm entschuldigen. Aber das konnte warten, bis ich die Stichpunkte zum verfluchten Viktorianischen Zeitalter beendet hatte. Das erschien mir jetzt wie eine viel geringere Herausforderung als noch vor einer halben Stunde.

Ich hatte Harry zurück. Und an der Erleichterung und den Glücksgefühlen, die damit kamen, konnten nicht mal Charles Dickens und Thomas Malory etwas ändern.

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Fine Line ist ein Jahr alt und Louis hat die drittgrößte Online Show des ganzen Jahres (größte! eines männlichen Soloartists) veranstaltet <3

Gute Tage

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