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Louis
Am Abend waren einige von Harrys Sachen verschwunden. Kleidung, Bücher, Zeichensachen. Sein Wecker war weg. Ich wusste, was das hieß. Er würde bis auf Weiteres in Nialls Zimmer bleiben.
Ich sollte froh darüber sein. Ich wollte Harry nicht sehen. Oder seinen Atem von der anderen Seite des Zimmers hören – auch wenn es sich falsch anfühlte, ohne das stete, leise Geräusch.
Aber ich hatte im Verlaufe des Tages verstanden, wie viel größer das ganze Problem war. Natürlich wollte ich Harry nicht sehen. Sein Anblick machte mich wütend und traurig und verdammt verzweifelt. Aber wenn ich ihn nicht sah, wenn ich alleine in dem Zimmer saß, in dem ich nie alleine gewesen war, fühlte ich mich leer. Einsam. Ich fühlte mich fremd. Ich fühlte mich wie an meinen ersten Tagen hier im Internat. Denn es waren die Menschen gewesen, die es zu einem Zuhause gemacht hatten. Harry. Jetzt war er es, der all das wieder rückgängig machte.
Ich gehörte nicht hierher. Ich hatte nie hierher gehört. Nur eine Lüge hatte mich vorübergehend das Gegenteil glauben lassen. Aber jetzt kannte ich die Wahrheit.
Nur gab es jetzt kein Zurück mehr. So sehr ich auch die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen wollte; es war unmöglich. Ich war hier. Ich hatte mich Hals über Kopf verliebt, zum ersten Mal in meinem Leben. In einen Jungen, der weniger von Monogamie hielt, als er mich glauben lassen hatte.
Ich ließ beinahe den Hefter in meiner Hand fallen, als es an der Tür klopfte. Innerhalb weniger Sekunden ging ich alle möglichen Personen im Kopf durch. Es waren ja nicht besonders viele.
Harry; bitte, bitte nicht. Aber wieso sollte er herkommen, wenn er wusste, dass ich es nicht wollte?
Zayn; alle, bloß nicht er. Falls es Zayn war, konnte ich für nichts garantieren.
Niall; wohl kaum. Außerdem betrat er Räume wie und wann er wollte. Er klopfte nicht.
Evelyn; nein. Zwei Gespräche mit der Schulleiterin am gleichen Tag waren nicht möglich, nicht mal für mich.
Irgendjemand anderes vom limitierten Schulpersonal; ähm, nein. Sie kamen nie auf unsere Zimmer, bis auf ein paar Ausnahmen, aber das auch nur, wenn wir nicht da waren.
Plötzlich wurde mir klar, dass all das gar keine Rolle spielte. Es änderte nichts an der Tatsache, dass ich mit niemandem reden wollte.
»Nein«, verkündete ich also laut genug, dass es vom Flur aus gehört werden konnte. Meine Stimme brach schon bei dem einzigen Wort. Ich hatte sie seit heute Morgen nicht mehr benutzt.
Die Tür öffnete sich. Verärgert stand ich auf und wollte sie zuschlagen, bevor jemand das Zimmer betreten konnte. Aber Nialls Fuß war schneller. Ich unterdrückte ein Seufzen. Natürlich war es Niall. Er betrat Räume wie und wann er wollte.
»Weißt du, was ›Nein‹ bedeutet?«, fuhr ich ihn an, ohne die Türklinke loszulassen.
Niall schob sich an mir vorbei ins Zimmer. »Wir müssen reden, Louis.« Sanft, aber entschlossen umfassten seine Finger meine und lösten sie von der Klinke. Er schloss die Tür und setzte sich auf einen der leeren Stühle.
Ich presste meinen Kiefer zusammen. »Du weißt, dass ich nicht reden will, Niall. Sonst wäre Harry selbst hergekommen.«
»Louis, Harry wusste nicht, dass Zayn ihn küssen wollte. Oder würde. Die beiden haben nichts am Laufen. Harry hätte nie jemand anderen- er will niemanden außer dich, Louis.«
»Wusstest du Bescheid, Niall, die ganze Zeit?«, meine aufgebrachte Stimme klang in meinen eigenen Ohren nach. »Oder hat er es dir erst jetzt berichtet, wo es sowieso raus ist, und du bist hier, weil du Harry in allem unterstützt? Sogar bei dieser verfluchten Lüge?! Ich meine, ist ja klar, dass du auf seiner Seite bist, aber dann lass mich wenigstens in Ruhe!«
Niall runzelte die Stirn. In seinen Augen lag eine Geduld, die ich von ihm nicht kannte. Doch, ich kannte sie von dem letzten Mal, als Niall mit mir geredet hatte, als wäre ich sein bester Freund und nicht Harry. Wieso fuhren sie diese Strategie jetzt wieder? Was sollte das bewirken?
»Louis«, sagte Niall langsam. »Hast du vorher je in Erwägung gezogen, dass Harry...nicht nur dich hat?«
Ich wollte Niall einfach nur rausschmeißen. Was war das bitte für eine dreiste Frage? »Natürlich nicht!«
»Du hast es nie in Erwägung gezogen, weil es nie passiert ist, Louis. Harry hatte niemals etwas an der Seite laufen. Weder mit Zayn noch sonst irgendwem. Es ist alles ein Missverständnis. Du hast den Kuss doch selbst gesehen. Sah es aus wie ein Kuss, der auf Gegenseitigkeit beruhte? Hat Harry ihn erwidert?«
Frustriert knallte ich den Hefter auf den Tisch. »Hat Harry dir das alles Wort für Wort in den Mund gelegt?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber du lässt ihn nicht selbst mit dir reden.« Nicht auch nur der Hauch eines Vorwurfs lag in seiner Stimme.
Mit jeder Sekunde verstand ich seine Intentionen weniger. »Niall, wenn ihr dieses Lügenspiel weiter aufrecht erhalten wollt, wieso sagst du nicht die Sachen, die du wirklich als Harrys bester Freund in dieser Situation sagen würdest?! Wieso bist du nicht wütend auf mich, dafür dass ich Harrys angeblich wahrer Version des Kusses nicht glaube? Wieso wirfst du mir nicht vor, dass ich ein schlechter fester Freund bin? Oder eher war. Wieso schreist du mich nicht dafür an, dass ich Harry verletze, weil ich ihm nicht glaube? Wenn eure süße, unschuldige Geschichte stimmt, wieso tust du dann nicht all diese Sachen, die du eigentlich tun würdest?«
Niall stand auf. Ich dachte schon, er würde das Zimmer verlassen, weil ihm meine unkontrollierten Emotionen und gehobene Stimme zu viel wurden. Aber er blieb direkt vor mir stehen. Unangefochtene Ruhe glomm in seinen blauen Augen. »Weil du gesehen hast, was du gesehen hast. Wenn ich du wäre, würde ich das Gleiche glauben. Wenn Harry du wäre, würde er das Gleiche glauben. Vielleicht, da bin ich mir nicht ganz sicher. Aber darum geht es nicht! Worauf sollte ich wütend sein, Louis? Dass du das tust, was jeder tun würde? Du glaubst an das, was auf der Hand liegt. Aber hör mir zu. Harry hat dich nicht betrogen, oder hinter deinem Rücken eine Affäre. Er hat keine Gefühle für irgendjemanden außer dir. Aber das sollte er dir selber sagen. Rede mit Harry, hörst du, Louis? Rede mit ihm, ihr müsst das aufklären. Ihr seid Louis und Harry. Du hast ihn glücklich gemacht, verdammt glücklich, Louis! Lass ihn mit dir reden. Schreit euch an, wenn es das braucht, aber findet die Wahrheit heraus.«
Ich hob fragend meine Augenbrauen. »›Louis und Harry‹, hm? Das hat aber wirklich Harry dir in den Mund gelegt.« Mit gezwungener Ruhe platzierte ich eine Hand zwischen Nialls Schulterblättern. Als ich ihn in Richtung Tür schob, wehrte er sich nicht. »Wir sind nicht ›Louis und Harry‹, Niall, wir waren es mal. Frag ›Zayn und Harry‹, wie das zustande gekommen ist.« Ich schloss die Tür, bevor er noch etwas antworten konnte.
Ich hatte keine Energie mehr, keinen Funken in meinem ganzen Körper. Ich hatte keine Kraft mehr, weiter belogen zu werden. War jeder um mich herum gegen mich? Gab es eine geplante Verschwörung, mit dem Ziel, mein Herz zu brechen?
Hatte Harry mich verletzen wollen? Oder hatte er unbewusst Gefühle für Zayn entwickelt und sich dann dazu entschieden, mich anzulügen?
Die genaue Wahrheit nicht zu kennen, war fast schlimmer als Harrys Hintergehen. Ich wollte Antworten. Aber wer würde sie mir geben?
Nicht Harry, er war nicht bereit, das Lügennetz aufzurollen, das hatte Nialls Gespräch mir bewiesen. Sonst gab es nur Zayn. Er würde mir wahrscheinlich liebend gern in allen Einzelheiten berichten, wie alles abgelaufen war – während ich nicht den blassesten Schimmer gehabt hatte. Das Problem war nur, dass ich mir nicht vorstellen konnte, es mit Zayn im gleichen Raum auszuhalten.
Aber ich brauchte die verdammten Antworten. Also musste ich dieses Opfer bringen. Vielleicht wäre das nicht nötig, wenn ich einfach weinen könnte. Ich wollte weinen, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, all den Schmerz und die Wut aus mir herauslassen. Aber meine Tränen waren nach gestern versiegt.
Also brauchte ich die Wahrheit. Hoffentlich würde sie mir helfen. Sie würde wehtun. Aber das hatte Harry schon begonnen. Der erste Schritt war getan. Wieso nicht weiter den Pfad der Verzweiflung hinuntergehen?
Es war Zeit für das Ende der Lügen.
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