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Louis

Der Biotest lief besser als erwartet.

Nachdem Harry und ich gestern gelernt hatten, wie es sich anfühlte zu streiten, und auch sich zu vertragen, hatte es keiner ausgesprochenen Worte benötigt, um zu wissen, dass keiner von uns das in naher Zukunft wiederholen wollte. Ich war unendlich dankbar, jetzt Harrys Hand halten zu können in dem Wissen, dass er nicht mehr wütend auf meine Worte von gestern war.

Außerdem freute ich mich auf heute Abend. Jetzt, wo der Druck wegen Biologie wegfiel, konnte ich mich komplett darauf konzentrieren.
Erst heute Morgen war mir aufgefallen, dass ich gestern in der Menge an Emotionen und Schuld nicht einmal realisiert hatte, dass es der schlechtmöglichste Zeitpunkt für einen Streit überhaupt war; wenn man an heute Abend dachte. Deswegen war ich jetzt verdammt erleichtert, dass auch Harry gestern keinen blassen Schimmer von dem unglaublich schlechten Timing gehabt hatte.

Unterm Strich bedeutete das, alles sollte wie geplant funktionieren.

»Ich bin so froh, dass ich alles geschafft habe!«, unterbrach Niall meinen Gedankenfluss. »Eine halbe Stunde vor Schluss dachte ich, ich würde niemals fertig werden. Mrs. Baker gibt immer so wenig Zeit.«

»Können wir jetzt bitte nicht über Bio reden?«, schaltete Liam sich ein und Zayn nickte zustimmend. »Ich habe einfach nur noch Hunger. Die letzten drei Tage habe ich an nichts anderes gedacht als Bio, jetzt will ich fürs Erste an alles außer daran denken. Lasst uns runter in den Speisesaal gehen.«

Niall boxte Liam in die Seite. »Sehr guter Vorschlag, Liam. Noch morgen, Donnerstag, Freitag, dann sind Ferien. Keine Tests mehr für die Tage. Wir sollten genießen, dass die Lehrer uns für ein paar Tage nicht mehr terrorisieren.«

»Geht schon vor.«, schaltete ich mich ein und ließ Harrys Hand los. Mit meiner anderen Hand hielt ich zur Erklärung das Fachbuch hoch, mit dem Harry und ich direkt vor dem Test noch ein paar Sachen durchgegangen waren. »Ich bring das nur schnell hoch. In den Speisesaal darf ich's eh nicht mitnehmen.«

Ich spürte Harrys Finger wieder zwischen meinen. »Ich komme mit. Immerhin habe ich es überhaupt erst mitgenommen. Wir kommen gleich nach.«

Liam nickte, Niall formte mit seinen Lippen einen Kussmund, Zayn verzog sein Gesicht leicht zu einer unzufriedenen Maske, aber ich wusste nicht, was das mit uns zu tun haben sollte.

»Dann bis gleich«, sagte ich, als wir in der Eingangshalle an der breiten Treppe vorbei liefen und Harry und ich auf die Stufen abbogen. Ich fügte noch »Haltet uns Plätze frei« hinzu, obwohl ich a) nicht mal mehr sicher wahr, ob sie mich noch hörten, b) wir fast immer am gleichen Tisch saßen, den ziemlich wahrscheinlich niemand uns wegnehmen würde, und c) das letzte Mal, als Liam und Niall uns hatten Plätze reservieren wollen, Harry und ich mit Orgasmen in der Bibliothek geendet waren. Ich beschloss, weder über a), b) noch c) weiter nachzudenken.

Als wir unser Zimmer betraten, erschrak ich vor der Kälte. Auch Harry an meiner Seite zuckte zusammen. Wir hatten das Fenster heute Morgen vergessen zu schließen, und auch wenn es langsam Frühling und wärmer wurde, war es noch deutlich zu kalt, um sein Zimmer für mehrere Stunden zu lüften. Schnell lief Harry zum Fenster und schloss es. Ich stand einen Moment lang vor dem runden Tisch in der Zimmermitte und überlegte, woher innerhalb dieser vier Wände ich dieses Buch hervorgeholt hatte, aber ich konnte mich nicht erinnern. Also legte ich es irgendwann einfach auf den Tisch, zwischen einige meiner Notizen von gestern. Die Kälte hatte mich auf eine Idee gebracht.

Als ich wieder aufsah, war ich überrascht, Harry nicht mehr am Fenster zu sehen. Ich drehte mich um und sah ihn im Türrahmen lehnen. Ich hatte nicht gemerkt, dass er schon wieder dorthin zurückgekehrt war.

»Louis?« Harrys Stimme war weich und erinnerte mich irgendwie an den ersten Tag der Herbstferien, an dem Harry uns in die gelben Regenanzüge gesteckt hatte. Ich fragte mich, ob ein winziger, unbewusster Teil von mir sich in der Nässe unter dem Baum bereits in Harry verliebt hatte. Ich hatte mich so sehr verändert, seit letztem Spätsommer. Aber auch Harry hatte sich verändert. Wenn ich mich richtig erinnerte, hatte ich Harry an diesem Tag berichtet, dass meine längste Beziehung bisher vier Wochen gehalten hatte, während Harry gestanden hatte, noch nie einen Freund gehabt zu haben. Wenn wir damals gewusst hätten, dass wir gegenseitig so einiges an diesen Fakten ändern würden...

Ich nickte, damit Harry weitersprach. Er legte seinen Kopf in eine leichte Schräglage. »Du siehst glücklich aus heute.«, sagte er ohne zu werten. Obwohl, er klang froh darüber. Ich lächelte sanft, ich hätte mir denken können, dass es ihm auffällt. »Ist es wegen gestern? Also, wegen nach dem...Streit? Dass alles wieder okay ist?«, fragte er, dieses Mal wirklich ohne Wertung.

Ich nickte, bevor er auf eine andere Idee kommen könnte. Natürlich war ich auch noch immer erleichtert darüber, dass wir uns gestern zum Glück wieder vertragen hatten, aber was Harry aufgefallen war, hatte wohl mehr oder weniger ausschließlich mit heute Abend zu tun. Ich biss mir kurz auf die Innenseiten meiner Wangen, um keine voreilige Andeutung zu machen. Überraschung blieb Überraschung.

»Lass uns runter gehen.«, entschied ich mich also, nicht auf Harrys Bemerkung einzugehen. Ich küsste seinen Kiefer, als ich die Tür langsam hinter mir zuzog. »Ich habe Hunger.«

Harry nickte, auch wenn er sich nicht ganz sicher zu sein schien, ob er nicht doch nachfragen sollte. Glücklicherweise entschied er sich dagegen. Stattdessen folgte er meinem Wunsch und schnell waren wir unten am Tisch bei den anderen.

»Zayn bleibt fast die ganzen Ferien über hier!«, verkündete Niall als allererstes, als wir nebeneinander bei ihnen Platz nahmen. Ich runzelte die Stirn und fragte mich, weshalb Niall diese Information als so teilungswürdig empfand. Er klang beinahe besorgt.

»Wieso das, Zayn?«, fragte Harry ohne ihn anzusehen. Er füllte erst mir, dann sich Suppe in die Schüsseln.

Zayn hingegen sah zu Harry herüber. »Ich bin eigentlich nicht hier. Nur einen Teil. Meine Eltern sind in Paris, die ganzen zweieinhalb Wochen. Geschäftlich, deswegen wollen eigentlich weder ich noch sie, dass ich nachfliege. Meine Eltern wollen, dass ich zu meinen Großeltern fahre, aber bei ihnen halte ich es nicht länger als eine Woche aus. Also bleibe ich nur sechs Tage. Den Rest der Ferien bin ich hier. Es wird schon nicht so langweilig, hoffe ich.«

»Wenn du jemanden findest, der auch hier bleibt, kann es ganz lustig werden.«, grinste ich, während ich ein Stück Baguette in meiner Suppe tränkte. »Nicht wahr, Harry?« Harry lächelte mich von der Seite an.

»Was Louis dir damit sagen will«, schaltete Niall sich mit Augendrehen ein, »dass du vielleicht deine große Liebe in den Ferien hier findest. Die beiden hier«, Niall zeigte mit seinem Löffel anklagend auf Harry und mich, »haben nämlich mit einer unbeabsichtigt gemeinsamen Ferienwoche in diesem Internat ihre Seelenverwandtschaft besiegelt oder sowas in der Art.«

Harry lächelte unkontrolliert mit gesenktem Kopf in seine Suppe. Ich schwieg und genoss diesen Moment. Liam verdrehte wie Niall vorher die Augen. Niall seufzte, als würde er Harry und mich entweder lieben oder verabscheuen. Zayn stocherte unzufrieden in seiner Suppe herum – zumindest so gut man mit einem Löffel in einer Suppe herumstochern konnte.

»Wo wohnen deine Großeltern?«, fragte Liam irgendwann, nachdem der Moment offenbar vorbei war. »Amerika?«

Zayn begann irgendetwas von Somerset zu erzählen. Ich hörte schnell nicht mehr zu. Harry neben mir schien interessiert der Schilderung vom Wohnort von Zayns Großeltern zu folgen. Aber ich hoffte, dass wenn Harry wüsste, was der Abend bringen würde, er vor Vorfreude genauso wenig zuhören könnte, wie ich es tat.

Harry

»Schlaf gut, Harry.« Niall deutete ein kleines Winken an, ich schlüpfte auf den Flur. Er sagte es in einem Tonfall, den ich nicht komplett verstand. Aber nicht mal ich verstand Niall immer komplett.

»Gute Nacht, Niall.«, erwiderte ich, bevor ich ihm den Rücken zudrehte, um den Waschraum zu Louis' und meinem Zimmer hin zu verlassen. Es waren nicht mal mehr drei Minuten bis zu Nachtruhe und so war ich doch ein bisschen überrascht, als ich in unserem Zimmer stand und es noch leer war.

Ich hatte den Abend mit Niall in dessen Zimmer verbracht und Louis war mit Liam zusammengewesen. Ich hatte angenommen, die beiden würden hier sein, aber vielleicht waren sie bei Liam gewesen. Im Waschraum hatte ich eben keinen von ihnen gesehen. Naja, wie auch immer.

Es war noch immer kalt im Zimmer, auch wenn ich das Fenster schon vor Stunden geschlossen hatte. Es war aber noch immer so kalt, als hätte ich es erst jetzt geschlossen. Vielleicht war die Heizung kaputt, ich sollte mit Evelyn reden. Oder dem Hausmeister. Aber nicht mehr heute. Ich schielte auf den Wecker auf Louis' Nachttisch. Nachtruhe. 

Sicher würde Louis bald zurück sein. Ich ging sicherheitshalber zur Heizung und überprüfte, dass sie an war. Das war sie, aber weil es trotzdem eiskalt war, entschied ich mich dazu, mich erst umzuziehen, wenn Louis zurück war. Er könnte mich wärmen. Ich lächelte bei der Vorstellung und dachte an gestern Abend. Wir hatten noch ewig geredet, über jeden kleinen Aspekt unserer Gefühle, die das Fass gestern zum Überlaufen gebracht hatten. Erst nach Mitternacht waren wir irgendwann in meinem Bett eingeschlafen. Aber wir hatten uns ausgesprochen und das war alles gewesen, was zählte.

Streiten hatte sich furchtbar angefühlt, aber heute Morgen war ich mir fast sicher gewesen, dass es vielleicht sogar gut gewesen war, dass es passiert war. Denn wir hatten gestern Nacht über so viel geredet, über wichtige Dinge, die angesprochen werden mussten. Jetzt fühlte sich alles leichter an und ich hatte das starke Gefühl, dass das genau richtig war. Ich war nur froh, dass wir gut mit der Situation umgegangen waren – und jetzt alles wieder gut war. Vielleicht sogar besser.

Ich gab die Hoffnung auf, dass die Heizung mir noch irgendetwas Gutes tun würde und ging zu unserem Kleiderschrank. Anstatt mich fürs Schlafen auszuziehen, zog ich einen von Louis' dicken Pullovern aus seinen Fächern und zog ihn mir über. Ich war mir mittlerweile nicht mehr sicher, ob wir die gleiche Kleidergröße trugen oder ich schon größer war, aber das war mir auch egal.

Langsam fragte ich mich wirklich, wo Louis blieb, aber ich griff nach einem meiner Bücher und setzte mich mit dem Blick zur Tür an den Tisch und las.

Die Minuten verstrichen ohne Louis' Rückkehr. Nach einer Viertelstunde stand ich wieder auf und zog mir ein weiteres, dickes Paar Socken über. Beunruhigt starrte ich die Tür an, sobald ich wieder saß. Ich wusste, dass Louis sich um diese Zeit außerhalb des Zimmers schon eine Menge Ärger mit den Lehrern einhandeln konnte. Ich schlug die Beine übereinander, rieb meine Hände aneinander warm und las weiter.

Bald hatte ich mich an die Kälte gewöhnt. Es vergingen aber nochmal fast zwanzig Minuten, bis es leise klopfte und die Tür sich öffnete, bevor ich etwas sagen konnte. Louis lächelte mich an.

Ich stand sofort auf. »Louis, es ist über eine halbe Stunde nach-«

Er legte stumm einen Finger auf seine Lippen, betrat das Zimmer, ohne die Tür zu schließen. Ich starrte ihn ungläubig an, während er mich kurz von oben bis unten musterte und dann zufrieden nickte. Mir fiel auf, dass auch er mindestens zwei Pullover übereinander trug. Wo war er gewesen?

»Louis«, zischte ich fragend in die Stille, »was ist hier los?«

Er schüttelte nur den Kopf, zum Zeichen, dass ich nicht reden sollte. Ich verlor langsam die Bedeutung von all dem hier.

»Harry«, sagte Louis endlich und kam vor mir zum Stehen. Er nahm beide meiner Hände in seine. »Du musst jetzt bitte ganz leise für mich sein, okay?«, sagte er kaum hörbar. Ich konnte nichts anderes tun, als ihn mit großen Augen anzusehen. Das letzte Mal, an dem er mir gesagt hatte, ich müsse leise sein, war in der Bibliothek gewesen. Gott, was hatte Louis vor?

Ohne ein weiteres Wort zog er mich an einer Hand zur Tür. Ungläubig blieb ich stehen. »Louis«, flüsterte ich eindringlich, »Nachtruhe.«

Louis sah mich an und zog amüsiert die Mundwinkel hoch. Er küsste meine Lippen sanft. »Shhh«, sagte er als einzige Erklärung und zog mich dann auf den dunklen Flur hinaus. Leise schloss er die Tür hinter uns.

Ich wusste nicht genau, was passierte, aber ich ließ mich mitziehen. In zwei Zimmern hörte ich noch Jungs sich unterhalten, ansonsten war es still. Ich wollte Louis fragen, wo wir hin wollten, aber er wollte, dass ich leise war. Ich hielt die Luft an, als wir am Lehrertrakt vorbeiliefen. Unsere Schritte waren nicht laut, aber unsere Umgebung war komplett still.

Ich blieb plötzlich stehen, als ich den Farbschimmer gegenüber des oberen Endes der Treppe sah. Der ausladende Balkon, der die Blicke aller Ankömmlinge schon von dem Parkplatz aus begrüßte, schimmerte schwach durch die Scheiben in unterschiedlichen Farben. Louis drehte sich zu mir um. Ich deutete auf die Türen des Balkons, Louis nickte bestätigend. Er führte mich bis zu den hohen Türen.

Ich starrte hinaus auf den Balkon. Louis lehnte sich zu mir herüber, ich spürte seine Lippen die Haut neben meinem Ohr streifen.

»Überraschung«, flüsterte er leise.

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