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Louis
Ich bereute es nicht.
Natürlich war das alles nicht so abgelaufen, wie ich mir die Reaktion auf mein erstes ehrliches ›Ich liebe dich‹ gewünscht hatte. Aber letztendlich waren dies wohl die Momente, in denen Harry und ich daran erinnert wurden, dass wir nicht in einem perfekten Märchen lebten, aber trotzdem glücklich miteinander sein konnten.
Niemals würde ich Harry Vorwürfe machen. Das einzige, das ich noch mehr wollte, als dass Harry meine Liebe erwiderte, war, ihn niemals zu solchen Schlüssen zu zwingen. Ich selbst war schließlich das allerbeste Beispiel dafür, wie lange es dauern konnte, dass man Liebe wirklich realisierte und verstand. Ich hatte Wochen und endlose Stunden des Überlegens dafür gebraucht, meine Gefühle wirklich betiteln zu können, nachdem ich das erste Mal an Liebe gedacht hatte. Harry wurde vielleicht heute von mir das erste Mal auf den Gedanken an Liebe gestoßen; dann hatte er jedes menschliche Recht, sich ebenso viel Zeit zu lassen, wie ich es getan hatte.
Aber ich denke, es war trotzdem okay, dass ich ein winziges bisschen traurig war. Das war normal, nicht wahr? Ich würde es Harry natürlich nicht sagen, denn das würde ihm bis auf ein noch schlechteres Gewissen nichts bringen.
Dafür hatte ich mir etwas anderes überlegt, das ich jetzt tun würde. Normalerweise war das Harrys Standardlösung, aber jetzt hielt ich es auch für mich für sinnvoll; Niall.
Harry lief immer zuerst zu Niall, redete mit ihm über alles, was ihn beschäftigte. Natürlich war das auch das erste, was er getan hatte, sobald wir wieder hier im Internat gewesen waren und ich Niall bei Liam abgelöst hatte.
Ich hatte Liam erzählt, was passiert war, und er hatte mich mitfühlend umarmt und mich dann bittend gefragt, ob wir ›vielleicht später darüber reden könnten?‹. Chemie beanspruchte ihn wirklich maßgeblich. Also hatte ich ihm so gut es ging bei Chemie geholfen, bis Harry mich zwei Stunden später abgelöst hatte. Ich war mir nicht sicher, aber vielleicht hatte er geweint.
Ich wusste, dass er wahrscheinlich die vollen zwei Stunden mit Niall geredet hatte. Und ich wusste auch, dass ich ihn jetzt ebenfalls aufsuchen würde.
Der Jungstrakt lag ziemlich still da, nur als ich an den Waschräumen vorbeilief, konnte ich Wasserrauschen und einige Stimmen hören. Ich stand kurz vor Nialls Tür und überlegte, ob ich klopfen sollte. Letztendlich tat ich es, mildes Klopfen, bevor ich eintrat.
Niall saß im Schneidersitz mit einem Buch in seinem Schoß auf seinem Bett und sah auf, als ich die Tür öffnete. Sofort legte er das Buch beiseite und sah mich mitfühlend an. Dann stand er auf, und schloss mich wortlos in seine Arme.
Ich konnte mich nicht an das letzte Mal erinnern, dass Niall mich umarmt hatte – falls er es jemals getan hatte. Aber es fühlte sich gut an, ehrlich, und ich drückte ihn so fest an mich, wie er es bei mir tat.
Zum ersten Mal schien ich wirklich zu verstehen, wie wertvoll Harrys und Nialls Freundschaft war.
»Willst du darüber reden?«, fragte Niall verständnisvoll, und eine Geduld lag in seiner Stimme, die ich noch nie bei ihm gehört hatte. Ich zögerte, bevor ich nickte, obwohl es das war, wozu ich hergekommen war. Niall löste die Umarmung sanft und setzte sich dann wieder auf sein Bett. Er klopfte einladend neben sich auf die Matratze. Wieder nickte ich, und ließ mich neben ihm nieder.
Er musste nicht erklären, dass er schon in jedes Detail eingeweiht war – wir beide wussten, dass Harry bereits mit ihm geredet hatte. Niall schien zu überlegen, womit er beginnen sollte, aber ich kam ihm sowieso zuvor.
»Hat er geweint?« Ich war mir ziemlich sicher, dass ich die Antwort schon kannte. Meine Vermutung bestätigend nickte Niall.
Ich schüttelte energisch den Kopf, als würde es das weniger real machen. Ich stützte den Kopf in meine Hände. »Ich will einfach nicht, dass er sich so fühlt. Ich verstehe, dass er schrecklich traurig sein muss, weil er sich sein erstes ›Ich liebe dich‹ anders ausgemalt hat, aber-«
»Louis, nein!«, unterbrach Niall mich und schaute mich so durchdringend an, dass er mir das Gefühl gab, meine Worte hätten jemanden umbringen können. »Harry fühlt sich nicht so schuldig, weil er derjenige ist, der seine eigene Traumvorstellung zerstört hat, sondern weil er dich verletzt hat.«
Ich verschluckte mich beinahe an meinem Atem, so schnell antwortete ich. »Das ist nicht wahr. Er hat mich nicht verletzt, ich verstehe doch, was er jetzt durchmacht.«
Niall neigte seinen Kopf bedächtig hin und her, während er sich die Worte zurechtlegte. »Ja, vielleicht. Aber das versteht er nicht, weil er es zum ersten Mal durchmacht. Er kann nur erahnen, wie schrecklich es sich für dich anfühlen muss, diese Worte nicht erwidert zu bekommen.« Er sah mich kurz an, dann setzte er hinterher: »Ich kann es auch nur erahnen, Louis. Du darfst nicht vergessen, dass du auch ein Recht darauf hast, traurig zu sein. Oder enttäuscht – für den Moment. Niemand hätte sich diese Situation oder diese Erfahrung gewünscht und du verdienst sie am allerwenigsten.«
»Es bringt uns nicht weiter, wenn ich traurig bin.«, sagte ich, und stand nur zur Hälfte hinter dieser Aussage. Ich biss mir leicht auf die Lippe und überlegte, wie weit ich mit der eigentlichen Wahrheit gehen sollte. Dann entschloss ich mich ganz einfach für vollkommen offene Karten.
»Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genau, ob ich traurig oder enttäuscht bin. Beides, nichts oder eins von beidem – ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich es. Wahrscheinlich. Oder auch nicht. Aber das ist, glaube ich, auch gar nicht so wichtig, denn es gibt etwas anderes, das viel schlimmer ist.« Ich tippte hinweisend mit meinem Zeigefinger gegen meinen Kopf. »Das, was viel vorherrschender ist als alle Emotionen, sind die Fragen. Wieso? Verstehst du, Niall? Wie konnten wir überhaupt hierher kommen? Sollte es nicht einfach funktionieren? So läuft es bei anderen, nicht wahr? Liebesgeständnisse sind beidseitig; auch das erste. Habe ich etwas falsch gemacht?«
Diesmal brauchte Niall keine Überlegungszeit. »Nein. Du hast nichts falsch gemacht; Harry und ich wissen das, und du solltest das auch. Was euch von anderen unterscheidet, ist nur ein hauchdünner Faden zwischen Glück und Unglück. Es ist allein vom Zeitpunkt abhängig, auf welcher Seite man sich befindet. Viele haben Glück und wählen den Zeitpunkt so, dass niemand enttäuscht werden muss. Aber das kann man vorher nicht wissen, und ja, Harry würde auch jetzt nie eine Garantie darauf geben, dass er deine Worte bald erwidern kann, wenn er nur Zeit gehabt hat. Aber ich kenne ihn, und ich sehe, wie er dich ansieht, und ich verspreche dir, Louis, er wird Liebe verstehen.
Und weißt du, was der zweite Unterschied zwischen euch und anderen sein könnte, bei denen es einfach funktioniert? Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass viele Menschen das ›Ich liebe dich‹ noch nicht voll verstanden haben, wenn sie es erwidern, weil sie es zum ersten Mal gesagt bekommen. Stell dir vor, du fändest es noch schwierig, deinen Gefühlen Namen zu geben, aber Harry würde dir sagen, er würde dich lieben. Es wäre das einfachste, simpel zu erwidern. Es stellt alle glücklich, und bestimmt würdest du bald auch wirklich hinter den Worten stehen können, du magst Harry schließlich. Das wäre hypothetisch für viele Leute dort draußen, denke ich.
Aber Harry ist anders, verstehst du das? Harry kann nicht sich und vor allem nicht dich anlügen. Liebe ist etwas wirklich Großes für ihn – du kennst seine lebenslangen Gedankenspielräume. Wenn er jemandem sagt, dass er ihn liebt, dann will er es meinen. Mehr als alles andere. Ich denke – ohne dir Druck machen zu wollen – dass«, er zögerte einen Moment, als wüsste er nicht, ob er es wirklich aussprechen sollte, »wenn er die Worte sagt, will er, dass sie für immer sind.«
Damit schloss Niall ab, geduldig sah er mich an. Und ehrlich, es war mir plötzlich so sonnenklar, wieso Harry sich immer Rat bei Niall holte.
Ich brauchte noch etwas Zeit, bevor ich wusste, was ich sagen sollte.
»Danke, Niall.«, sagte ich dann schließlich.
Niall lächelte sanft. »Du darfst nicht vergessen, wie gerne Harry dich hat, Louis. Er mag dich so sehr, dass er, glaube ich, selbst manchmal nicht so richtig damit umzugehen weiß. Geschweige denn hinter seinen Gefühlen auch mental hinterher zu kommen, all das zu verstehen. Ich bin mir so sicher, dass alles bald gut ist.« Er stupste mein Knie aufmunternd mit seinem an. »Und du musst wissen, Louis, wie glücklich es ihn trotzdem macht.«
»Was?«, fragte ich verwirrt. »Was macht ihn glücklich?«
Niall lachte, als wäre das die dümmste Frage, die er jemals gehört hatte. »Dass du ihn liebst! Und dass du ihm das auch gesagt hast. Du hast keine Ahnung, wie wenig er das fassen kann. Ich verspreche dir, dass nicht alle seine Tränen aus Trauer waren. Er wird gerade von vielen Emotionen überwältigt, und du darfst nicht vergessen, dass es nicht nur die schlechten sind.«
»Ich weiß.« Ich nickte, um mich selbst davon zu überzeugen. »Und trotzdem sind es die schlechten, die mir viel präsenter vorkommen.«
»Ihr werdet in die Situation hineinwachsen, Louis. Nichts ist jemals genau so, wie es im ersten Moment erscheint.«
Manchmal ist es schlimmer.
Ich wollte das nicht denken, aber Kontrolle über meine Gedanken war etwas, das ich schon lange nicht mehr richtig verstand.
Aber Niall hatte recht, mit so vielem. Denn eigentlich hatte sich nichts geändert. Harry mochte mich so sehr wie vorher, und ich liebte ihn – wie vorher. Alles was es brauchte, war Zeit.
»Danke, Niall.« Ich erhob mich von der Matratze. Ich wollte nicht weiter darüber reden. Es brachte nichts mehr, wahrscheinlich war ich an einem Punkt angekommen, der nur noch toxisches Überdenken zuließ. Ein kleines Stück von Harry mochte ich hier bei Niall gefunden haben, aber Harry war dort draußen. Ich wollte nicht weglaufen, also würde ich es nicht tun.
»Danke.«, wiederholte ich, als ich die Tür öffnete.
»Immer, Louis. Ich bin hier, wenn du mich brauchst.« Niall nickte, als würde er so seine Zustimmung dazu geben, dass ich ihn jetzt verließ.
Mir lag noch ein weiteres ›Danke‹ auf der Zunge, aber ich hielt es rechtzeitig zurück. Ich verließ das kleine Zimmer, und war froh, hergekommen zu sein.
»Hi, Louis.« Mein französischer Name aus Zayns Mund war unverkennbar. Der Schwarzhaarige sah nur halb interessiert aus, blieb aber vor mir stehen. Plötzlich musterte er fragend mein Gesicht. »Alles okay?«
Sofort versuchte ich, meine Gesichtszüge zu glätten. War es etwa so offensichtlich?
Der Blick von Zayns Augen wurde nicht weniger intensiv. Ich seufzte und gab meinen Versuch des Überspielens auf. Liam und Niall wussten es, und Zayn wuchs gerade in unsere Freundschaftsgruppe hinein. Dann könnte ich es ihm auch gleich erzählen.
»Also gut«, begann ich und zog ihn in Richtung von Harrys und meinem Zimmer, »du weißt von meiner und Harrys Beziehung.« Er nickte, und sah jetzt sehr aufmerksam aus. »Dann hör mal zu.«
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kill my mind
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