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Louis
Die Woche der Februar-Ferien in London zu verbringen war keine Freude, aber es war nötig, um meine Eltern nach der Flucht und dem Autodiebstahl von Hemsby wieder einigermaßen gnädig zu stimmen. Das hatte sogar ganz gut geklappt und als ich London wieder verlassen hatte, war alles mehr oder weniger in Einklang. Es war eine ganz nette Abwechslung, mal keinen Groll auf meine Eltern zu hegen und zu wissen, dass auch sie sich nicht schon die nächste Strafe für mich ausdachten.
Ehrlich gesagt hatte ich die Woche in London sogar als ziemlich gute Chance angesehen, ein wenig in Ruhe nachzudenken. Zuerst hatte ich abwägen müssen, ob ich meinen Eltern von Harry erzählen sollte. Ich hatte mich dagegen entschieden, weil ich das gute Verhältnis zu ihnen nicht sofort wieder riskieren wollte, falls es irgendetwas daran gäbe, dass sie stören würde.
Dann hatte ich stundenlang auf meinem Bett gelegen, die Decke mit meinen Blicken zum Schmelzen gebracht und versucht, eine Antwort auf die Frage mit der Liebe zu finden. Ich hatte sogar gegoogelt, aber das Internet war nicht immer hilfreich. Offenbar gab es keine eindeutige Definition für Liebe, die mich irgendwie weitergebracht hätte. Auch die Abwesenheit von Harry – die ich für vielleicht ganz hilfreich gehalten hatte – war einfach nur bitter. Mein Bett erschien mir plötzlich zu groß, um darin alleine zu schlafen. Keine Heizung konnte die Kälte wettmachen, die Harry sonst vertrieb. Frühstück, ohne, dass Harry mir von seinen Träumen erzählte.
Ich hatte mir nie so sehr das Ende der Ferien gewünscht.
Harry war schon vor mir zurück gewesen, und als er bei meiner Ankunft ohne Jacke aus der hohen Mahagoni-Tür getanzt kam, sich zwischen den anderen ankommenden Schülern hindurchwand und mir mit einem Strahlen in die Arme fiel, hätte ich ihn am liebsten nie wieder losgelassen.
Vor diesem Tag hatte ich nicht gewusst, dass man einen Geruch vermissen konnte.
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»Wie viele Tage sind es noch bis zu den Osterferien?«, fragte ich mit gequälter Stimme. Wer hatte bloß die Schulpflicht eingeführt?
»Zu viele«, stimmte Niall mit dem gleichen Tonfall in meinen Klagegesang ein. Ja, zugegeben, meine Sehnsucht nach dem Ende der Ferien hatte eine 180-Grad-Drehung gemacht, sobald ich wieder hier war, aber das konnte man mir wohl kaum verübeln.
»Es ist nicht so lang, nur sechs Wochen, glaube ich.«, erklärte Harry tröstend. »Die sind schneller um, als ihr denkt. Außerdem ist heute schon Mittwoch, also habt ihr die Hälfte der ersten Woche schon rum.«
»Harry!« Niall sah ihn an, als hätte er sich gerade zum Kannibalismus bekannt. »Du spinnst doch, das ist eine Ewigkeit! Sechs Wochen! Könnte ich rechnen, würde ich dir sagen, was für eine riesige Menge an Tagen das ist. Ungefähr zweitausend, wahrscheinlich.«
Ich nickte zustimmend. »Tut mir leid, Harry, aber da muss ich Niall Recht geben. Wer hat sich bloß dieses Verhältnis zwischen Schule und Ferien ausgedacht? Ferien und Schule sollten vertauscht sein.«
Harry verdrehte die Augen. »Das habe ich zum letzten Mal jemanden sagen hören, als ich sechs war. Und wenn ich mich recht erinnere, bist du ein paar Jahre älter als das, Louis.«
»Hey, Sechsjährige sind sehr zurechnungsfähig. Aber du musst mich doch verstehen, wenn wir schon am dritten Tag wieder knietief in Hausaufgaben stecken.«
Niall nickte bekräftigend. »Richtig. Morris mit seiner dämlichen sechsseitigen Facharbeit. Sehe ich so aus, als würde ich mich für den Unterschied zwischen zwei Steinen interessieren?«
»Nein«, stellte ich sachlich fest, »Du siehst selbst aus wie ein Stein.«
Er warf eines der Sofakissen nach mir, aber ich fing es auf und warf es so zurück, dass es ihn ins Gesicht traf.
Harry schüttelte nur ungläubig den Kopf. »Ich sag's ja; wie Sechsjährige. Aber ich denke, ich werde heute Abend schon mit Geo anfangen. Ich baue den Berg lieber ab, bevor er sich vergrößert.«
»Was für eine großartige Weisheit!«, sagte ich überspitzt. Ich zog seine Beine auf meinen Schoß, sodass sein Rücken jetzt von der Armlehne der Couch gestützt wurde. Der Gemeinschaftsraum war der wärmste Ort im Internat, deswegen sammelte sich hier gerne ein großer Teil der Schülerschaft. Ich begann, meine Finger sanft über Harrys Beine fahren zu lassen.
»Louis?«, quengelte Niall, als ich gerade die Stille zwischen uns genießen wollte. »Willst du nicht vielleicht auch meine Beine massieren? Niemand macht das bei mir!«
»Das kannst du vergessen, Kartoffel. Frag doch Sophie.« Ich grinste. »Ach nein, ganz vergessen, ihr habt ja nur was miteinander, um eure sexuellen Nöte zu befriedigen. Du musst gut sein, wenn sie da noch immer mitmacht.«
»Traust du mir das etwa nicht zu, Snoblinson?« Er wackelte herausfordernd mit den Augenbrauen.
»Ist das ein Angebot?«
»Du würdest staunen, wenn ich nur die Chance bekäme. Keine deiner geübten Prinzessinnen aus London kommt gegen mein Talent an.« Er lehnte sich näher zu mir.
Ich lachte amüsiert. »Du würdest nicht mal für Fünfzig Pfund mit einem Jungen schlafen, Niall – geschweige denn mir.«
»Und wie ich mit dir schlafen würde! Wenn das der einzige Weg ist, dich von meinem Können zu überzeugen, dann gehe ich ihn gerne.«
»Ihr wisst schon, dass ich auch noch hier bin, oder?«, schaltete Harry sich jetzt ein und schaute missfallend zwischen mir und Niall hin und her.
»Shh, Harry.«, ich legte ihm einen Finger auf die Lippen, »Niall ist gerade dabei, seinen Körper zu verkaufen. Das erlebe ich nicht jeden Tag. Also, Mr. Sexgott«, wandte ich mich wieder an Niall, »für wie viel würdest du es mit mir treiben?«
»Hm«, Niall runzelte die Stirn, während er darüber nachdachte, »Also theoretisch müsstest du eine ganz schöne Summe hinblättern, um für so ein unvergleichliches Vergnügen zu bezahlen. Aber ich meine, Sophie kommt ja auch kostenlos weg, also dürfte ich wahrscheinlich nicht zu viel verlangen.«
»Hey, jetzt haltet mal die Luft an.« Harry setzte sich auf, seine Beine entglitten meinen Fingern. »Ich würde es wirklich schätzen, wenn mein bester und fester Freund keinen Sexpakt schließen würden. Louis, es wäre nett, wenn du mich nicht mit meinem besten Freund betrügen würdest. Und Niall, hör auf, mir meinen Freund auszuspannen – ich teile Louis nicht, weder sexuell noch anderweitig.« Er streckte seine Zunge heraus und kletterte über meine Beine hinweg von der Couch. »Wir sehen uns beim Essen.«
Schweigend sahen wir Harry nach, wie er auf den Flur verschwand.
»Tja, Louis.«, sagte Niall dann, »Da siehst du Harrys Strafe, wenn du die Monogamie schleifen lässt. Du kriegst heute bestimmt keinen Blowjob mehr – oder was auch immer ihr miteinander macht.« Seine belustigte Miene fiel, als er mich genauer betrachtete. »Wieso lächelst du so dämlich, Tomlinson?«
Ich teile Louis nicht.
Er teilte mich nicht. Er wollte mich nicht teilen.
Es ist nicht so, als wäre das eine überraschende Erkenntnis, aber es von ihm ausgesprochen zu hören, fühlte sich wie etwas an, das ich nicht mal verdiente. Mein Herz war vermutlich nicht weit davon entfernt zu platzen.
Auf Nialls Frage hin zuckte ich mit den Schultern, als würde ich die Antwort nicht kennen. »Wir lassen das Geld stecken, Niall. Ich habe schon jemanden gefunden, der mich auch ohne Bezahlung nimmt.« Ich zwinkerte ihm zu, griff wieder nach dem Kissen und warf ihn damit abermals ab.
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Beim Abendessen waren wir alle ungewöhnlich gesprächig, was sich gar nicht mal so gut miteinander vertrug, weil alle gleichzeitig drauflos plapperten – keine Ahnung, was heute im Wasser gewesen war. Sogar ich kriegte den Mund kaum zu und Niall vernachlässigte sein Essen. Ein erinnerungswürdiger Tag.
Nach dem Essen hielt Harry sich an seinen gefassten Plan und ging auf unser Zimmer, um sich an die Facharbeit zu setzen. Liam, Niall und ich kehrten zurück in den Gemeinschaftsraum und ließen uns direkt neben dem Kamin nieder.
Liam und ich versuchten dann, Niall Poker beizubringen, was ihn allerdings ziemlich zu überfordern schien. Erst kurz vor der Nachtruhe hatte er endlich alles verstanden, aber das war dann auch zu spät.
Niall und Liam wollten sich vor dem Schlafen noch Tee aus der Küche auf ihre Zimmer holen, weswegen ich schon ohne sie hochging.
In den Waschräumen war es wie immer kurz vor der Nachtruhe voll und laut. Ich teilte mir mit Noah und Josh ein Waschbecken, während wir uns zu dritt vor den Spiegel gequetscht hatten fürs Zähneputzen.
Nachdem ich mich auch gewaschen hatte und auf Toilette gewesen war, trat ich wieder hinaus auf den Flur.
In unserem Zimmer brannte Licht. Harry saß noch immer am Schreibtisch, aber ich kapierte erst nach einigen Sekunden, dass er wohl beim Schreiben eingeschlafen war.
Leise schloss ich die Tür hinter mir und ging durch den Raum hinüber zum Schreibtisch.
Harrys Kopf lag entspannt auf seinen Armen, die Augen waren geschlossen und der Mund leicht geöffnet. Der Stift, mit dem er geschrieben hatte, balancierte sich noch zwischen seinen spannungslosen Fingern.
Dann passierte plötzlich zu viel gleichzeitig.
Ich lächelte, das Lächeln überwältigte mein Gesicht wie wenn die Sonne durch eine undurchdringliche Wolkendecke drang.
Zur selben Zeit blieb mir die Luft weg, für eine Millisekunde waren alle Verbindungen in meinem Körper gekappt.
Denn ich hatte es verstanden, genau in dieser Sekunde, genau hier, bei genau diesem Anblick.
Was war Liebe?
Das hier, genau und nur das hier.
Es war nicht wie der Schalter, den ich mir vorgestellt hatte, der die Liebe einfach anschaltete. Der Schalter stellte nicht die Liebe an, sondern das Bewusstsein derselben.
Ich hatte mich in Harry verliebt.
Ungläubig schlug ich meine rechte Hand vor meinen Mund.
Ich. Hatte. Mich. In. Harry. Verliebt.
Liebe war nicht die Aufregung und das Neue. Sie war Sicherheit und Vertrauen.
Liebe war nicht das Kribbeln, sie war die Wärme.
Liebe. Ich hatte mich verliebt. Ich hatte mich in Harry verliebt. Einfach so hatte er mir mein Herz gestohlen, und jetzt stand ich hier neben ihm. Verliebt.
Mein Körper fühlte sich ruhig und schwer an, mein Geist hüpfte und sprang, ohne zur Ruhe zu kommen. Meine Hand zitterte, also ließ ich sie wieder sinken.
Ich brauchte ein paar Minuten – wie viele es genau waren, wusste ich nicht. Als ich das Gefühl hatte, trotz der rosaroten Wolke in meinem Kopf wieder halbwegs klar denken zu können, fasste ich den Entschluss, Harry kurz zu wecken, um ihn zu seinem Bett zu transportieren. Sonst würde der morgige Tag aus nichts als Nacken- und Rückenschmerzen-Beschwerden bestehen.
»Harry«, sagte ich sanft und kniete mich neben ihm auf den Boden. Ich strich ihm durch die Locken, und langsam öffneten sich seine Augen.
»Lou?« Seine Stimme brach schon bei der einzelnen Silbe und eine weitere Welle überwältigender Ungläubigkeit überrollte mich. Wie war es möglich, dass mir so etwas Gutes passiert war? Harry. Womit hatte ich nur irgendetwas hieran verdient?
»Schon gut, Haz, du musst nur da rüber in dein Bett.« Ich sprach leise, um ihn nicht unnötig aufzuschrecken. Er sah so engelsgleich aus, wenn er nicht richtig wach war. »Komm her.« Vorsichtig nahm ich eine seiner warmen Hände und brachte uns damit beide auf die Beine.
Harry stand schwach, aber ich hielt ihn. Es waren nur wenige Schritte bis zu seinem Bett, ich kümmerte mich darum, dass er auch heil darauf ankam.
»Die Hose«, sagte ich knapp und tippte sein Knie an. Aber er schüttelte nur unmerklich den Kopf, wobei ich mir nicht mal sicher war, ob er nicht schon wieder halb schlief.
»Bleib bei mir.«, flüsterte Harry, als er schon auf der Matratze lag. »Hier bei mir.« Das Jadegrün seiner Augen war schläfrig und bei jedem Blinzeln dauerte es länger, bis er mich wieder ansah.
Ohne große Überlegungen nickte ich. Natürlich. Weil ich nicht schlaftrunken und unfähig dazu war, Entscheidungen zu treffen, zog ich kurzerhand meine Hose aus, legte sie halbwegs gefaltet über eine Stuhllehne und kletterte dann behutsam über Harrys unbewegten Körper. Ich deckte uns zu und schloss meine Arme um seine Taille, aber wenige Sekunden später hatte er sich schon zu mir umgedreht, seine Arme ebenfalls um meinen Oberkörper geschlossen und den Kopf auf meiner Brust platziert. Ich küsste seine Haare, er mein Schlüsselbein.
»Gute Nacht, Louis.«
Ich lächelte und dankte meinen Eltern und dem Schicksal von ganzem Herzen, dass ich hier gelandet war.
»Gute Nacht, Harry.« Ich liebe dich.
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