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Louis

Ruckartig wurde ich aus dem Schlaf gerissen, als etwas schweres, warmes auf meinem Gesicht landete. Überfordert und schlaftrunken wischte ich mir den Gegenstand aus dem Gesicht. Es entpuppte sich als Handtuch, das noch klamm war – anscheinend frisch benutzt.
Als ich aufsah, verstand ich auch, wo es so plötzlich herkam.

Harry drehte sich gerade zu unserem Kleiderschrank und öffnete ihn. Er trug nur eine Hose, sein Oberkörper war nackt. Seine Haare waren allerdings noch feucht und lagen ein wenig wirr auf seinem Kopf. Ich musste nicht besonders klug sein, um zu kapieren, dass er wohl geduscht und sich die Haare abgetrocknet hatte. Und mir das Handtuch dann ins Gesicht geschmissen hatte.

»Danke auch.«, sagte ich mürrisch und warf ihn mit dem Handtuch ab. Allerdings hatte er sich darauf wohl vorbereitet und fing es ohne sich umzudrehen einhändig auf. Beinahe in der selben Bewegung warf er es über eine Stuhllehne, damit es trocknen konnte.

»Ich musste dich schließlich irgendwie wecken.«, sagte er knapp und zog ein Shirt aus dem Schrank.
»Ist dazu nicht der Wecker da?«, fragte ich jetzt schon wieder genervt.
»Den hast du einfach überhört.«
Ich stöhnte leise und schlug die Decke zurück. Demotiviert stand ich ebenfalls auf.

»Eigentlich hatte ich nicht vor, dich zu wecken.«, redete Harry weiter, während er sich das Shirt über den Kopf zog und sich dann umdrehte. Zum ersten Mal heute sah er mich an. »Ich hätte dich einfach verschlafen lassen können. Dann hättest du dich gleich unbeliebt bei den Lehrern gemacht. Da hätte ich nichts gegen gehabt. Aber leider bin ich heute noch für dich zuständig und muss dafür sorgen, dass der Neuling alles gut hinbekommt. Also sorge ich jetzt dafür, dass du pünktlich kommst.« Geschickt zog er wahllos Kleidung aus meinem Kleiderschrank und warf sie mir zu. »Zieh dich an.«

Den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich, ob ich extra trödeln sollte. Wie Harry sagte; wenn ich zu spät kommen würde, würde er die Verantwortung dafür tragen. Es war verlockend, extra zu spät zu kommen, um Harry Ärger zu machen.

Aber bevor ich wirklich darüber nachgedacht hatte, tat ich die Idee auch schon wieder ab. Denn er hatte auch in dem anderen Punkt Recht. Wenn ich heute zu spät käme, wäre ich sofort unbeliebt bei den Lehrern. Und darauf konnte ich wirklich verzichten. Denn ich musste mir meine Zeit hier nicht noch unerträglicher machen, indem ich bei den Lehrern bewusst in Ungnade fiel.

Also würde ich mich jetzt wohl oder übel beeilen müssen, um pünktlich mit Harry zum Unterricht zu kommen.

»Samstags, Sonntags und in den Ferien gibt es morgens richtiges Frühstück; Brötchen, Ei, Bohnen, Porridge, Tee, Kaffee – was immer du willst. Naja, ich weiß ja nicht, was du bei deinen ach so reichen Eltern immer bekommen hast. Kaviar, Safran und Trüffel gibt es hier nämlich nicht.«, bemerkte Harry verächtlich. So lief das schon den ganzen Morgen. Er erzählte mir etwas über den Schulalltag und versuchte, einigermaßen nett zu bleiben. Ich konnte ihn aber schon längst nicht mehr ertragen und war deshalb nicht sparsam mit gehässigen Bemerkungen und verhassten Blicken. Als Reaktion darauf revanchierte er sich dann mit ähnlichen Bemerkungen. Und dann ging es wieder von vorn los.
So wie jetzt.

»Montags bis Freitags gibt es allerdings kein ausgiebiges Frühstück.«, erzählte er weiter, als hätte er eben keine abfällige Bemerkung über mich gemacht. »Der Unterricht beginnt um acht Uhr. Von sechs bis acht kannst du ungeregelt in den Speisesaal kommen und dir etwas zu essen nehmen. Du kannst dich hinsetzen oder dir etwas mitnehmen, wenn du Geschirr mitnimmst, dann musst du es allerdings vor Ende der Woche – also Sonntagabend – zurückbringen. Du stellst es dann einfach zur normalen Geschirrrückgabe.«

»Na toll. Kein ordentliches Frühstück vor dem Unterricht. Verhungern lassen die uns hier also auch noch.«
Harry stieß strapaziert die Luft aus. Ich wusste, dass ich ihn nervte, aber das störte mich ganz und gar nicht. Ich fand es gut.
»Tut mir ja leid, wenn du in London Prosecco zum Frühstück gereicht bekommen hast«, sagte er überspitzt, »aber hier hast du keine Vorrechte mehr.«

Ich ignorierte die Bemerkung und wir betraten den Speisesaal. Einige Schüler standen vereinzelt im Raum oder saßen ungezwungen an den Tischen.
»Na das kann ja heiter werden. Sei gegrüßt, Hunger.«, bemerkte ich sarkastisch und wenig begeistert, als ich das bereitgestellte Essen sah.

Die warme Essenstheke von gestern Abend war vollkommen leer. Der lange Buffettisch, auf dem gestern Kaltspeisen und Salate gestanden hatten, war nur spärlich bedeckt.
Getränkespender mit Tee und Wasser waren neben einem hohen Turm unbenutzter Tassen und Gläser platziert. Das war es auch schon mit Getränken. Das Essen wurde präsentiert durch mehrere Obstständer, trockene, aber wenigstens getoastete Weißbrotscheiben und zwei Sorten Cornflakes.
Dabei war das Abendessen gestern doch so gut gewesen.

»Das soll alles sein? Davon soll ich satt werden?«
»Du wirst dich dran gewöhnen müssen.«, sagte Harry knapp und ging zu dem Buffet. Auf dem Weg dorthin hielt er mehrere Male kurz bei einzelnen Schülern oder kleinen Gruppen und unterhielt sich kurz mit ihnen. Er wirkte wie ausgewechselt, seine Augen begannen sofort zu leuchten und seine Wangen wiesen die hübschen Grübchen auf.

Warte – hübsch?! Habe ich das gerade wirklich gedacht?
Ich schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Denn das eben war mit Sicherheit kein klarer Gedanke gewesen. Harry und hübsch? Der Junge hatte ein Vogelnest auf dem Kopf!

Schnell ging ich ebenfalls zum Buffet und nahm mir gleich drei der Brotscheiben. Dann missbrauchte ich noch die Milch, die für die Cornflakes gedacht war, und füllte mir etwas davon in eine Tasse, um sie zu trinken.

Als ich mich wieder mit Harry traf, musterte er die Milch kurz kritisch, sagte aber nichts. Er selbst hielt einen Apfel in der linken und eine Tasse Tee in der rechten Hand.

»Kannst du mich nicht bis zum Unterrichtsbeginn alleine lassen? Den Raum werde ich schon alleine finden.«, sagte ich genervt und riss ein Stück Brot ab, um es mir in den Mund zu stopfen.
Er schüttelte den Kopf. »Glaub mir, ich würde dich liebend gern alleine lassen. Aber ich habe mir das hier nicht ausgesucht. Und ich vertraue dir nicht, du würdest garantiert extra zu spät kommen. Für heute bin ich leider unumgänglich.« Auch seine eigene Stimme war gequält und wollte offensichtlich endlich Erlösung von mir. Dabei war ich viel schlimmer dran. Er war schließlich die Nervensäge von uns beiden.

»Gut, dann bringe ich dich mal in deinem ›Schnell-an-der-neuen-Schule-einleben-Projekt‹ voran. Zum Unterricht; wie gesagt beginnt die erste Stunde um acht. Deinen Stundenplan hast du ja schon gesehen. Für gewöhnlich wird in Blöcken unterrichtet – zwei Stunden hintereinander ohne Pause das selbe Fach. Nur einige Fächer werden einzeln eingeschoben.«, setzte er seine Einführungsrede mehr oder weniger enthusiastisch – weniger! – fort und ich hörte ihm seufzend zu, während wir beide das sogenannte ›Frühstück‹ aßen.

Nachdem wir aufgegessen hatten, war es schon kurz vor acht und wir gingen zurück in unser Zimmer, um die Schultaschen zu holen. Ich hatte eine von der Schule bekommen, ein Rucksack mit Schulwappen drauf. Harry hatte genau den gleichen, nur in anderer Farbe. Ich befürchtete, dass alle mit dem gleichen Rucksack rumrennen würden.
Ich musste die benötigten Hefte und Bücher nicht mehr packen, weil Harry mich schon vorher dazu gezwungen hatte, um keine Zeitprobleme zu bekommen.

Und jetzt waren wir auf dem Weg zu dem Klassenraum. Ich wusste nicht, wo wir hatten, also lief ich einfach desinteressiert neben Harry her.

»Was haben wir überhaupt?«, fragte ich ihn gelangweilt.
»Ethik. Hast du nicht auf den Stundenplan gesehen, als du gepackt hast?«
Ich stöhnte und überging seine Frage mit einem ›Ich hasse Ethik‹.

»Und wir werden nebeneinander sitzen müssen.«, fügte er hinzu und war offensichtlich wenig begeistert.
»Was?! Wer sagt das?«
»Der Sitzplan. Ich sitze in Ethik alleine und man wird dich garantiert nicht alleine irgendwo hinsetzen.«

»Aber nicht in jedem Fach? Ich muss nicht in jedem Fach neben dir sitzen, oder?« Ich hatte echt keine Lust, Harry als festen Sitzpartner neben mir zu haben. Ich konnte ihn ja schon als Mitbewohner nicht loswerden.
»Gott, nein! Zum Glück nicht. Ich sitze in den wenigsten Fächern allein.«
Na immerhin. Sonst hätte ich es hier wahrscheinlich keine zwei Tage mehr ausgehalten. Dann hätten Harry und ich uns auch gleich aneinander ketten können.

Wir betraten den Klassenraum und demotiviert trottete ich Harry hinterher, der mich zu einem Zweiertisch mittig im Raum führte.
Ich ließ mich auf meinen Stuhl sinken. Mit dem Kopf auf die Hände gestützt, wartete ich darauf, dass der Unterricht beginnen würde.

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