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Louis
Das Blättern der Seiten von Harrys Skizzenbuch war hypnotisierend. Ein angenehmes Geräusch, es versüßte das Betrachten der Zeichnungen nur noch weiter. Allein die Tatsache, dass Harry mich seine Skizzen überhaupt ansehen ließ, machte mich glücklich.
Das Kratzen von Harrys Stift über das Papier, auf dem er seinen Ethikaufsatz schrieb, verlieh dem gleichmäßigen Umblättern mehr der ordinären Melodik.
Manchmal wurde meine Aufmerksamkeit von den Zeichnungen abgelenkt, aber trotzdem blätterten meine Finger stetig weiter. Meistens war es Harry, der diese Aufmerksamkeit unbewusst stahl, indem ich ihn einfach für einige Minuten von meinem Platz auf seinem Bett aus beobachtete. Er saß mit dem Rücken zu mir am Schreibtisch und hatte sich leicht über sein Blatt gebeugt, während er schrieb. Aber es war nicht immer er, manchmal drifteten meine Gedanken oder mein Blick auch ganz unerklärlich ab.
»Hey!«, durchbrach ich plötzlich die Stille und Harry zuckte zusammen. »Das bin ja ich!«, rief ich überrascht aus und Harry wandte fragend den Kopf zu mir.
»Was? Noch ein Porträt von dir entde-« Er brach ab, als ich an die Decke zeigte. Dann lächelte er. »Ja, das bist du.« Er legte den Stift weg und stand auf, um sich wenige Sekunden später neben mir auf der Matratze seines Bettes niederzulassen. Jetzt lagen wir beide nebeneinander auf dem Rücken und sahen an die Decke – oder viel mehr dorthin, wo eigentlich die Decke zu sehen sein müsste, hätte Harry keine Fotos aufgeklebt.
Ich hatte ihn noch nie auf seine Deckendekoration angesprochen, aber als ich jetzt das Bild von mir zwischen all den anderen sah, wurde es wohl langsam Zeit.
Sogar mir fiel auf, wie sehr das Blau meiner Augen aus dem Bild herausstach. Eine Sonnenbrille war in meine locker gestylten Haare hochgeschoben und das Lächeln, das ich trug, war ehrlich.
Aufgrund genau dieses Lächelns war es für mich nicht schwierig, das Bild zu identifizieren. Es gab nicht viele Tage, an denen ich in meinem alten Leben so offen gelächelt hatte. Das Foto war am Beginn des vergangenen Sommers aufgenommen worden, in einem Außenbezirk von London.
Das Problem an der ganzen Sache war nur, dass es absolut keine Möglichkeit gab, wie Harry an dieses Foto herangekommen sein könnte.
»Wo hast du das her?« Ich drehte meinen Kopf so zur Seite, dass ich ihn ansehen konnte. Sein Blick lag noch immer auf dem Foto an der Decke; er lächelte es an, als wäre es ein Sonnenuntergang.
»Verrate ich dir nicht.«, antwortete er irgendwann ohne mich anzusehen.
»Harry!« Empört richtete ich meinen Oberkörper seitlich halb auf, um mich mit dem Ellenbogen aufzustützen, den Kopf auf meiner Hand, um ihn eindringlicher anzusehen. Es war ganz einfach unmöglich, dass Harry dieses Foto besaß. Es war aus meiner Zeit vor dem Internat und in dieser Zeit hatte es nun mal keinerlei Verbindung zwischen mir und Harry gegeben. Wir waren zwei verschiedene Menschen gewesen, die zwei komplett unterschiedliche Leben geführt hatten, ohne auch nur von der Existenz des Anderen zu wissen. Und doch hing das Foto hier an der Decke über Harrys Bett. Aber dieser kleine Teufel wollte mir einfach nicht sagen, woher er es hatte. »Sag's mir!«
Er schüttelte den Kopf. Ich hätte ihm den hübschen Hals umdrehen können! Machte es ihm Spaß, so mit mir zu spielen?
Zum ersten Mal sah er mich jetzt an. »Hey, Louis, nicht wütend sein.«, sagte er sanft, drückte sich mit den Armen kurz nach oben, um meine Lippen weich zu küssen, bevor er sich zurück ins Kissen fallen ließ.
»Ein Kuss ist keine Antwort, Harry!«, erklärte ich stur. Er konnte nicht erwarten, dass er hier so einfach dieses Bild von mir hinkleben und mir eine Erklärung verweigern konnte! Dass er dieses Bild besaß, war ungefähr damit zu vergleichen, als hätte er da oben ein Hochzeitsbild meiner Eltern haften. Es war ganz einfach nicht möglich.
Aber Harry schüttelte nur wieder den Kopf. »Du kannst aufhören, es zu versuchen, Louis. Ich werde es dir nicht sagen. Bitte akzeptiere das.« Er sagte das, als hätte er es auf irgendeinem illegalen Weg über fünf Drogenkuriere beschafft. Es machte mir ein wenig Angst.
Aber ich sah ihm an, dass er garantiert nicht vor mir nachgeben würde. Vielleicht konnte er nicht lügen, aber den Mund halten, wenn er es wollte, war eines seiner Spezialtalente. Also müsste ich diese Diskussion auch nicht länger hinziehen.
»Also gut. Dann treffe ich die riskante Entscheidung, dir damit zu vertrauen. Ich werde ganz einfach hoffen und beten, dass du niemanden für dieses dämliche Foto erpresst hast. Und dass du nicht noch meine Zahnbürste aus London besitzt. Oder das Halsband von meinem toten Hund oder so.« Ich legte mich ebenfalls wieder auf meinen Rücken und sah an die Decke.
»Du hattest einen Hund?«
Ich musste grinsen, weil das natürlich die einzige Information war, die Harry aus meinem Vorwurf herausgefiltert hatte. »Ja. Ted. Er war das erste, was ich mir jemals für mein Taschengeld gekauft habe. Danach haben meine Eltern meinen Kontozugriff gestrichen.« Ich lachte bei der Erinnerung. Ich war sechs gewesen, als ich Ted heimlich mit nach Hause gebracht hatte. Schon früh hatte sich meine rebellische Seite gezeigt. »Er hat nicht lange gelebt, aber das lag wahrscheinlich an mir. Ich war nicht gerade konsequent mit dem Füttern.« Ich war nie besonders verantwortungsvoll gewesen.
Harrys Blick war noch immer nach oben gerichtet, aber jetzt hatte ich das Gefühl, dass er einfach durch die Fotos hindurch sah. »Dein Leben war so...viel.«, sagte er nach einer Weile.
Ich lachte und verflocht unsere Finger zwischen unseren Körpern. »Glaub mir, Harry, da gibt es nicht viel, worauf du neidisch sein müsstest.«
Er zuckte mit den Schultern und ein Seufzen verließ seine Lippen, das ich beinahe überhört hätte, so leise war es. Ich drückte seine Hand leicht.
Manchmal kam ich einfach nicht mit seinen Gedanken mit, manchmal schien er in einer völlig anderen Welt zu leben.
Es legte sich eine Stille über uns, während wir so nebeneinanderlagen und die Bilder an der Decke betrachteten. Ich hatte einen kleinen Baby-Harry ins Auge gefasst, als Harry wieder sprach.
»Louis?«
»Mhm?« Ich ließ seine Hand los, schob meinen Arm stattdessen unter seine Schultern und ihn näher zu mir.
»Erzählst du mir davon? Dem Foto?«
Ich wollte schon verneinen, ihm sagen, dass ich es ihm erst erzählen würde, wenn er mir sagte, wo er es herhatte. Genauso gut hätte ich lügen können und sagen, dass ich mich nicht erinnerte.
Aber ich tat nichts von beidem. Vielleicht war das eine der Sachen, die dazu gehörten, wenn man sich in Harry verliebte; ich wollte seinen Bitten nachkommen, ihn lächeln sehen, ganz egal, was er mir verweigerte.
»Okay«, begann ich und richtete meine Lage minimal so aus, dass wir beide bequem zum Foto sehen konnten, »Es war im letzten Sommer, ein paar Wochen vor Ferienbeginn. Der Sommer hat ja eigentlich erst Ende Juli so richtig begonnen, aber ich weiß nicht, ob du dich an die vereinzelten warmen Tage davor erinnerst. Das war einer dieser Tage.
Unsere Schule hatte eine Rudermannschaft, die sich für irgendsoein Turnier qualifiziert hatte. Ich war nie Teil der Mannschaft gewesen, aber zwei der Jungs fielen aus und ich sprang für einen von ihnen ein. Es war ganz sicher nicht mir zu verdanken, aber wir haben gewonnen. Es war an einem Fluss ein bisschen außerhalb von London. Letztendlich kam man in ein kleines Flussbad und wir blieben bis zum Abend dort, haben unseren Sieg gefeiert. Es war ein schöner Tag. Ich hatte Spaß, wir waren schwimmen und haben alberne Lieder gesungen. Es wurden ein paar Fotos gemacht, wie du siehst. Das war unser Rudertrainer, der eigentlich nur unser Sportlehrer war. Danach hatte ich nichts mehr mit dem Ruderteam zu tun, ich war schließlich nur Ersatz. Ich habe mir auch nichts auf den Sieg eingebildet, auch wenn einige der Bilder in der ganzen Schule aushingen. Aber es war ja nicht mein Verdienst. Trotzdem war es ein guter Tag.« Ich schätze, ich konnte den Teil weglassen, als ich abends ein Mädchen zu mir nach Hause mitgenommen hatte – sie war die Freundin einer der Jungen aus dem Team gewesen. Diese Nacht hatte mir am nächsten Tag ein blaues Auge von ihrem Freund beschert. Danach war das Thema fallengelassen worden. Ich hatte mit seiner Freundin geschlafen, er mir ein blaues Auge verpasst. Quitt.
Aber wie gesagt; nicht unbedingt der Teil der Geschichte, der für Harry bestimmt war. Denn wenn man den Abend und dessen Folgen strich, war es einer der besten Tage in meinem Leben gewesen.
»Ich wünschte, ich hätte dich gekannt. In deiner Zeit vor hier. Dein London-Ich.«
»Nein, Harry. Du kanntest mein London-Ich. Mein London-Ich hat dich an meinem zweiten Tag hier für deine Sexualität angeschrien. Du solltest froh sein, dass du mich nicht in London kennengelernt hast. Hier im Internat, abgeschottet von all den alten Einflüssen, habe ich langsam gelernt zu begreifen.«
Wieder schwiegen wir für einige Minuten. Meine Gedanken spielten Szenarien durch, wie es gewesen wäre, wäre Harry Teil meines alten Lebens gewesen. Wenn wir vielleicht in eine Klasse gegangen wären. Wir wären ganz sicher keine Freunde gewesen. Es war dann noch eine ganz andere Frage, ob ich trotzdem irgendwann Gefühle für ihn entwickelt hätte. Denn Harry wäre Harry gewesen, und das hier fühlte sich viel zu richtig an, als dass es in irgendeiner Parallelwelt nicht hätte geschehen können.
»Ich mag es, dass du dort oben bist.« Wieder war Harry es, der die Stille brach. »Ich sehe dich. Wenn ich hier einschlafe, sehe ich dein Lächeln, wenn ich aufwache. Ich sehe meine Eltern, meine Freunde und dich.«
»Ich finde es zwar immer noch ein wenig gruselig, dass du dieses Foto besitzt, aber das werden wir jetzt mal ignorieren. Bitte denk nicht an Dinge, die nicht waren. Ich versuche, alles zu sein, was ich für dich sein kann. Du gewinnst mein Herz langsam aber sicher komplett für dich – und glaub mir, das hätte mein London-Ich niemals zu irgendwem gesagt! Wenn ich es irgendwann mal vergessen sollte, dann bitte erinnere mich daran, immer ehrlich zu dir zu sein. Solange ich dich haben kann, will ich auch, dass du mich vollständig hast.«
Harry drehte sich aus meinem Arm und auf die Seite. Ich tat es ihm gleich, sodass nur einige Zentimeter unsere Gesichter voneinander trennten. Das hypnotisierende Grün seiner Augen durchbohrte mich. »Sollte ich es jemals vergessen, dann erinnere mich daran, dich so oft zu küssen, wie es mir niemand verbietet, Louis.«
Meine Mundwinkel hoben sich von ganz allein. »Nichts täte ich lieber.«
Meine Augen schlossen sich im selben Moment, in dem unsere Lippen aufeinander trafen.
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