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Louis

Unter dem Tisch lag meine Hand auf Harrys Oberschenkel, während ich Niall und Liam beim Frühstück von meinem Abend in Hemsby und der spontan durchgeführten Flucht erzählte.

»Und dann?«, fragte Niall, nachdem ich meine Erzählung mit der Ankunft hier abgeschlossen hatte. »Was habt ihr den Rest des Abends gemacht?« Ein Tick zu viel Neugier lag in seinem fordernden Blick. Fast so, als hätte er eine Ahnung, was tatsächlich passiert war.

Harry zuckte mit den Schultern, noch bevor ich ihn davor retten konnte, seine schrecklichen Fähigkeiten zu lügen zeigen zu müssen. »Nicht viel. Wir haben getanzt.«, erklärte er mit seligem Lächeln, das eigentlich keinen Interpretationsspielraum dafür ließ, was danach noch passiert war. Doch Niall und Liam schienen das nicht so zu sehen.

Liam sah enttäuscht aus und stieß mich mit einem Fuß leicht gegen mein Schienbein. Ich verstand nicht genau, was er damit sagen wollte.

»Ihr habt getanzt?«, fragte Niall überrascht. »Ich war viel auf der Tanzfläche, aber euch habe ich gar nicht gesehen...«

Bevor Harrys nicht vorhandenes Talent zu lügen noch weiter auf die Probe gestellt werden konnte, sah ich Niall mit einem genauso ratlosen Blick wie seinem an, als könnte ich mir das auch nicht erklären, und wechselte das Thema dann zu den Hausaufgaben, die ich noch zu erledigen hatte.

Nach dem Frühstück wollten wir wieder hochgehen, doch kaum, dass wir den Speisesaal verlassen hatten, stand Evelyn uns gegenüber.

»Guten Morgen, Jungs. Habt ihr gut geschlafen nach gestern Abend? Du siehst ein wenig müde aus, Niall.« Mit ihrem stetig höflichen Lächeln wandte sie sich jetzt an mich. »Louis, ich muss dich bitten, mich auf mein Büro zu begleiten.« Ohne länger zu warten, drehte sie sich um und wandte sich den Treppen nach oben zu. Das war keine große Überraschung, das hatte ich ja vorhergesehen. Entschuldigend nickte ich Niall, Liam und Harry zu und folgte dann der Schulleiterin.

Wie immer nahm ich auf einem der rot gepolsterten Stühle Platz. Doch weil ich gerade eigentlich lieber bei Harry wäre, sprach ich noch vor Evelyn.
»Haben sie schon angerufen? Wollen sie mich enterben?«, fragte ich geradeheraus und war mir ziemlich sicher, dass meine Eltern schon von sich hören lassen hatten.

Doch Evelyn schüttelte den Kopf, sie schien zu wissen, wovon ich redete.
»Wie bist du hierher gekommen, Louis? Bitte sag mir, dass es von deinen Eltern ausging.«

Jetzt schüttelte ich den Kopf. »Nein.« Knapp erklärte ich ihr, was passiert war. Sie sah nicht gerade glücklich mit der Situation aus. »Evelyn, Sie müssen verstehen, dass ich nicht dort sein wollte.«

Unerwartet legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Sondern bei Harry.«, sagte sie so sicher, als hätte sie das in meinen Gedanken gelesen. »Ich weiß, Louis. Ich kann verstehen, was du dir dabei gedacht hast. Es ist nur so, dass-«

Ich ließ sie nicht ausreden. »Sie sind der Meinung, ich hätte es nicht tun sollen.«, nahm ich ihr vorweg.

Ihre Antwort überraschte mich. »Nein, da irrst du dich. Ich bin froh, dass du hergekommen bist. Dadurch haben sich Dinge entwickelt, die quasi für diesen Tag geschaffen wurden. Es war eine gute Entscheidung, Hemsby zu verlassen.«

Als hätte sie eine andere Sprache mit mir gesprochen, starrte ich sie ungläubig an. Ihre Worte machten eindeutig, dass sie wissen musste, was zwischen mir und Harry passiert war. Als wüsste sie, dass wir einander endlich gefunden hatten.

Nur konnte sie es nicht wissen. Die einzigen, die ihr davon hätten erzählen können, waren Harry und ich. Und dass keiner von uns es ihr erzählt hatte – vor allem, nachdem wir beschlossen hatten, es noch für uns zu behalten – dafür würde ich beide meine Hände ins Feuer halten.

Ich schüttelte leicht den Kopf, um mich von diesen seltsamen Überlegungen zu befreien. Wahrscheinlich interpretierte ich ihre Worte nur falsch, weil ich wusste, was passiert war. Ich sollte einfach froh sein, dass ich nicht auch noch mit ihrem Zorn umgehen musste.

»Und trotzdem«, fuhr Evelyn fort, »werden deine Eltern ganz sicher nicht erfreut sein. Sie werden vermutlich schnell begreifen, dass du hier bist, sobald sie entdeckt haben, dass du und ihr Auto fehlen.« Damit hatte sie Recht. Dank meiner Ausrede, dass ich mich nicht gut fühlte, würde es sie zwar fürs Erste nicht verwundern, dass ich auf meinem Zimmer war, aber sobald sie nach mir sehen würden, würde die Bombe platzen. Wahrscheinlich würde das nicht mehr lange dauern, denn meine Eltern waren nicht gerade Langschläfer.

Ich bemühte mich, den Stuhl leicht anzuheben, als ich ihn zurückschob, um aufzustehen. »Vielleicht können Sie mir Bescheid geben, wenn es Nachricht von meinen Eltern gibt. Ist es okay, wenn ich jetzt gehe?«

Wieder dieses wissende Lächeln. »Natürlich, Louis. Geh ruhig.«
Langsam wurde sie mir unheimlich. Sie war nett, keine Frage, aber trotzdem gab sie mir ein seltsames Gefühl.

Ich bedankte mich noch, bevor ich das Büro verließ und schnellstmöglich in den Jungstrakt zurückkehrte.

»Kommt ihr heute mit zum Filmabend?« Liam legte das Blatt zur Seite, das ursprünglich für seine Englischhausaufgaben gedacht gewesen, aber doch nur seinen Langeweile-Kritzeleien zum Opfer gefallen war.

Wir saßen zu viert in der Bibliothek – eigentlich alle zum Hausaufgaben machen. Doch das war immer so eine Sache.
Liam hatte gekritzelt, anstatt zu schreiben. Harry hatte seine Hausaufgaben schon alle fertig und hatte seine Zeit damit vertrieben, alle unsere Notendurchschnitte in allen Fächern im Kopf auszurechnen. Niall war der Einzige gewesen, der wirklich etwas gemacht hatte und in irgendeinem dicken Fachbuch las.
Und ich hatte Harry beobachtet, die ganze Zeit. Er schien meinen dauerhaften Blick auf sich nicht zu spüren, aber vielleicht war das auch gut. Ich hätte ihn ewig ansehen können; die Art, wie er sich die Locken wegstrich, wenn sie ihm in die Stirn fielen oder er sich verärgert auf die Lippe biss, wenn er sich verrechnet hatte.

Doch jetzt schien Liam schließlich genug von dem Nicht-Arbeiten zu haben.
»Niall?«, setzte er hinterher, als keiner reagierte.

Der Angesprochene sah auf, schlug das Buch zu und schob es ein Stück in die Tischmitte. Er zuckte mit den Schultern. »Klar.«, antwortete er und dann sahen die beiden uns an.

»Stimmt, es ist ja schon wieder Samstag.«, sagte ich, um der Frage aus dem Weg zu gehen. Ehrlich gesagt hatte ich nicht wirklich Lust, den Abend vor dem Fernseher zu verbringen – ganz egal, wie selten wir diese Gelegenheit auch hatten. Eigentlich war das mit dem Filmabend nicht mal schlecht, denn Liam und Niall könnten schön ihren Film gucken, während Harry und ich ein wenig Zeit für uns hatten. So hatte ich mir das zumindest vorgestellt.

»Welcher Film denn?«, fragte Harry allerdings und ich sah meine Träume schon davonfliegen.

Liam überlegte kurz. »Zurück in die Zukunft.«, erinnerte er sich. »Eins oder zwei, ich hab's vergessen.«

Harry, dieser Idiot, nickte natürlich. »Bin dabei.«
Das war es dann wohl mit der Idee vom ruhigen Abend zu zweit.

Leider stellte sich heraus, dass auch der Rest des Tages bis zum Abend hin nicht mehr viel Zeit nur für Harry und mich enthielt.
Bis auf die Viertelstunde, die wir auf unserem Zimmer verbrachten, waren dauerhaft andere Leute um uns. Und die fünfzehn Minuten, die wir zusammen hatten, vergingen viel zu schnell. Ich hatte das Fenster öffnen wollen, war dabei von Harry abgelenkt worden und hatte es mir so ruckartig gegen meinen Kopf geschlagen, dass ich rückwärts auf Harrys Bett gefallen war (solche Dinge passierten eigentlich immer ihm, nicht mir). Jedenfalls hatte Harry unglaublich heftig angefangen zu lachen, er hatte sich nicht mehr halten können. Nach ungefähr fünf Minuten hatte er sich immer noch nicht wieder eingekriegt und lag schon auf meinem Bett, während er sich lachend den Bauch hielt. Ich hatte das alles nicht so witzig gefunden. Es lief dann darauf hinaus, dass ich keinen anderen Weg gesehen hatte, seinen Lachanfall zu stoppen, als ihn zu küssen. Es hatte einwandfrei funktioniert und so lagen wir zehn Minuten auf meinem Bett und ignorierten den größer werdenden Sauerstoffmangel, während weder unsere Lippen noch unsere Hände sich von dem Körper des Anderen hatten trennen wollen.

Kurz danach war ich abermals von Evelyn abgefangen worden. Meine Eltern hatten mein Verschwinden inzwischen natürlich bemerkt und Nathans Zeugenstand hatte es ihnen nicht schwer gemacht, meinen Standort zu erraten. Sie hatten sofort hier angerufen. Selbstverständlich waren sie nicht gerade froh über das, was ich getan hatte – aber das lag größtenteils an dem entwendeten Auto. Denn der Abend in Hemsby war wunderbar verlaufen, ich hatte mich von meiner besten Seite gezeigt. Die Gäste konnten sich schließlich nicht darüber beschweren, dass es mir zum Ende hin nicht mehr ganz gut ging. Alle waren also zufrieden, da konnten nicht mal meine Eltern sich beschweren.
Wie gesagt, nur das Auto war nicht unbedingt Grund für Freude (allerdings war schon alles in die Wege geleitet worden, wie meine Eltern per Taxi nach London und Nathan hierher kommen würde, um den Wagen wieder mitzunehmen).

Zum Filmabend waren wir früh erschienen und hatten uns ein Vierersofa ziemlich weit hinten gesichert. Wir teilten uns zwei Decken und saßen dicht aneinander auf dem weichen Polster.

Schnell entwickelte sich bei mir erstmals der Wunsch, dass die anderen von Harry und mir wüssten. Unsere Körper berührten sich, aber ich wollte ihn wirklich berühren. Ich wollte ihn in den Arm nehmen, seine Kopfhaut massieren und ihn küssen, wann immer es sich ergab.
Doch das ging nicht.

Ich hielt es nicht länger als die ersten zwanzig Minuten des Films aus, dann griff ich unter der Decke nach Harrys Hand. Er wirkte überrascht und wandte seinen Blick vom Bildschirm zu mir. Doch es war dunkel und niemand schenkte uns Aufmerksamkeit. Für den Bruchteil einer Sekunde, spielte ich sogar mit dem Gedanken, ihm einen flüchtigen Kuss zu geben, aber das war mir dann doch zu riskant. Ich deutete kurz einen Kussmund an, damit er wusste, woran ich dachte. Er drückte meine Hand, als wäre das ein tröstender Ersatz, und damit musste ich mich zufriedengeben.

Unwillkürlich musste ich an unseren ersten gemeinsamen Filmabend hier unten denken. Wie wir Haferkekse, Schokolade und Weintrauben in uns reingefuttert hatten und er gefragt hatte, ob er seinen Kopf auf meiner Schulter ablegen durfte. Wir waren beide eingeschlafen und am nächsten Morgen hatte ich mich wunderbar gefühlt. So wunderbar wie an dem Morgen, an dem Harry aufgrund von zwei Tasen Earl Grey in meinem Bett geschlafen hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte ich es schon gewusst, es mir aber nicht eingestanden. Dieser unvergleichlich perfekte Schlaf lag an Harrys Anwesenheit, es war der gleiche, den ich auch letzte Nacht geschlafen hatte.

Als ich am nächsten Morgen aufgewacht war, war Harry verschwunden gewesen. Den ganzen Tag lang, doch ich hatte einen Anzug in meinem Kleiderschrank gefunden. Ich hatte nicht gewusst, dass ich diesen Anzug bei einem Ball tragen würde, bei dem ich Harry zum ersten Mal küssen würde.

Ich befreite meine Finger von Harrys und legte meine Hand auf seinen Oberschenkel. Mein Daumen malte Kreise auf den engen Stoff seiner Jeans und ich sah ein Lächeln seine Lippen umspielen. Diese wunderschönen Lippen. Sie schienen mich schon innerhalb dieses einen Tages anzuziehen wie einen Magneten, wie gerne ich ihn küssen würde. Er sollte mich küssen.

Aber wir konnten nicht, nicht hier.

Der Film zog sich glücklicherweise nicht allzu lang hin und doch spürte ich, wie ich langsam müder wurde.

Auf dem Weg nach oben lief Niall ein paar Schritte vor uns, Liam unterhielt sich mit Harry, der neben mir ging. Natürlich schenkte Harry Liam seine Aufmerksamkeit, aber zur gleichen Zeit streiften seine Fingerknöchel zwischen unseren Körpern so oft meinen Handrücken, dass es unmöglich Zufall sein konnte.

Liam und Niall wollten uns noch auf Nialls Zimmer einladen, um die Nachtruhe bis zur letzten Minute auszukosten, doch dieses Mal verneinte ich, bevor Harry auf die dumme Idee kommen könnte, Ja zu sagen.

Zu meiner Überraschung gingen wir direkt zum Zähneputzen (man konnte Harry also so oder so nicht von dummen Ideen abhalten). Er wollte sichergehen, dass wir es heute nicht vergaßen wie gestern.
Schweigend standen wir an einem der hinteren Waschbecken, beide mit uns beschäftigt.

Dann sah ich in den Spiegel und stieß direkt auf Harrys Blick, der mich in der Spiegelung beobachtet hatte. Ich zwinkerte ihm zu und mit Zahnpasta gefülltem Mund versuchte er ein Lächeln, was allerdings nur in ein nuschelndes Kichern resultierte. Dann fiel mir auf, wie er sich nach anderen Leuten umsah, als hätte er vor, etwas Verbotenes zu tun.

Fragend nahm ich die Zahnbürste aus meinem Mund. »Was...«, setzte ich an, doch wurde nicht nur von der Blockade der Zahnpasta, sondern auch davon unterbrochen, dass Harry sich blitzschnell zu mir vorlehnte und seine Lippen auf meine legte.

Vermutlich hatte Harry es meiner Überraschung zu verdanken, dass er nicht Opfer eines Zahnpasta-Unglücks wurde. Irgendwie schafften wir es sogar, diesen schaumigen Kuss möglich zu machen. Doch wir lösten uns schnell voneinander, bevor jemand reinkommen konnte.

Ganz als wäre nichts passiert, putzten wir unsere Zähne friedlich weiter, nur unsere verschmierten Münder verrieten einen minzig verbotenen Kuss.

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