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Harry
Vielleicht hätte ich es erwarten können, aber als Louis mich küsste, blieb mir komplett die Luft weg. Ich fühlte mich einfach nur überfordert, ich fühlte zu viel. Zu viele Dinge passierten gleichzeitig. Zur selben Zeit spürte ich Louis' weiche Lippen auf meinen, eine Gänsehaut über meinem gesamten Rücken, eine Explosion meiner Organe und die absolute Unwissenheit, darüber, was ich tun sollte. In dieser Reihenfolge von gut nach schlecht.
Wie ein Blitz schoss mir die Erinnerung an das eine Gespräch mit Niall in den Kopf, als ich ihm erklärt hatte, dass ich mich nicht traute, Louis zu küssen, weil ich nicht wusste, was ich machen sollte. Und genau diese Situation war jetzt eingetreten.
All diese Gedanken und Gefühle rasten in Lichtgeschwindigkeit durch meinen Kopf und sorgten nur für noch mehr Überforderung. Ich spürte Panik in mir aufsteigen.
In dem Moment, als ich gerade in Erwägung zog, Louis bewusstlos zu schlagen, um weglaufen zu können, legte er einen Arm um meine Taille und die andere Hand schmiegte sich an meine Wange. Sanft begann er seine Lippen auf meinen zu bewegen und irgendetwas schien Klick zu machen.
Als könnte er mich beim Küssen genauso führen wie beim Tanzen vorhin, bewegte ich mich plötzlich genauso wie es richtig war. Meine Nase nahm die Atmung wieder auf und meine Hände fanden Halt an Louis' Brust.
Ab dann war es wie Magie. Louis zog mich so fest an sich, als hinge sein Leben an mir. Die Gänsehaut auf meinem Rücken verschwand nicht, ebenso wenig der Tumult von allem in meinem Körper, aber plötzlich fühlte es sich gut an. Mein Körper wurde nicht von mir, sondern Louis kontrolliert und was er in mir auslöste, schien mir nur wieder die Luft zu nehmen.
Seine Lippen fühlten sich so richtig auf meinen an, dass nichts hieran falsch sein konnte. Er bewegte sie sanft; langsam und in einem Rhythmus, den ich nicht verstand, aber trotzdem Teil davon werden konnte.
Harry, schien Louis' Stimme plötzlich in meinem Kopf zu sagen. Ich mag dich.
Ich spürte seine Zunge vorsichtig über meine Unterlippe streichen. Ich fühlte mich, als würde ich gleich an Überwältigung von guten und neuen Gefühlen und Berührungen sterben.
Und ich glaube ehrlich, dass wir eine Chance verdient haben, flog ein weiterer Fetzen des vergangenen Gesprächs durch meinen Kopf.
Bevor ich es verstehen konnte, waren unsere Zungen Teil des Kusses geworden. Ich wusste nicht, wie es funktionierte und trotzdem beherrschte ich es. Eine weitere Welle von unbeschreiblicher Erfüllung überrollte mein Bewusstsein und ohne dass ich es kontrollieren konnte, ließ mein Körper sich ohne jegliche Spannung komplett in Louis' Arme fallen. Unsere Lippen trennten sich voneinander und ich spürte, wie die Kontrolle über meinen Körper wieder in mich zurückfloss. Nach ein paar Sekunden öffnete ich meine Augen und sah direkt in Louis' Augen, die in der Dunkelheit keine Farbe, nur endlose Tiefe zu haben schienen. Ich versuchte, wieder mehr meines Gewichtes auf meine eigenen Füße zu verlagern, aber Louis' Halt gab auch dann nicht nach.
Während sich Wörter und Sätze noch wirr in meinem Kopf zu etwas Sinnvollem zusammenzuordnen versuchten, entwich mir ein leises, überwältigtes und unglaublich erleichtertes Lachen. Wenn das hier kein Traum war, dann hatte Louis mich gerade geküsst.
»Jetzt bin ich bereit zu sterben.«, murmelte ich mit stolpernder Zunge und fühlte mich ein wenig wie auf Drogen – auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie sich das anfühlte.
Louis lächelte und schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Tu mir den Gefallen und stirb nicht.« Ich hatte seine Stimme noch nie so weich und warm gehört. Mein Gehirn und meine Lunge schienen einen synchronen Rückwärtssalto zu machen.
Doch Louis' warme Hände um meinen Körper schienen das Adrenalin in mir langsam zu dämpfen. Aber als könnte es mir nicht vollständig entfliehen, blieb ein mildes Kribbeln in meinem Bauch.
Louis grinste mit dem rechten Mundwinkel höher als dem linken. »Aller guten Dinge sind drei.«, bemerkte er amüsiert, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich ganz folgen konnte. Das schien er zu verstehen und erklärte es mir also. »Die Küsse. Bei den ersten zwei Malen hat es nie geklappt, das dritte Mal schon. Eine magische Zahl.«
Ich dachte an unsere Fast-Küsse auf Louis' Bett und im Schulgarten. Und eigentlich war ich ziemlich froh, dass wir uns erst jetzt geküsst hatten. Natürlich, auch davor wäre es wahrscheinlich wunderschön geworden, aber mein endlos romantisches Herz hatte sich schon längst in diesen perfekten Erster-Kuss-Moment heute Abend verliebt.
Doch auf einmal ergriff mich eine schwache Unsicherheit. »Louis?«
»Mmh?« Er sah mich sanftmütig an, als würde er schon an meiner Stimme hören, dass ich mir über etwas Gedanken machen.
»Was ändert es?« Meine Stimme war ein Murmeln und ich realisierte, dass ich ihm nicht mehr in die Augen sah.
»Der Kuss?« Die Frage schien ihn nicht zu verunsichern, dankbar stellte ich wieder Blickkontakt her. »Es ist allein deine Entscheidung, was er ändert.«
Ohne dass ich es wollte, musste ich lachen. »Louis, glaub mir, ich habe genügend Liebesgeschichten gelesen, um zu wissen, dass das nicht stimmt!« Das war keine Lüge. In all den fiktiven Handlungen erzeugten vorgesehen belanglose Küsse ungewollte Gefühle, die keiner bekämpfen konnte. Küsse konnten eine Menge Dinge ändern, ohne dass irgendjemand Entscheidungskraft darüber hatte.
Aber Louis ließ sich nicht von mir reinreden. »Gut, das mag so sein«, räumte er ein, »aber in unserer Liebesgeschichte stimmt es. Es ist allein deine Entscheidung, was dieser Kuss ändert.«
Unsere Liebesgeschichte. Diese zwei Wörter schienen meine Schädelwand implodieren zu lassen, sobald Louis sie ausgesprochen hatte. Ich gab mir Mühe, mir nichts anmerken zu lassen, aber Louis schien nicht wirklich zu verstehen, was er da gesagt hatte.
Er trat einen Schritt von mir weg und um den Verlust der Berührung wettzumachen, verflocht er unsere Finger wieder miteinander. »Lass dir soviel Zeit, wie du brauchst für diese Entscheidung. Aber bis du soweit bist, würde ich gerne deine Hand halten, wenn du nichts dagegen hast.«
Ich antwortete nicht, lächelte einfach vor mich hin. Wie konnte es sein, dass Louis eine solch sanfte Seite in sich trug – und dass ich es war, dem er sie zeigte?
Ich hatte mich schon immer nach dieser Art von Zuneigung von jemandem gesehnt und jetzt bewies Louis mir, dass ich damit nicht meine Zeit verschwendet hatte.
Ich war noch immer ein wenig überwältigt, als wir Hand in Hand langsam weiter in die Dunkelheit gingen. Um diesen Moment für immer in meiner Erinnerung zu halten – auch wenn ich nicht glaubte, dass das ein Problem werden könnte – wiederholte ich alles nochmal in meinem Kopf.
Gerade dachte ich an das unbeschreibliche Gefühl von der atemlosen Kontrollwiederkehr nach dem Kuss, als Louis stehen blieb.
»Du zitterst, Harry.«, stellte er mit leicht besorgtem Blick fest. »Ist dir kalt?«
Ich schüttelte sofort den Kopf. Es stimmte, ich zitterte, aber das lag garantiert nicht an der Kälte. Ich zwang mich, das Zittern einzustellen.
Erst erkannte ich den Ausdruck auf Louis' Gesicht wegen des fehlenden Lichts nicht ganz, aber dann verstand ich, dass er die Stirn runzelte. »Bist du dir sicher? Dieses Hemd«, er strich mir mit der freien Hand über meinen Oberarm, »kann dich gar nicht warmhalten.«
Dieses Mal schüttelte ich schon weniger überzeugt den Kopf. Das Zittern mochte vom Kuss herrühren, aber im Moment war ich so aufgepeitscht, dass ich vielleicht fror, ohne es zu merken.
»Okay, Harry, ist mir egal, was du sagst – oder nicht sagst. Ich sehe, dass dir kalt ist.«
Bevor ich überhaupt verstand, was er tat, legte er mir sein Jackett um die Schultern. Ich protestierte zwar – denn so würde Louis garantiert frieren – aber er ließ sich nicht umstimmen.
»Louis, das ist albern, mir ist nicht kalt. Dir wird aber kalt werden, also nimm das Jackett zurück. Zu fünfzig Prozent hast du es mir sowieso nur gegeben, weil es als romantisch gilt, selber zu frieren, um jemand anderen zu wärmen.«
Louis verdrehte die Augen. »Titanic ist nicht umsonst einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Also reg dich ab, Rose. Ich nehme mein Jackett nicht zurück. Ich möchte wirklich nicht, dass du frierst, Harry. Lass uns zurück nach drinnen gehen, dann hat sich das Problem. Einverstanden?«
Ich gab es auf und nickte geschlagen.
Gerade wollte ich zurück auf den Weg zum Internat, als Louis mich in einer mühelosen und überraschend eleganten Bewegung zu sich zurück zog. Überrumpelt griff ich Halt suchend nach seinen Unterarmen.
»Was wird das?« Ich hörte mich fast erschrocken an.
Louis' Augen blitzten selbst in der Dunkelheit belustigt. »Dreimal darfst du raten.«
Doch bevor ich auch nur einmal dazu kam, hatte er mich schon in einen weiteren Kuss gezogen.
Dieses Mal war es ganz anders. Ich fühlte mich von vornherein sicher, doch noch immer elektrisierten Louis' Lippen meinen Körper. Nur konnte ich es jetzt voll und ganz genießen.
Das hier war küssen. Etwas, woran ich mich definitiv gewöhnen könnte.
Wo seine Hände meinen Körper berührten, schickten sie Funken die Nervenbahnen herauf. Es dauerte nicht lange, bis ich das glückliche Lächeln nicht mehr bekämpfen konnte und wie dümmlich in den Kuss lächelte.
Mit nun ebenfalls einem halben Grinsen auf dem Gesicht lehnte Louis sich mit wissendem Blick zurück. »Gute Laune, Styles?«, fragte er keck und kniff mir spielerisch in die Seite – seine Hände hatten noch vom Kuss an meiner Taille gelegen.
»Ich kann es...einfach nicht fassen.«, sagte ich ehrlich und brach hoffnungslos in ein Strahlen aus. »Es fühlt sich an, als wäre ich noch nie so glücklich gewesen.«
Louis drehte sich von mir weg, aber ich sah trotzdem sein ebenso glückliches Lächeln.
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Wir ließen uns Zeit auf dem Weg zurück. Ich hatte zwischendurch manchmal ziemliche Schwierigkeiten, mich auf unser seichtes Gespräch zu konzentrieren, wenn Louis einfach nicht aufhören wollte, seinen Daumen über meinen Handrücken kreisen zu lassen.
Ab und zu schaltete ich auch kurz ab, weil ich die Geschehnisse dieses Abends noch lange nicht verarbeitet hatte. Immer wieder sprang es zurück in meine Erinnerung, wie ich vor nur wenigen Stunden einsam und traurig die anderen Schüler auf der Tanzfläche beobachtet hatte. Aber Louis füllte mein Inneres durch seine reine Anwesenheit mit Wärme. Auf eine Weise, wie es keine andere Person vermochte.
»Möchtest du noch zurück in den Sternsaal?«, fragte er mich schließlich, als wir fast wieder beim Internat waren. Ich dachte einen Moment über die Frage nach. Dann beantwortete sie sich selbst, als Louis versuchte, ein Gähnen zu verstecken.
»Okay, Lou, du bist müde. Wir gehen zurück.«
»Ich bin nicht mü-«, er gab seinen Versuch, sich zu verteidigen auf, als er meinen Blick sah. »Also gut, ich bin müde. Es kommt von der langen Autofahrt alleine durch die schwarze Nacht. Da wird man ganz einfach müde. Außerdem ist deine Hand so weich und warm, sie verlockt mich dazu, dich einfach in die Arme zu nehmen und auf der Stelle einzuschlafen.« Er drückte meine Hand leicht. Sanft drückte ich zurück.
»Ich hätte nichts dagegen, wäre es nicht so kalt hier draußen. Stell dir vor, es würde wieder anfangen zu schneien. Warte mit dem Einschlafen noch, bis wir oben sind, ja?«
Als würde ich Unmenschliches von ihm verlangen, verzog er gequält das Gesicht und schlang seine Arme um mich. Allein diese Berührung löste ein Kribbeln in meinem ganzen Körper aus. »Dann musst du mich aber hoch tragen.«, jammerte er.
Auch wenn mir die Nähe zu ihm gefiel, befreite ich mich aus seinem Griff. »Das kannst du vergessen, Louis. Ich trage niemanden die Treppe hoch.«
Wie auf Knopfdruck schaltete er die Quängelei ab und griff wieder lächelnd nach meiner Hand, als könnte er keine Sekunde ohne sie. »Dann nicht.«
Ich wusste nicht genau, wie spät es war, aber viele Schüler schienen den Ball schon verlassen zu haben. Wir gingen wie abgesprochen nicht nochmal in den Ballsaal.
Vielleicht lag es an der Anwesenheit von anderen Menschen, vielleicht lag es aber auch daran, dass Louis beide Hände brauchte, um die Tür zu öffnen, aber im Internat griff er nicht wieder nach meiner Hand. Ich ermahnte mich, nicht weiter darüber nachzudenken, aber nahm mir trotzdem vor, mit ihm darüber zu reden.
Obwohl es zwischen uns keine physische Berührung mehr gab, spürte ich Louis' Wärme noch immer neben mir. Unsere Schultern waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, als wir gemeinsam die Treppen hochstiegen und wir teilten noch immer das vermutlich lächerlich glücklich aussehende Lächeln.
Im Flur des Jungentraktes herrschte der reinste Aufruhr – wie üblich nach dem Ball. Jungen liefen wirr herum, missbrauchten den Gang als Umkleide oder nutzten ganz einfach die verlängerte Nachtruhe an diesem Abend aus, indem sie in kleinen Gruppen auf dem Boden saßen.
Wir schlängelten uns zwischen all den Körpern hindurch, bis es zum Ende des Flures hin immer leerer wurde. Ich beobachtete, wie Louis einmal über seine Schulter sah und dann einen Arm um meine Taille legte.
»Ich habe nichts gegen ein bisschen Ruhe.« Er zog mich näher an sich heran. »Für uns zwei.«
Es kostete mich ein wenig Überwindung, doch ich blieb stehen und schüttelte den Kopf. Entschlossen drehte ich mich aus Louis' Arm und deutete auf die Zimmertür, vor der wir standen.
Natürlich beschwerte Louis sich sofort. »Nein, Harry! Du hast keine Ahnung, wie viel es mir bedeutet, dich endlich geküsst zu haben und dich jetzt halten zu dürfen! Ich hätte dafür garantiert noch mehr Autos gestohlen! Deswegen ist das hier unser Abend, verstehst du? Also komm jetzt nicht auf die dämliche Idee, dich wegzudrehen, wenn ich mich gerade auf die Ruhe unseres Zimmers für uns beide gefreut habe.«
Doch wieder schüttelte ich den Kopf, auch wenn seine Wörter eine unglaubliche Freude in mir auslösten. »Nein, Lou. Es tut mir leid, aber du musst erst noch mit Liam reden. Jetzt. Du bist sein bester Freund, er wird sich freuen, dich zu sehen. Ermutige ihn ein bisschen, vielleicht erzählt er dir ja, was mit Robyn schiefgelaufen ist.«
Louis seufzte übertrieben. »Gott, Harry, ich hasse deine Fürsorglichkeit für alles und jeden. Liam würde das auch überleben, wenn ich erst morgen zu ihm gehe.«
Doch ich gab nicht nach und so musste Louis sich geschlagen geben und klopfte einige Sekunden später an die Zimmertür, ging dann ohne Aufforderung hinein. Ich sah nur kurz Liams perplexes Gesicht bei Louis' Anblick, bevor die Tür sich vor meiner Nase schloss.
Verträumt schlenderte ich weiter in unser Zimmer. Als ich das Licht anknipste, musste ich sofort lächeln. Dieser Ort hatte alles miterlebt, die Erinnerungen für uns eingefangen. Vier Wände, die bezeugten, wie sich der Hass zwischen Louis und mir langsam in etwas ganz anderes verwandelt hatte.
Unterbewusst begann ich, eine zarte Melodie zu summen, während ich Louis' Jackett von meinen Schultern streifte und es behutsam über eine Stuhllehne legte. Auch meine Weste zog ich aus und löste die obersten drei Knöpfe meines Hemdes.
Ohne wirklich zu wissen, was ich tat, blätterte ich durch einen Stapel Papier, bis ich schließlich die Zeichnung von Louis in den Händen hielt.
Ich würde dich auch zeichnen, Harry, wiederholten sich Louis' Worte in meinem Kopf. Das war ganz sicher das beste Kompliment, das mir jemals jemand gemacht hatte. Es war ein ›Ich finde dich auch schön, Harry‹ ohne in irgendeiner Weise plump zu klingen.
Dann hatte er mich geküsst.
Als könnte es zu Staub zerfallen, strich ich mit nur einer Fingerspitze wie ein Lufthauch über die Zeichnung. Sie war mir gut gelungen, aber keine Zeichnung dieser Welt könnte Louis' reale Schönheit einfangen.
Selbst zu Louis' und meinen Kriegszeiten, hatte ich mir immer eingestehen müssen, wie gut er aussah. Die blauen Augen, die manchmal hell wie der Himmel und dann wieder satt wie eine Kornblume waren. Oder die markanten Wangenknochen, die weichen Haare und die perfekte Haut.
All das konnte die Zeichnung nicht vergleichbar darstellen, aber das musste sie auch nicht. Sie war nur ein Abbild und vielleicht war es genau richtig, dass Louis' Schönheit ausschließlich von ihm ausgedrückt werden konnte.
Wie von selbst griff meine Hand nach dem nächsten herumliegenden Bleistift und freien Blatt Papier. Dinge und Momente, deren Schönheit so besonders war, dass ich sie festhalten wollte.
Nach und nach entstand ein weiteres Bild von Louis, dieses Mal gedämpft und schwammig von der Dunkelheit, aber trotzdem erhellt aus der Sicht meiner eigenen Augen. Es war der Louis, der mich im Mondschein an einem zugefrorenen See geküsst und dort mit mir getanzt hatte. Der Louis, dessen Kuss mir mehr als nur den Atem geraubt hatte.
»Greensleeves, hm?«
Aufgeschreckt sah ich von dem Blatt auf und drehte mich auf der Sitzfläche des Stuhls zur Tür, in der Louis lehnte. Erst bei seinen Worten erkannte ich die Melodie, die ich gesummt hatte. Ich ließ Blatt und Stift sinken und stoppte das Summen.
»Wie geht es Liam?«, fragte ich, anstatt auf seine Worte einzugehen.
Louis zuckte mit den Schultern. »Es ist okay, ich glaube, es wird schon besser. Ich würde mit dem Urteilen erst bis morgen warten, da sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Es gab wohl ein Missverständnis zwischen ihm und Robyn – ein unangenehmes, wenn du verstehst, was ich meine. Naja, es wird ihn nicht umbringen.« Er stieß sich leicht von dem Türrahmen ab und schloss die Tür dann hinter sich. Still musterte er die neu entstandene Zeichnung in meinen Händen, sagte aber nichts. Ich legte sie wortlos auf den Tisch und faltete die Hände in meinem Schoß.
»So siehst du noch besser aus als bei meiner Ankunft.«, sprach Louis nach einer Weile in die Stille. Sein Blick blieb kurz an meinem freigelegten Hals hängen und widmete sich dann meinem Gesicht.
»Wie meinst du das?«, fragte ich mit leiserer Stimme, als ich es beabsichtigt hatte.
»Alles an dir ist jetzt nicht mehr so...ordentlich. Ein wenig unsorgfältig, lotterig. Auf eine gute Weise. Das Jackett ist weg, die Weste,«, während er aufzählte, kam er langsam auf mich zu, »Das aufgeknöpfte Hemd, die wirren Haare.«, er strich mir eine Locke aus der Stirn, während er meinem Gesicht immer näher kam, »Die roten Wangen; ich weiß, es war kalt draußen. Die riesigen, grünen Augen, weil du ganz genau weißt, wie nah ich dir bin. Und dann noch die Lippen, sie sind immer rot und voll, aber nachdem sie geküsst wurden...« Er beendete den Satz nicht, sondern küsste mich wieder mit heißen Lippen. Der Kuss war zäh wie Honig; als sich unsere Lippen trennten, war ein leises Schmatzen zu hören.
Ich sah, wie Louis nach mir seine Augen öffnete. Mit seinem Daumen strich er über meine Unterlippe. »Genau das meine ich«, hauchte er und richtete sich dann nach einigen Sekunden zufrieden wieder auf. Ich beobachtete, wie er sich erst die Schuhe von den Füßen streifte und dann mit der Wand im Rücken auf sein Bett setzte. Er klopfte neben sich auf die Matratze und sah mich auffordernd an.
Ich überlegte keine Sekunde, sondern stand auf, entledigte mich ebenfalls meiner Schuhe und ließ mich neben Louis in seine Arme sinken. Mein Kopf fiel langsam auf seine Schulter und mit einer Hand begann er, sanft durch meine Haare zu streichen.
Ein angenehmes Schweigen legte sich über uns, nur unser stetiges Atmen war zu hören. Alles fühlte sich so richtig an, hier, in Louis' Armen.
»Lou-ou?«, fragte ich irgendwann und zog seinen Spitznamen zweisilbig.
»Mmh?«
»Du hast gesagt, ich würde entscheiden, was der Kuss ändert. Das habe ich schon vor unserem ersten Fast-Kuss entschieden, falls diese Entscheidung jemals kommen würde. Ich mag dich sehr, Louis. Und ich will das mit uns. Ich will nichts anderes.«
An der Weise, wie er atmete, hörte ich sein Lächeln. »Perfekt«, sagte er leise und ich spürte einen Kuss auf meinen Haaren. »Ich mag dich auch, Harry.«
Für eine Weile genoss ich diesen Moment, weil er einmalig war. Dann fiel mir die Sache von eben wieder ein.
»Louis?« Ich spürte einen Spross der Unsicherheit in mir aufkeimen. »Du hast meine Hand losgelassen, vorhin, als wir reingekommen sind. Ist es dir unangenehm? Hör zu, ich will dich nicht verurteilen, Louis, und dich vor allem zu nichts zwingen. Ich kann verstehen, wenn du vielleicht noch nicht ganz bereit dafür bist...es offiziell zu machen. Ich kenne deine Vergangenheit, und dass es eine komplette Umstellung ist, sozusagen. Also wenn du noch ein bisschen Zeit brauchst, verstehe ich das. Ich will dich zu nichts drängen.«
Kurz schwieg er. »Du hast nicht Unrecht.«, sagte er dann. »Es ist ein wenig ungewohnt, aber ich will das hier offiziell machen. Wenn du es auch willst, meine ich. Es wäre nur... Gib mir das Wochenende, ja? Lass mir das Wochenende Zeit, solange behalten wir es für uns? Ist das okay? Zwei Tage, dann bin ich bereit. Und dann werde ich deine Hand nicht mehr loslassen – nicht, wenn es nicht sein muss.«
Erleichtert nickte ich gegen seine Schulter. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass Louis wirklich Angst haben könnte und sich einfach zu viele Gedanken machte. Ich hätte es ihm niemals vorgeworfen, Unsicherheit war menschlich und auch in Louis' Situation verständlich. Aber wenn er nur zwei Tage haben wollte, um sich an den Gedanken einer öffentlich gleichgeschlechtlichen Beziehung zu gewöhnen, war mir das mehr als recht. Natürlich wollte ich, dass Louis sich gut bei der Sache fühlte.
Eine Beziehung. Wie verrückt das allein in meinen Gedanken klang. Wie gut das klang.
Weiter an Louis gelehnt, versuchte ich langsam, alles heute Geschehene zu realisieren. Und trotz des lebhaften Kribbelns in meinem Bauch, driftete ich bald in den Schlaf über, das Gefühl von Louis' Lippen noch immer auf meinen.
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back home in london <3
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