• 35 •
Louis
»Louis Tomlinson, dein Gesicht zu sehen, ist ein Segen!«, begrüßte Liam mich überschwänglich und mit dem zarten Hauch von Ironie in der Stimme, der schon längst die dritte Seele unserer Freundschaft geworden war. Er breitete seine Arme aus, als hätten wir uns seit Jahren nicht gesehen. Ich verdrehte die Augen, kam ihm aber entgegen, um mitzuspielen und mich von ihm in die Arme schließen zu lassen.
Bis ich den Grund realisierte, warum er mir seinen Oberkörper so präsent entgegenstreckte.
»Du kleiner Bastard«, murmelte ich und drehte mich sofort von ihm weg. Ohne auf ihn zu warten, ging ich die Treppe wieder hinauf, die ich gerade erst heruntergekommen war, um Liam zu begrüßen. Mit ein wenig Glück hätte ich ihm vielleicht sogar den Koffer hochgetragen.
Aber es hatte sich ja herausstellen müssen, dass dieser kleine Heuchler anscheinend keinen Wert auf meine Freundlichkeit legte.
Liam lachte hinter mir und hatte mich in wenigen Schritten eingeholt.
»Schlechte Laune, Lou Lou?«, grinste er. Ich verdrehte die Augen. Lou Lou nannte er mich manchmal, weil Harry mich einmal so genannt hatte und Liam das anscheinend wahnsinnig witzig fand (ich hatte Harry dann gebeten, mich nicht mehr so zu nennen, weil das klang, als wäre ich sein Haustier oder seine kleine Schwester). Ich antwortete nicht.
»Ach, Louis, ich weiß gar nicht, was du hast.«, sagte Liam mit aufgesetzt vorwurfsvollem Ton. Ich warf einen abschätzigen Blick auf das leuchtend rote Fußballtrikot, das er trug. FC Liverpool. Bah.
Der Punkt war, Liam interessierte sich überhaupt nicht für Fußball. Und ich konnte mich noch allzu genau daran erinnern, wie ich mich über seinen Heimatverein aufgeregt hatte. Was für ein Zufall, dass Liam nach einer Woche Liverpool-Aufenthalt trotz nicht vorhandenen Fußballinteresses mit einem nagelneuen Trikot genau dieses Vereins hier auftrat.
»Du mieser Verräter!« Ich stieß ihn leicht mit dem Ellenbogen zur Seite und starrte dann stur nach vorne. Er grinste einfach schadenfroh weiter.
»Wie kann ich ein Verräter sein, wenn ich nie auf deiner Seite war?«, fragte er triumphierend, denn darauf konnte ich nichts mehr sagen.
Kurzerhand streckte ich mich zu seinem Koffer aus, zog den Reißverschluss blitzschnell so weit wie möglich auf und sah dabei zu, wie sich sein Reisegepäck auf den Stufen der Treppe verteilte.
•
Ich redete erst wieder mit Liam, als er das Shirt ausgezogen hatte. Die Sache mit dem Koffer schien ihn nicht mal wirklich zu ärgern, weil er sich so sehr über seinen Triumph mit dem Trikot freute. Toller Freund.
Wir redeten eine Weile, er erzählte mir von seiner Woche, ich ihm von meiner. Er schien ungewöhnlich begeistert von meinem Bericht, aber ich fragte nicht nach. Erst als ich am Ende der Woche angekommen war, wirkte er plötzlich enttäuscht.
»Eine Woche!«, er warf die Arme in die Luft, »Sieben Tage zu zweit und da habt ihr es nicht geschafft, eu-«
»Liam, hey!« Durch die soeben geöffnete Tür drängte Harry sich an Niall vorbei und schlang Liam kurz die Arme um den Hals. Ohne, dass ich sagen konnte wieso, fühlte es sich gut an, als er ihn wieder losließ. Harry setzte sich zu uns auf die Matratze und das nahm Niall dann als Einladung, sich auch noch dazu zu quetschen. Mein armes Bett.
»Willkommen zurück, Payne!«, grinste Niall und stupste Liam mit dem Fuß an. Der stieß das Bein des Iren weg.
»Hi Niall.«
Kurz sahen wir uns untereinander einfach schweigend an. Ich und Niall quetschten uns Schulter an Schulter auf meinem schmalen Bett nebeneinander und Harry und Liam saßen keine dreißig Zentimeter gegenüber von uns. Nur hatten sie keinen Platzmangel, weil Harry nicht wie Niall entschieden hatte, noch ungefähr einen halben Meter Abstand bis zur Bettkante zu lassen.
»Wie waren deine Ferien, Liam?«, brach Harry dann die Stille und wandte seinen Blick zu den großen, braunen Augen des Jungen neben ihm.
Und damit begann Liam nochmal von vorn.
Ich hörte nicht zu. Wären meine Schultern nicht in einem Schraubstock aus der Wand und Niall eingeschlossen, wäre ich vielleicht eingeschlafen. Aber das war nun mal der Fall, also lehnte ich einfach nur den Kopf an die Wand.
Meine Gedanken wanderten ziellos, mein Blick ebenso. Das erste, was ihn stoppen ließ, waren Harrys wild gemusterten, gelb-lila Socken. Imaginär malte ich die vielen Muster nach, baute geradezu eine Faszination auf. Nachdem ich seine Füße aber ausreichend studiert hatte, wanderte mein Blick langsam höher, wartete darauf, das nächste Mal gefesselt zu werden.
Kurz blieb ich an seinen Schlüsselbeinen hängen. Es war hypnotisierend, wie sie sich bewegten und aus der Haut herausstachen und dann wieder mehr darin versanken, wenn Harry sich bewegte.
Die Haut an seinem Hals sah so...zart aus, dass ich gegen ein plötzliches Verlangen ankämpfen musste, mich einfach vorzulehnen und darüber zu streichen. Mit meinen Fingern. Mit meinen Lippen.
Mein Blick wanderte weiter hoch, bevor ich meine eigenen Gedankengänge voll und ganz realisierte.
Seine Lippen ruhten, während er Liam zuhörte. Manchmal lächelte er zwischendurch, Grübchen entstanden in seinen Wangen wie andere Universen.
Aber so richtig gefesselt wurde mein Blick erst wieder von den jadegrünen Augen. Sie erwiderten meinen Blick und ich lächelte sanft.
Bis mir nach etwa einer Minute auffiel, dass auch die anderen beiden Augenpaare mich erwartungsvoll ansahen.
»Hm- was?!« Ich hoffte, dass die verräterische Wärme in meinem Gesicht keine Röte bedeutete. Niall kicherte leise, Liam verdrehte die Augen, aber Harry sah mich weiter direkt an. Ich widerstand der spürbaren Anziehung dieser zwei grünen Augen auf meine eigenen und zwang mich, Liam mir gegenüber anzusehen.
»Wann du das letzte Mal mit deinen Eltern im Urlaub warst...«, half Liam mir auf die Sprünge und ich musste mich darauf konzentrieren, die Worte auch ja zu verarbeiten. Ich zuckte mit den Schultern, um nicht antworten zu müssen.
Plötzlich schien Niall etwas einzufallen. »Du schuldest mir noch zehn Pfund und einen Monat Samstags-Nachspeise!«, grinste er Liam an und der seufzte, als hätte er gehofft, das Thema würde nicht aufkommen.
Harry hob interessiert die Augenbrauen und sah endlich nicht mehr mich an, sondern zwischen Liam und Niall hin und her. »Ihr habt gewettet? Um was ging es?«
Niall antwortete Harry, sah dabei aber weiter eindringlich Liam an. »Unsere Mission ist fehlgeschlagen. Die Zeit war zu kurz, das habe ich mir schon gedacht. Wir brauchen einen neuen Plan, nicht wahr, Liam?«
Ich runzelte die Stirn und spielte mit dem Gedanken, Niall vom Bett zu stoßen. Konnte dieser Irre auch einmal keinen Nonsens reden?
»Geht's vielleicht noch eindeutiger, Niall?«, fragte Liam Augen verdrehend. Um Harry herum kletterte er vom Bett und zog Niall am Arm hoch. »Ich muss ihn wohl eliminieren.«, sagte er mit erklärendem Blick zu uns (der überhaupt nichts erklärte) und zog Niall mit sich.
Dann waren Harry und ich alleine. Ich überlegte gerade, was ich sagen sollte, als er plötzlich näher zu mir krabbelte. Ich konnte ihm kaum folgen, als er mir schon mit seinen Fingern über die Wange strich und mich dann anlächelte. Überrascht atmete ich die angehaltene Luft aus.
»Wimper«, erklärte Harry lächelnd und hielt seinen Finger hoch, an dem eine einzelne Wimper hing. Erst wusste ich seinen dann erwartungsvollen Blick nicht zu deuten, aber ich begriff schnell.
Sanft pustete ich die Wimper weg.
»Wünsch dir was«, sagte Harry sanft, während er noch immer keinen Zentimeter von mir gewichen war. Ich schloss gehorsam die Augen. Der einzige Wunsch, der sich in meinen Gedanken formte, war, dass ich diese Situation nicht falsch deutete. Dass sich erfüllen würde, was längst schwer zwischen uns in der Luft lag.
Ich öffnete die Augen wieder und starrte Harry an. Ich hatte sein Gesicht nicht so nah vor meinem in Erinnerung gehabt.
»Was ist?«, fragte er und lachte leise über meinen Blick. Die Grübchen in seinen Wangen vertieften sich noch weiter, falls das überhaupt möglich war. Als er blinzelte, bewegten sich seine Augenlider in Zeitlupe.
»Mein Wunsch«, sagte ich langsam, um meine Zunge daran zu hindern, schneller als meine Gedanken zu sein, »Ich hoffe, dass er in Erfüllung geht.« Die grünen Augen durchbohrten meine, als könnten sie meinen Wunsch so erraten. Sein Atem tanzte sanft auf meinen Lippen.
Ich hätte für immer so hier sitzen können. Andererseits schrie mein Inneres so laut nach dem unausgesprochenen Wunsch, dass es gleichzeitig eine Qual war. Segen und Fluch.
Und ich wusste ganz genau, dass es nur eine einzige Lösung dafür gab.
Ich lächelte, um mich selbst zu ermutigen. Sofort leuchteten Harrys Augen. Mein Knie streifte seines und die Bilder in meinem Kopf konnten nicht mehr mit der Realität mithalten. Mein Herz klopfte so laut, dass Harry es einfach hören musste. Ein letztes Mal atmete ich zittrig aus. Dann war ich bereit. Ohne weiter nachzu-
»Harry!«, die Tür wurde aufgerissen und ich wäre beinahe an die Decke gesprungen, »Harry, die Kiefer blei- oh.« Niall, der gerade hereingestürmt war, blieb sofort stehen. »Oh«, sagte er nochmal und sah zwischen mir und Harry hin und her.
»Was?«, fragte Harry und riss jetzt seine Augen von mir los.
»Die Kiefer«, Niall schien sich wieder aufzuraffen und sein Lächeln kehrte zurück, »sie wird nicht gefällt.«
Es brauchte einige Sekunden, bis Harry ihm um den Hals fiel.
Ausdruckslos sah ich den beiden dabei zu, wie sich freuten. Ich hörte nicht zu, befand mich in einer Art Trance. Und eigentlich war ich dafür auch ganz dankbar. Denn sie hinderte mich daran, darüber nachzudenken, was gerade passiert war. Fast passiert wäre. Und vor allem, was das für mich bedeutete.
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