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Harry

»Du hast mit ihm Donnie Darko gesehen? Spinnst du, Harry? Das letzte Mal, als Louis bei einem Notfall in so einer Situation dabei war, hätte er beinahe deine Todesurkunde unterschreiben können!« Ich erwiderte Nialls entgeisterten Blick standhaft. Ich hatte es ihm erzählt, weil ich dachte, dass er stolz wäre. Anscheinend nicht.

»Niall, aber ich habe es geschafft! Ich habe einfach die Augen zugemacht und es war vorbei!«

Sein Ausdruck wurde nicht weicher. »Das ist schön, Harry, aber du hättest dieses Experiment doch machen können, wenn ich da bin. Oder Evelyn oder irgendwer, aber ganz bestimmt nicht Louis!«

»Nein, Niall. Louis hat mir dabei geholfen.«

»Also hast du es ihm erzählt?!«

Ich schüttelte den Kopf und wünschte, Niall wäre manchmal ein wenig gelassener, wenn es um diese Sache ging. »Nein, habe ich nicht. Aber es hat mir geholfen, dass er einfach da war. Es hat mir geholfen, dass er ruhig war, weil er nicht darauf gewartet hat, dass irgendetwas Schlimmes passiert. Er wusste es nicht und war trotzdem da, ohne mich nervös zu machen, weil er selbst es nicht war.«

Und jetzt blitzte zwischen Nialls Wut in seinen Augen beinahe etwas Verletztes auf. »Also willst du mir sagen, dass du es nicht geschafft hättest, wenn ich dabei gewesen wäre«, ich konnte nicht sagen, ob es eine Frage war. »Louis bringt dich an einem Abend weiter, als ich in den ganzen Jahren, ist es das?«

Niall war mein bester Freund, schon so unglaublich lange. Er war wahrscheinlich der Mensch, der mir am wichtigsten war auf der ganzen Welt. Und so war es auch andersherum. Niall kannte mich so gut wie niemand anders und dadurch hatte sich bei ihm eine unglaubliche Verantwortlichkeit für mich entwickelt. Er hatte schon so viel für mich getan, war auf so vielen Ebenen viel mehr als nur ein Freund. Und ich wusste, dass es nicht so sein sollte, aber manchmal war es einfach zu viel für mich. Niall machte sich manchmal zu viele Sorgen, nahm mir meinen Raum und ließ mich das Gefühl haben, ich sei ein kleines Kind, das alleine keinen eigenen Schritt laufen kann.
Aber ich war auf keinen Fall undankbar. Er sollte diese Fragen, die er eben ausgesprochen hatte, nicht mal in Erwägung ziehen.

Ich schüttelte verzweifelt den Kopf und griff nach seiner Hand, aber er zog sie weg. »Niall, nein! Du weißt, dass das nicht stimmt, oder? Ich wollte nicht sagen, dass ich es mit dir nicht geschafft hätte. Das weiß ich nicht, ich kann es nicht sagen. Mit Louis hat es zum allerersten Mal funktioniert und ja, das war, weil er es nicht wusste. Es war, weil er nicht so ist wie du. Aber Ni, bitte, bitte glaube mir, dass er nicht an diesem einen Abend mehr getan hat als du jemals! Und das weißt du; du bist mein allerbester Freund und wirst es immer bleiben. Du bist mein Schutzengel und du bist derjenige, der sich um mich in der Nacht gekümmert hat, als Louis es nicht getan hat. Ich würde dich am liebsten bezahlen, wenn das irgendwie wettmachen könnte, was du für mich getan hast, nur leider ist Geld diese eine Sache, die hier keinem im Leben fehlt. Niall, bitte erzähl dir nichts, was nicht stimmt.«

Ich sah Tränen in seinen Augen schimmern und auch meine Augen brannten. Niall verzog sein Gesicht, um die Tränen zurückzuhalten.
»Ich hasse es mit dir zu streiten, Harry Styles, aber du brauchst mir nichts einzureden, nur damit ich mich besser fühle.«

»Du bist ein masochistischer Idiot, Niall! Ich rede dir nichts ein! Louis mag mit mir diesen dämlichen Film angesehen haben, aber das hätte ich nicht mal gekonnt, wenn du mich nicht schon unzählige Male durch ganz andere Dinge gebracht hättest.«

»Der Unterschied ist nur, dass ich diesen dämlichen Film noch nie mit dir sehen konnte, ohne den Raum zu verlassen oder vorzeitig abzubrechen.« Mit einem überdeutlichen Ausdruck von Verzweiflung rückte er auf seinem Stuhl ein Stück von mir weg.

Ich war mit Sicherheit ebenso verzweifelt und Niall so kurz vor den Tränen zu sehen, machte mich absolut fertig. Aber wieso war er nur so stur? Wieso konnte er nicht einfach akzeptieren, wie wichtig er mir war?
»Das ist doch absolut sinnlos, was wir hier machen, Niall! Worüber streiten wir? Einen verdammten Film? Oder streiten wir wegen Louis? Was möchtest du hören? Dass du nutzlos bist und ich Louis dir jetzt vorziehe, weil er mich durch einen Abend gebracht hat, ohne dass ich gestorben bin? Indem er nichts gemacht hat? Nein, Niall, nein! Bitte. Versteh einfach, dass ich das hier nicht will! Mit dir streiten über fünf Minuten Film!«

In seine wässrigen, blauen Augen zu sehen, ohne den eigenen Tränen freien Lauf zu lassen, war beinahe unmöglich. Die blauen Augen, die ich schon so lange kannte, die ich mit Trauer, Freude, Wut und Liebe gefüllt gesehen hatte. Die drohenden Tränen ließen sie auf die herzzerreißendste Art schimmern, die ich je gesehen hatte. Sein komplettes Gesicht war zerrissen von allen möglichen Selbstvorwürfen, Neid, Verzweiflung und Zorn. Ich konnte nicht begreifen, dass er sich wirklich für diese nutzlose, überflüssige Nebenrolle hielt. Dass er daran zweifelte, dass er der beständigste und stärkste Teil in meinem Leben war. Vor allem aber war es für mich dabei mehr als ein angenehmer Nebeneffekt, dass er ein Herz aus Gold hatte und der beste Freund auf der ganzen Welt war.
Und irgendwie gelang es Niall, so selbstkritisch zu sein, dass er das nicht sah.

Die erste Träne fand den Weg über meine Wange und damit war der Tränenfluch ausgebrochen. Wenn einmal eine Träne floss, ließen sich die anderen nicht mehr zurückhalten.

Ich saß einfach neben ihm, starrte ihn bittend an. Er war zu weit weg, als dass ich wieder versuchen könnte, seine Hand zu nehmen. Aber er sah mir nicht in die Augen, sein Blick lag auf einer meiner kullernden Tränen. Seine Unterlippe zitterte beinahe unmerklich.

»Fuck, Harry, ich kann nicht mehr!«, stieß er in dem Moment aus, als auch er seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Es kümmerte mich nicht mal, dass er fluchte.
Ohne dass einer von uns das unangenehme Geräusch auf dem Fußboden beachtete, zog Niall seinen Stuhl so dicht zu meinem, dass das Holz sich berührte und ich fiel ihm schluchzend in die Arme.

Nialls Umarmung war so eine unbeschreibliche Erleichterung nach dem Streit, dass ich mich vermutlich schmerzhaft fest an ihn klammerte. Aber das schien ihm nichts auszumachen, er hielt mich ebenso fest.

»Es tut mir leid, Haz.«, murmelte er nach einer Weile, als wir uns schon wieder halbwegs beruhigt hatten. Es flossen nur noch vereinzelte, stille Tränen. Wir schaukelten leicht in den Armen des Anderen hin und her, als wäre das Wiegen die einzige Bewegung, die uns jetzt beruhigen konnte.

Ich schüttelte den Kopf gegen Nialls dicken Wollpullover, damit er begriff, dass ihm nichts leidtun musste.

»Doch, Harry. Ich war neidisch auf Louis, bin es wahrscheinlich immer noch ein bisschen. Es tut mir leid. Ich sollte mich für dich freuen, das könnte sogar ein großer Schritt sein. Ich wollte dir keine Vorwürfe wegen Louis machen, oder weil du auch ein Leben hast, das mich nicht beinhaltet. Ich will dir nicht das Gefühl geben, dass du schwach bist und einen ständigen Aufpasser brauchst. Ich bin stolz auf dich.«

Ich spürte eine seiner Tränen in meinem Haar. »Dir muss nichts leidtun, Ni, wirklich. Ich kann verstehen, wie du dich fühlst und ich sehe dich nicht als ständigen Aufpasser.« Kurz schwieg ich. »Du weißt, dass ich mir keinen besseren allerbesten Freund als dich wünschen könnte, richtig?«

Er antwortete nicht, aber das musste er nicht. Wieder legte sich eine angenehme Stille über uns, Minuten verstrichen.
Als Niall irgendwann wieder sprach, war seine Stimme sanft und ohne jeden Vorwurf.

»Du magst ihn, hm?«

Ich lehnte mich leicht zurück, um ihn ansehen zu können. »Wen?«, fragte ich leise und genau wissend, wen er meinte.

Niall lächelte. »Louis. Deine Augen leuchten, wenn du ihn ansiehst.«

Ich sah ihn lange an, versuchte mir selbst die ehrlichste Antwort zurechtzulegen. »Ich weiß es nicht.«, sagte ich wahrheitsgemäß, »Ich glaube ja. Er ist...anders. Er hat sich verändert, meine ich. Und es ist etwas an ihm, das.. ich weiß nicht, ich kann es nicht beschreiben.«

»Du hast ihn verändert.«, sagte Niall mit sanftem Lächeln. »Ich mache dir keinen Vorwurf, Harry, glaub mir. In Louis steckt vielleicht mehr, als er sich selbst eingestehen will.«

Ich nickte und war einfach so unglaublich dankbar für Niall in meinem Leben. Ich dachte über Louis nach und dass ich wahrscheinlich noch ein wenig Zeit brauchen würde, um über meine Gefühle für ihn nachzudenken.

»Worüber wolltest du mit ihm reden?«, fiel mir das Gespräch zwischen Niall und Louis vorhin wieder ein.

Niall zog eine Augenbraue hoch. »Das hast du gehört?«

Ich verdrehte die Augen. »Ich bin nicht taub. Aber manchmal sollte man das einfach nicht zeigen, wenn andere Leute über einen reden.«

Niall grinste. »Dann hast du gehört, dass er dir auf den Hintern gesehen hat?« Er zwinkerte mir zu.

Ich schüttelte nur leicht grinsend den Kopf. »Das macht er bei jedem, glaub mir. Aber jetzt sag schon; worüber wolltest du mit ihm reden?«

Niall schien kurz zu überlegen. »Um ehrlich zu sein, will ich das jetzt gar nicht mehr.« Lächelnd betrachtete er mein Gesicht, musterte es wie ein zu analysierendes Kunstwerk. »Manche Dinge sollten sich von alleine finden.«, sagte er dann entschlossen, schnalzte leicht mit der Zunge und strich mir ein letztes Mal über den Arm, bevor er mich endgültig losließ.

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