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Louis
»Hier« Er drückte mir die Tasse mit dampfender, heißer Schokolade in die Hand. Ich bedankte mich mit einem Lächeln und rückte ein Stück zur Seite, damit Harry sich neben mich setzte. Das tat er auch und schlang dann wie ich es getan hatte eine Decke fest um seinen Körper.
Wir saßen unten im Gemeinschaftsraum auf einem der Sofas, beide in Steppdecken gewickelt und eine frische Tasse mit heißer Schokolade in der Hand.
Es war jetzt schon fast fünf Uhr. Wir waren vor etwa einer halben Stunde von draußen wieder reingekommen. Das Mittagessen hatten wir verpasst und eigentlich hätten wir beide auch noch ewig dort draußen im Regen rumtollen können, aber als ich Harry absichtlich ein Bein gestellt hatte und er wie ein Stein in eine riesige Pfütze gefallen war, war er komplett nass gewesen und wir hatten entschieden, zurück zum Internat zu gehen. Bis wir hier gewesen waren, hatte ich pausenlos gelacht (Harry hatte versucht wütend zu sein, aber er hatte auch einfach nur lachen müssen).
Wir hatten uns dann trockene Sachen angezogen und Harry hatte uns die warmen Getränke besorgt. Und jetzt saßen wir hier.
Harry winkelte seine Beine an und zog sie fest an seinen Oberkörper. Die Hände schlang er so fest es ging um die Tasse, um sie daran zu wärmen.
»Hey Lou?«, fragte er dann und ich realisierte den Spitznamen nur halb. »Ich kenne dich gar nicht richtig. Wir leben schon zwei Monate in einem Zimmer und ich weiß irgendwie nichts über dich.«
Ich hob überrascht die Augenbrauen. »Du weißt nichts über mich? Ich weiß nichts über dich!«
»Dann lass uns das ändern!« Er setzte sich ein wenig offener hin, sodass wir uns ansahen. Auch ich drehte mich zu ihm.
»Wir stellen uns abwechselnd Fragen, okay?«, schlug ich vor. »Es ist nicht schwer. Es gibt nur eine Regel: antworten.«
Er nickte begeistert.
»Fang an.«, sagte ich auffordernd.
Ich trank etwas von meiner heißen Schokolade und überlegte, was ich überhaupt schon von Harry wusste.
»Gut«, sagte Harry. »Ich kenne deinen Namen, Louis Tomlinson. Und damit hört's dann-«
»William«, unterbrach ich ihn.
»Was?«
»William, mein Name.«
Harry runzelte skeptisch die Stirn.
»Du willst mir erzählen, du heißt gar nicht Louis, sondern William? Du hast mich die ganze Zeit angelo-«
»Nein!«, fiel ich ihm wieder ins Wort. »Ich heiße Louis. Louis William Tomlinson.«
Harry schien einen Moment darüber nachzudenken. Seine Lippen bewegten sich kaum merklich, als würde er den Namen ausprobieren.
»Hey!«, sagte er dann plötzlich und wirkte beinahe beleidigt. »Erinnerst du dich an das Anthropologiebuch? Als du dich über meinen Namen lustig gemacht hast, weil es klingt wie ein Name der Königsfamilie?«
Ich nickte. »Jap« Dem konnte ich auch immer noch zustimmen. Harry Edward. Ich war kein Experte auf dem Gebiet, aber ich wusste, dass Harry und Edward beides populäre Namen in unserem britischen Königshaus waren. Harry könnte definitiv ein Prinz sein.
»Aber sowas darfst du nicht sagen, wenn du selbst Louis William heißt!« Vorwurfsvoll tippte er mir mit einem Finger auf die Brust. Ich zuckte einfach mit den Schultern. »Dieses Spiel ist jetzt schon ein Skandal!«, erklärte Harry aufgeregt. »Und ich habe noch nicht mal die erste Frage gestellt.«
»Dann tu es jetzt.« Ich trank noch einen Schluck. Die Wärme strömte angenehm durch meinen Körper.
»Wie alt bist du, Louis William?« Ich musste bei der Frage lachen. Einfach wegen der Tatsache, dass wir nicht einmal das Alter des Anderen kannten.
»Siebzehn«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Und du?«
»Sechzehn. Wann wirst du achtzehn? Also, wann hast du Geburtstag?«
»Am 24. Dezember. Ja, einen Tag vor Weihnachten. Ich hasse es.«
»Wurdest du später eingeschult oder warum sind wir in der gleichen Klasse, obwohl ich dieses Jahr erst sechzehn geworden bin und du schon achtzehn wirst?«
Ich schüttelte den Kopf. »Eine Frage nur, Harry. Du hast nach meinem Geburtstag gefragt, jetzt bin ich dran. Wann ist deiner?«
»1. Februar. Sagst du mir jetzt, ob du später eingeschult wurdest?«
»Wurde ich nicht. Ich habe die sechste Klasse wiederholt.«
Harry sah überrascht aus. Mir war das total egal. Schule war mir total egal.
»Weißt du, Lou, ich glaube, dass du gar nicht so dumm bist. Du könntest wirklich gut sein.« Diesmal fiel mir der Spitzname auf und ich dachte kurz darüber nach.
»Wieso nennst du mich Lou?«
Harry zuckte mit den Schultern und lächelte. »Ich mag es. Hört sich schön an. Und passt zu dir. Lou.« Er machte eine kurze Pause, dann redete er weiter. »Ich bin dran, du hast nach dem Spitznamen gefragt. Was ist deine Lieblingsfarbe?«
Überfordert sah ich ihn an. Lieblingsfarbe. Was war das denn für eine Frage? Als würde meine Lieblingsfarbe irgendetwas über mich aussagen. Ich hatte nicht mal eine. Wozu auch? »Keine Ahnung, ich habe keine. Rot?«
Er schien mit der Antwort zufrieden zu sein und lächelte in seine Tasse. Ich beobachtete ihn eine Weile, bis mir die nächste Frage einfiel.
»Wieso bist du hier, Harry?«
»Hm?« Er sah hoch und weitete die Augen leicht, damit ich es wiederholte.
»Wieso bist du hier? Ich meine, falls es dir noch nicht aufgefallen ist; Niemand ist hier. Kein Schüler ist geblieben. Wieso bist du hier?«
»Du bist doch auch hier.«
»Das ist keine Antwort.«
Er sprach nicht sofort. Sein Blick sprang unruhig zwischen mir und seinen Händen hin und her.
»Ich bin gerne hier. Auch in den Ferien. Außerdem sind meine Eltern sehr weit weg.«
Das war so ungefähr die unzufriedenstellendste Antwort, die ich hätte bekommen können. Aber ich fragte nicht weiter, Harry schien angespannt. Vielleicht hatte er auch Streit mit seinen Eltern.
Ich musterte sein Gesicht und wartete auf das grübchenbesetzte Lächeln. Aber Harry lächelte nicht.
»Du bist dran, Haz.«, sagte ich sanft und stieß ihn leicht mit dem Knie an. Und ich wusste nicht, ob es die Berührung oder das ›Haz‹ war – oder beides – aber er lächelte wieder und nickte.
»Mmh«, überlegte er, »Hast du Geschwister?«
Ich schüttelte den Kopf. »Glückliches Einzelkind. Du?«
Auch Harry schüttelte den Kopf, aber er sah nicht ganz so glücklich darüber aus. Verständlich, ich konnte mir vorstellen, dass Harry so ziemlich der beste und liebevollste Bruder wäre, den man sich vorstellen konnte.
»Frag weiter«, forderte ich ihn auf und er dachte nach. Doch nach wenigen Sekunden richtete er seinen Blick schnell in seinen eigenen Schoß. Ich sah ihm an, dass er eine Frage hatte. Er traute sich nur nicht, sie zu stellen.
»Na komm, Harry, frag schon!«, ermutigte ich ihn. Wozu spielten wir dieses Spiel schließlich? War ja langweilig, wenn nie ein paar interessante Fragen kamen.
Er schien noch eine Weile mit sich zu ringen, aber dann fragte er doch.
»Hast du eine..naja, Freundin?« Grinsend verdrehte ich die Augen. Um diese harmlose Frage machte er so einen Wirbel?
»Nein, habe ich nicht. Und damit du nicht noch mehr Fragen opfern und Farbe in deine Wangen bringen musst, beantworte ich dir auch gleich die restlichen Fragen, die noch in deinem Kopf herumfliegen. Ja, ich hatte schon eine Freundin. Mehr als eine, es waren auch nicht alles feste Beziehungen – manches dauerte nicht länger als einen Tag. Ich bin niemand, der sich gerne bindet. Am längsten war ich mit einem Mädchen für fast vier Wochen zusammen. Und zu der nächsten Frage, auch wenn du es dir jetzt wahrscheinlich schon denken kannst; ja, ich hatte schon Sex. Wie sieht's mit dir aus?«
Harry glich einer Tomate. Er hatte wahrscheinlich keine der Antworten so ausführlich oder überhaupt erwartet. Aber wieso sollte ich nicht offen darüber reden können? Das meiste waren einfach nur Mädchen, mit denen ich einmal geschlafen hatte. Ende. Nichts Wildes.
»Na komm schon, Harry. Erzähl's mir!«
Ich konnte sehen, wie er sich an seine Tasse klammerte. Aber dann antwortete er doch.
»Ich hatte noch keinen Freund.«, sagte er und wirkte sogar ziemlich selbstbewusst und ungezwungen damit. »Und ich hatte noch nie...naja, ich bin noch Jungfrau.«
Ich musste lächeln, als Harry schüchtern wegsah. Er erinnerte mich an...um ehrlich zu sein, erinnerte er mich an niemanden. Ich kannte niemanden wie Harry. In London lief man nicht regelmäßig süßer Unschuld über den Weg.
»Lou, darf ich noch etwas über, ähm, zu diesem Thema fragen?«
»Nein, auf keinen Fall! Geh bloß weg, wie kannst du nur?!«, rief ich, doch als ich an Harrys perplexem Gesichtsausdruck sah, dass er die Ironie offensichtlich nicht verstanden hatte, berichtigte ich mich schnell. »Nein, Haz, hey, das war ein Spaß! Na los, frag schon!«
Er zögerte nur noch kurz. »Bist du in Eleanor verliebt– also hast du Gefühle für sie, ich meine keine freundschaftlichen Gefühle, sondern eben-«
»Ich weiß, Harry!«, unterbrach ich ihn. »Und nein. Habe ich nicht. Wir haben noch nie wirklich gesprochen.« Ich verstand nicht, wieso Harry fragte und auch nicht wirklich, wie er überhaupt darauf kam, aber dieser Junge war mir sowieso ein Rätsel.
Er sah mich skeptisch an. »Nie gesprochen? Ihr habt euch geküsst, euch gegenseitig ausgezogen!« Ich zuckte mit den Schultern und musste über Harrys naive Unschuld lachen. »Oder meinst du mit ›nie wirklich gesprochen‹, dass ihr einfach nicht super viel gesprochen habt?«, fragte er weiter. »Hast du mit ihr mehr gesprochen als mit mir?«
»Nein. Wir haben in all den Wochen wirklich nur ein paar Worte gewechselt. Mir dir habe ich viel mehr geredet. Brauchst du einen Maßstab? Die Gesprächsmenge mit Eleanor entsprach letztendlich Küssen und Rummachen. Wenn man das in unsere Gesprächsmenge umrechnet, wären wir beide schon in der vierten Woche unserer wirklich hemmungslosen Flitterwochen.«
Ich war ziemlich stolz auf diesen Vergleich, auch wenn ich Harrys Wangen damit wieder in einem zarten Rosa färbte. Ich hatte auch keine Ahnung, was er gerade in seinem Kopf für eine Statistik mit all diesen Informationen entwarf.
»Ich glaube, das reicht für heute an Kennenlernen.«, sagte Harry mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. »Die letzten Themen müssen wir nicht unbedingt weiter ausbauen. Spielst du mit mir Karten?« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern krabbelte einfach unter seiner Decke hervor und lief zu einem der hohen Holzregale.
Während Harry die Fächer nach den Karten absuchte, beobachtete ich meine heiße Schokolade und versuchte so gut es ging, das gesamte Gespräch in meinem Kopf zu wiederholen und mir alles zu merken, was ich über Harry gelernt hatte.
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