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Louis
»Also gut. Drei Regeln.« An der Hand zog ich Harry aus der vollen U-Bahn auf den nicht viel weniger vollen Bahnsteig. Westminster Underground. Definitiv Zeit, Harry wissen zu lassen, wie es hier laufen würde. »Erstens; weich nicht von meiner Seite, Harry. Unterschätze die Geschwindigkeiten von Menschenströmen nicht. Mach Bögen um zusammengehörige Touristengruppen. In U-Bahn-Stationen lass meine Hand nicht los. Das letzte, was ich brauche, ist dich Bambi in der Innenstadt zu verlieren.«
Harry nickte. Sein Gesichtsausdruck war aufmerksam, aber sein Blick lag auf den bunten Werbeplakaten um uns herum. »Hast du das Handy dabei?«
»Natürlich.« Als Beweis tätschelte ich die Tasche meiner Jeansjacke. »Das war Evelyns wichtigste Bedingung.« Schwachsinn, wenn irgendjemand sich für meine Meinung interessiert hätte. Sie hätte lieber vorschreiben sollen, dass Harry und ich beide ein Handy brauchten. Was verdammt nützte es mir, immer mit dem Internat in Verbindung stehen zu können? Und wieso musste die Schulleiterin dafür ein dämliches Prepaid-Handy haben? Konnte ich nicht einfach in ihrem Büro anrufen?
Außerdem hatte ich das Handy stumm gestellt. Niemand würde Harrys und mein Wochenende stören.
»Was ist die zweite Regel?«, fragte Harry. Also hatte er doch halbwegs zugehört.
»Wenn du etwas weißt, das du sehen oder tun willst, sag Bescheid. Egal was. Sag es. Wir haben ein Wochenende hier. Lass es uns nutzen. Und ich weiß, ich sage das jetzt zum hundertsten Mal, aber das hier ist dein Geburtstagsgeschenk. Lass mich die Wünsche erfüllen, die sich erfüllen lassen.«
»Du nimmst das alles unheimlich ernst, Louis.« Er drückte meine Hand. »Es reicht mir schon, dass wir überhaupt hier sind. Warte, das stimmt auch nicht. Ich habe nie erwartet, dass du mir den Ausflug hierher schenken würdest. Also ist es ganz egal, was wir machen. Du hast schon alle Erwartungen übertroffen.«
»Das schmeichelt meinem Ego, aber ich meine es ernst. Sag mir, wenn du etwas machen möchtest.«
»Mach ich, danke. Was ist die dritte Regel?«
»Nimm den dämlichen Anstecker ab.« Ich deutete auf Harrys Brust, an der in seinem Shirt der I♥LDN-Pin steckte, den ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. »Du siehst aus wie irgendsoein alberner Tourist.«
Harry lächelte auf das herzförmige Metall in den Farben des Union Jacks hinab. »Aber das bin ich doch.« Er zwinkerte mir zu. »Tut mir leid, Louis, aber diese Regel muss ich brechen.«
Ich seufzte laut, damit ihm mein Missfallen bewusst war. Natürlich störte es Harry nicht, das lächerliche Souvenir offen zu präsentieren. Sein Touristenimage machte ihm nichts aus. Das hätte mir eigentlich schon die Polaroidkamera, die um seinen Hals baumelte, verraten sollen. Nialls Geburtstagsgeschenk an ihn.
»Ich hätte nicht erwartet, dass die U-Bahn-Stationen so sehr wie Raumschiffe aussehen.«, bemerkte Harry, während er die großen Betonsäulen musterte.
»Das ist eigentlich nur Westminster. Schön viel grau, damit die Sehenswürdigkeiten draußen noch einladender wirken.« Wir traten auf eine Rolltreppe.
»Jedenfalls bin ich froh über Regel Nummer 1.« Harry verschränkte seine Finger mit meinen, er vor mir auf der Rolltreppe, während neben uns Menschen in Eile überholten. »Ohne dich wäre ich hier drin für immer verloren.«
Ich lehnte mich leicht vor und lachte neben Harrys Ohr. Eine Locke kitzelte meine Wange. »Das hier ist gar nichts. Paddington ist die Hölle. Und von Camden Town will ich gar nicht erst anfangen.«
»Weißt du«, Harry zog mich von der Rolltreppe, »ich finde, es ist kein Wunder, dass du in London nicht gut in der Schule warst. Wie sollst du den ganzen Schulstoff lernen, wenn du all diese Dinge und Namen mit der U-Bahn wissen musst?«
»Vielleicht kann ich das nachträglich als Anmerkung an mein Zeugnis aus der sechsten Klasse anfügen. Als ich das Jahr wiederholen musste. ›Es war wegen der U-Bahn-Linien! Auch wenn ich von einem Chauffeur zur Schule gefahren worden bin. Versprochen!‹«
»Wenn du deiner alten Schule deine jetzigen Noten zeigen würdest, dann würden sie die Anmerkung vielleicht selbst schreiben. Inklusive einer offiziellen Entschuldigung.«
»Du weißt schon, dass meine jetzigen Noten zu 95% dir zu verdanken sind, oder? Du hast einen verdammten Musterschüler aus mir gemacht. Da rüber; Bridge Street.« Entschlossen drängelte ich uns so wenig aggressiv wie möglich vor eine fünfköpfige Familie, die mit ihren riesigen entfalteten Stadtplänen einen klasse Sonnenschutz draußen für uns abgegeben hätten.
»Das ist nicht wahr. Du magst dir ein paar meiner Angewohnheiten abgeguckt haben und ich bin immer gerne da, um dich zu motivieren, aber am Ende des Tages, bist allein du es, der das Wissen in seinen Kopf bringt und es dort behält. Ich konnte dich nur so schlau machen, wie du selbst bi- whoa!«
Ich konnte das Lächeln nicht unterdrücken, als Harrys Kopf in die Höhe schoss.
»Du hattest etwas von Big Ben gesagt..?«, grinste ich.
Seine Augen strahlten groß und grün in der Sonne. Mit leicht geöffnetem Mund nahm er den plötzlichen Anblick des Elizabeth Towers in sich auf, nur wenige Meter von uns entfernt auf der anderen Straßenseite.
Erleichtert verloren meine Schultern etwas an Spannung. Westminster Station – Ausgang Bridge Street. Klappte jedes Mal.
Aus dem Raumschiff direkt vor den Westminster Palace. Gern geschehen.
Ein atemberaubender Anblick für jeden, der einen Haufen Steine mit einer Uhr drin atemberaubend finden konnte. Was Harry offenbar einschloss. War ich überrascht? Nein. Störte es mich? Auch nein. Das machte es wenigstens einfacher, seine Touristenbedürfnisse zu befriedigen.
»Louis!«, strahlte Harry, als wäre ich der fast 100 Meter hohe Glockenturm vor ihm.
Oder eher, als hätte ich ihn dort persönlich hingestellt. Das wäre nun wirklich ein gutes Geburtstagsgeschenk gewesen.
»Gefällt es dir?«, fragte ich – unnötigerweise.
Harry hatte schon seine Kamera gezückt. »Machst du ein Foto von mir?« Aufgeregt drückte er mir das erstaunlich leichte Gerät in die Hände.
Amüsiert schüttelte ich den Kopf. »Nicht hier, Dummkopf. Du würdest nichts vom Turm mit raufkriegen.«
»Dann zeig mir, wo, Dummkopf!« Motiviert und etwas orientierungslos drehte Harry sich um sich selbst. Ich hätte ihm zugetraut, dass er zurück in die U-Bahn-Station spaziert wäre. Wow, ich müsste wirklich auf ihn aufpassen. Wahrscheinlich wusste er nicht mal meine Adresse, falls er wirklich verloren gehen sollte. Vielleicht sollte ich ihm wie einem Kleinkind einen Zettel mit Kontaktdaten mitgeben. Sicher ist sicher.
Nachdem ich es geschafft hatte, Harry nicht an Zayn und meine eigene Dummheit zu verlieren, wollte ich ihn garantiert nicht an das Großstadtchaos verlieren.
Ich umfasste Harrys Schultern und drehte ihn sanft in die richtige Richtung. »Parliament Square.«
Es würde ein schreckliches und peinliches Verrenken kosten, ein wirklich gutes Bild von Harry auf dem Parliament Square zu schießen, aber war ich bereit dazu, mich komplett vor allen anderen Menschen dort zu blamieren, nur für Harry? Verdammt ja. Wollen wir wetten?
»Du bist der Beste, Lou.« Harry setzte einen warmen Kuss auf meine Wange, dann hüpfte er schon davon. Energiebündel. Gott, ich liebte diesen Jungen viel zu sehr.
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»Es ist Anfang Mai und wir essen Eis!«Harry strahlte mit der Sonne um die Wette. Seine Locken glänzten im hellen Licht des Nachmittags.
Ich fuhr mit einem Finger das schnörkelige Muster des gestickten Tischdeckchens nach. Das kleine Café am Straßenrand war eine perfekte Wahl für diese kleine Auszeit für unsere Füße gewesen. »Ja, es ist wirklich verrückt, dass wir so Glück mit dem Wetter haben. Das einzige, was ich vorher nicht planen konnte. Geld hin oder her.«
»Das ist aber ehrlich der beste englische Frühling seit Jahren.« Harry schob sich einen weiteren Löffel Eis in den Mund. »Es ist jetzt schon seit Wochen warm.«
Ich pustete in das Sahnehäubchen auf meinem Eisbecher. »Wahrscheinlich wird der Sommer uns das heimzahlen.«
»Nicht so pessimistisch, Louis!« Harry leckte sich Schokoladeneis von den perfekten Lippen.
»Ich will dich küssen, Harry.«
Lächelnd sah Harry auf. »Ich werde dich ganz bestimmt nicht aufhalten. Du bist derjenige von uns, der kein Freund von PDA und so ist.«
»Heißt das, ich darf?« Ich streckte meine Finger aus und strich über Harrys nackten Unterarm.
Harry schob seinen Eisbecher neben meinen. Erstaunlich elegant rückte er seinen Stuhl um den runden Tisch herum neben meinen. Über die dünnen, metallenen Armlehnen hinweg lehnte er sich herüber und küsste mich.
Seine Lippen waren kalt und süß vom Eis. Seine Zungenspitze brachte den klebrigen Geschmack der Schokosauce in meinen Mund. Ich konnte mich nicht einmal dazu bringen, mich dafür zu schämen, Harry vor den Augen Hunderter Leute zu küssen. Es war nicht so, als wollte ich zu einem dieser Pärchen werden, die selbst in der Öffentlichkeit einfach nicht die Finger voneinander lassen konnten. Alles, was ich wollte, war Harry zu küssen, wann immer ich wollte.
Ich lächelte selig, als ich mich zurücklehnte. Harry schnappte sich wieder seinen Löffel und nutzte den neuen Platz aus, um mein Blaubeersorbet zu probieren. Ich hätte es ihm am liebsten gleich wieder von den Lippen geküsst.
»Harry?« Meine Stimme war ruhig und am Nachbartisch nicht mehr zu hören. »Möchtest du wissen, was ich mir für heute Abend überlegt habe?«
Er blinzelte mich nur kurz an. »Wir gehen wieder essen. Hast du mir vorhin schon erzählt. Piccadilly Circus, als wir auf die Coca-Cola-Werbung gewartet haben.«
Ein Lachen kitzelte meinen Gaumen. »Das meine ich nicht.« Ich malte mit dem Löffel Linien in mein Eis. Ursprünglich hatte es komplett eine Überraschung bleiben sollen, aber eigentlich war es besser, das vorher abzuklären. Keine Ahnung, ob Harry sich vielleicht auch psychisch irgendwie auf sein erstes Mal vorbereiten wollte. »Wenn wir wieder zurück sind, danach.«
»Was ist dein Vorschlag?«
»Dass wir nachholen, wovon Zayn uns abgehalten hat. Dieses Mal können wir uns sicher sein, dass wir alleine sind.« Ich strich ihm eine Locke hinters Ohr, seine grünen Augen schenkten mir jetzt ihre volle Aufmerksamkeit. »Wenn du magst. Und bereit bist.«
Für ein paar Sekunden spürte ich seinen Atem nicht mehr auf meiner Haut. Dann hob er plötzlich die Kamera auf die Höhe meines Gesichts und drückte ein paar Zentimeter von meinem Gesicht entfernt auf den Auslöser. Der helle Blitz ließ mich die Augen zusammenkneifen.
»Was zur Hölle, Harry?!«
Mit leisem Surren druckte die Kamera das Foto. Harry nahm es und schüttelte es sanft – es kümmerte ihn nicht, dass ich ihm erklärt hatte, dass vom Schütteln abgeraten wurde.
»Ich wollte nur den Moment festhalten, als du mitten im Zentrum von London damit begonnen hast, über unser Sexleben zu berichten.« Seine Mundwinkel zuckten nach oben. Er schüttelte weiterhin das Foto. »Für Niall.«
»Wenn du noch ein Wort über den Iren sagst, ziehe ich den Vorschlag zurück.«
»Bitte nicht.« Er setzte einen zarten Kuss auf meinen Kiefer. »Ansonsten hätte ich dir nämlich gesagt, dass mein Bauch vor Aufregung angefangen hat zu kribbeln. Und dass ich mir nichts vorstellen kann, das ich heute Abend lieber tun würde.«
Er drückte mir das Foto in die Hand. Noch etwas blass zeigte der Ausschnitt nicht viel mehr als meine Nase und mein halbes Auge. Ein großartiger Schnappschuss.
»Ich liebe dich, Harry.«
»Ich liebe dich, Louis.« Er versuchte ein Lächeln zu unterdrücken, aber rümpfte letztendlich nur auf seltsame Weise die Nase. Ja, ich liebte ihn. »Es fühlt sich gut an, das sagen zu können. Vor heute Abend. Vielleicht müssen wir Zayn doch dankbar sein, dass er unser erstes Mal vor ein paar Wochen verhindert hat.«
Ich schnalzte mit der Zunge. »Nur über meine Leiche.«
»Kann ich dir nicht vorwerfen.« Harry vermischte die Schokosauce in dem schlanken Glasbecher mit dem halb geschmolzenen Eis. Dunkle Wirbel formten sich. »Sex«, flüsterte Harry ungläubig, mit halbem Lächeln und den Blick verträumt in seiner Eiskunst verloren.
Ich schwieg, um ihn weiter so sehen zu können. Vorfreudig. Ungläubig. Aufgeregt. Mit dem Kribbeln im Bauch, das ich auf seinen rosigen Wangen lesen konnte. Wie konnte ein Mensch so perfekt sein?
Minuten mussten verstrichen sein, als Harry wieder aufsah. Ich versuchte, das Gefühl in meinem Inneren für immer abzuspeichern. Liebe und Sonne und London und Eis und Harry.
»Was machen wir als nächstes?«, fragte Harry sanft, als teilte er das Bild in meinem Kopf. Als wüsste er, dass er der Mittelpunkt eines Kunstwerkes in meinem Herzen geworden war.
Ich verschlang einen großen Löffel kaltes Blaubeersorbet, um mich wieder auf den Teil der Realität zu konzentrieren, der von mehr Menschen als mir alleine wahrgenommen wurde.
»Ich kann nicht glauben, dass ich das vorschlage.«, sagte ich und versuchte den Gedanken an Sex heute Abend beiseite zu schieben. Ich hatte schon alles, was wir benötigen würden, besorgt. Inklusive der Kerzen. »Aber was hältst du davon, wenn wir Zayns Eltern einen Besuch abstatten?«
Verwirrt runzelte er die Stirn. »Was?«
»Die National Gallery. Du warst noch nie da, schätze ich..?«
Harrys Augen wurden groß, er schüttelte den Kopf. »Louis, ja! Ich liebe die Idee!«
Ich nickte glücklich. »Sehr gut. Dann iss dein Eis. Wir wollen van Gogh doch nicht warten lassen.«
»Auf keinen Fall!«
Er küsste meine Wange. Ich lehnte mich vor und küsste seine Lippen. Küsse würden die Überbrückung bis heute Abend bleiben. Das war okay. Warten war okay. Harry würde bleiben. Hier, an meiner Seite. Das wusste ich.
Ich vertraute ihm – etwas, das ich gelernt hatte, nachdem ich es nicht getan hatte.
Ich liebte ihn.
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Viel Spaß beim Anstehen <3
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