Ocean Eyes
Sie sprang auf. Die ganze nervöse Energie, die sich in ihr gesammelt hatte, brauchte ein Ventil das sich nur durch Bewegung erreichen ließ. In der gleichen Sekunde erinnerte sie sich daran, das sie versteckt bleiben musste. Sie war auf der Flucht - irgendwie. Vor ihrem Vater. Vor dem Monster. Und vor Billy, richtig?
Auf leisen Sohlen schlich sie durch die Mall, wunderte sich über das Chaos, beschloss ihm jedoch nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken und weiter Richtung Ausgang zu steuern. Bleib bei der Sache Jamie!, ermahnte sie sich selbst Du kannst dich nicht um die anderen kümmern, wenn du Tod bist. Sie musste hier raus, sie musste hier weg. Es war gespenstisch still in der Mall, so still das man das Zischen den Stroms hören konnte, wie es durch die kaputten Kabel Funken sprühte. Sie sprang zur Seite, dass ihre Gummisohlen quietschten, als das Kabel zuckend auf dem Boden hin und her zuckte in dem Versuch weiteren Schaden anzurichten. Dann sah sie den Ausgang.
Eine Welle der Erleichterung kam über sie, als ihr im nächsten Atemzug auch schon wieder das Herz in die Hose rutschte und Schritte ertönten
Anstatt durch den Eingang davon zu rennen, übernahm ihr Überlebensinstinkt und sie rannte die Treppe ein Stockwerk höher, weg von den Geräuschen und versteckte sich, indem sie sich an der Reeling auf den Boden legte und so vorsichtig wie möglich an den Rand rutschte um das Stockwerk unter ihr zu betrachten. Nun hatte sie einen Überblick. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sie wusste nicht, ob alles was eben passiert war, überhaupt der Realität entsprach oder nur einer Gehirnerschütterung zuzuschreiben war, die sie möglicherweise irgendwann im Laufe des Abends erlitten hatte. Es wäre nicht unrealistisch: Im Gegenteil. Diese Variante erschien ihr als wesentlich wahrscheinlicher, wenn sie ihr Verhalten, viel eher aber noch ihre Halluzinationen versuchte mit Logik zu erklären.
Sie hatte sich selbst soweit eingeredet, das alles nur ein schlimmer Albtraum sei - doch dann sah sie ihn. Billy schritt sicheren Schrittes durch das Chaos in die Mitte der Mall und hatte das bewusstlose Mädchen über seine Schulter geworfen. Ihr drehte sich der Magen um. Es war wahr gewesen - er hatte all die schrecklichen Dinge getan.
In ihrem Bestürzen keuchte sie erschrocken auf. Ein Geräusch das so erstickt und voller Emotionen war, dass diese in der leeren Mall widerhallten. Billys Kopf schoss zu ihr herüber. Ohne den Blick suchend durch die Gegend schweifen zu lassen, sah er sie direkt an. Sah ihr in die Augen mit einem Blick der flüsterte Ich weiß das du da bist.
Halb erwartete sie, das er das Mädchen abwerfen und sie als nächstes holen würde. Das er sich auf sie stürzen würde, groß und bedrohlich mit einer Kraft, mit der sie sich nicht messen konnte. Ob er sie auch schlagen würde, bis sie bewusstlos war? Sie hielt seinem Blick stand, tausende Fragen überschlugen sich und trotz allem was passiert war spürte Jamie neben all der Angst, des Schmerzes und der Verrates noch immer diesen Stich, diesen Gedanken der sie anflehte ihn zu packen und ihn aus all dem Übel zu retten. Dem grausamen Übel, das er schlussendlich selbst verkörperte! und eine resignierte Ohnmacht erfüllte sie. Sie konnte niemandem helfen. Nicht ihm, nicht ihrer Mutter und noch nicht einmal sich selbst.
Jamie merkte erst, das sie den Atem angehalten hatte, als er den Blickkontakt von ihr löste und sie nach Luft japste. Ihr Kopf dröhnte. Billy seinerseits legte beinahe sanft das Mädchen vor sich auf dem Boden ab und betrachtete es eine Sekunde lang. Jamie sah, wie er die Augenbrauen leicht zusammen zog und sich über das Mädchen beugte und ihr etwas in Ohr flüsterte.
Sie sollte näher ran. Sie sollte sich dazwischen stellen, etwas tun, doch ihre Muskeln waren wie gelähmt. Sie hatte sich immer darüber erhoben, wie feige manche Personen in ihren Horrorfilmen und Büchern waren. Wäre sie in so einer Situation, sie würde schlauer handeln, hatte sie gedacht. Doch die Realität war, wie sie beschämt feststellte, eine Andere. Schlimmer. Sie rannte nicht einmal mehr weg. Alles was sie zu tun vermochte, war schweigend auf dem Boden liegen zu können und dem sich vor ihr entfaltendem Elend zuzuschauen.
Ihre Gefühle waren so verwirrend, wie sie widersprüchlich waren. Sie hatte Angst, sie war angespannt, sie war angewidert und wütend. Zugleich rauschte ihr Blut mit jedem Herzschlag langsamer durch ihre Venen und nahm etwas ihrer Angst, ihrer Verzweiflung mit sich je mehr ihr Bewusst wurde, das es nichts gab, was sie tun könne.
Hab keine Angst, summte es stattdessen in ihrem Kopf. Es ist bald vorbei.
Sie glaubte was sie hörte. Wieso sollte sie sich noch Sorgen. Es gab nichts mehr, was sie hätte tun können. Sie hörte Billys flüstern lauter werden. „Halte ganz still."
Sein Blick schoss zu ihr, taxierte sie. Sprach er mit ihr oder sprach er mit seinem Opfer? Jamie fand nicht die Möglichkeit ihn zu fragen. Er stand wieder auf und sie sah seine Muskeln in seinem Rücken spielen. Wie er sich geradezu elegant vom Boden erhob, als er sich einen Schritt von dem Mädchen entfernte und mit in den Nacken gelegtem Kopf nach oben schaute. Sie folgte seinem Blick. Das Monster, nicht die kleinen Ableger, welche sie zuvor wiederholt gesehen hatte, sondern das 20 Meter Hohe Ding mit mehreren Tentakeln und riesigem Durchmesser, das sich über ihr Auto einst erhoben hatte, brach durch die bereits zerstörte Decke des Starcourt und setzte sich vor ihnen ab. Nicht schreiend und unkoordiniert wie sonst, sondern langsam kriechend wie eine Spinne - mit ihnen als Ziel.
Jamies Kopfschmerzen wurden stärker. Sie musste blinzeln, ihre Sicht verschwamm - nur das es nicht ihre Sicht war. Stattdessen lag sie auf dem Boden und sah das Monster sich langsam vor ihr aufbauen. Diesmal sah sie durch die Augen des Mädchens.
Jamie war so erschrocken, dass sie es zurück auf die Beine beförderte. Zu sehen wie das Monster auf sie - auf das Mädchen - zukam, gab ihr den nötigen Mut etwas tun zu wollen. Sie hatte es gerade geschafft sich an der Reeling hoch zu ziehen und den Weg zur Treppe antreten zu wollen, als ein ohrenbetäubender Knall ertönte und ihr Sterne vor den Augen tanzten.
Jamie ging wieder in die Knie, duckte sich instinktiv. Sie hatte das Gefühl, von einer Bratpfanne niedergestreckt worden zu sein. Nur waren es keine Sterne, die vor ihren Augen schimmerten und in den tollsten Farben glitzerten. Es waren Feuerwerke. Leuchtkracher, einer nach dem nächsten, die ihr die Orientierung raubten und sie aus der Bahn warfen, während sie mit ihren zunehmenden Kopfschmerzen das Navigieren geradezu unmöglich machten. Irgendwie schaffte Jamie es, vorwärts zu krabbeln. Zu der Treppe, zu dem Weg.
Kurz dachte sie, Kinder auf der anderen Seite der Reeling wahrzunnehmen, konnte sich jedoch nicht lange genug darauf konzentrieren ihre Sicht scharf zu stellen. Das kann nicht sein., dachte sie In diesem Chaos sind bestimmt keine Kinder verstrickt. Das wäre Barbarisch!
Irgendwie schaffte sie es die Treppe runter. Sie fiel, stolperte, rutschte und verdrehte sich den Arm in einem Winkel der sie aufheulen ließ. Irgendwas stimmte nicht. Er war entweder gebrochen oder ausgekugelt. Scharf schoss es ihr in die Schulter. Tatsache war, sie kam unten an, als das große Feuerwerk losging und das Monster zu zappeln und zu Schreien begann. Es hatte Schmerzen. Jamie hatte Schmerzen. Billy hatte Schmerzen.
Jamie setzte sich auf. Das Geschrei und Getöse um sie herum war ohrenbetäubend... und irrelevant denn sie hörte es nicht. Stattdessen sah sie nur Billy. Mit Tunnelblick sah sie, wie er sich vor Schmerzen unter dem Beschuss des Wesens krümmte. Das Mädchen zu seinen Füßen versuchte wegzukriechen, zog sich über den Boden doch Billy packte es am Knöchel und zerrte es zurück.
Ein Leben für ein Leben hörte sie seine Stimme deutlich als würde er neben ihr stehen in ihrem Kopf als ihr die Last auf ihren Schultern schwer wurde und sie in die Knie ging. Wehmut, Schuld, Hass, Angst, Reue - all diese Gefühle stürzten auf sie ein wie eine Lawine nachdem sie ihre Verbindung zu Billy, eine bewusste Verbindung die in der Sekunde angenommen hatte, herstellte. Und plötzlich verstand sie alles.
Billys Verhalten: Warum er zuschlug, statt zu reden. Warum er den Kampf suchte und alles von sich stieß, das ihm nah kommen könnte. Der körperliche Schmerz, den sie gerade erleiden musste - die blauen Flecken und Prellungen vom dem Sturz die Treppe runter, ihre rasenden Kopfschmerzen - das alles war ein schwaches Echo im Vergleich zu den Schmerzen, die sie von innen auffrassen. Im Verhältnis empfand sie die beinahe als eine willkommene Wohltat. Sie selbst spürte, wie sich ihre Lippen zu einem höhnischen Grinsen vezogen, während sie ihr Kreuz durchdrückte und sich wieder hinstellte um weiter auf Billy und das Mädchen zuzulaufen. Brennend wie Feuer meldete sich ihre Schulter zurück und sie konzentrierte sich auf den Schmerz um von ihrem innersten Abzulenken und bei Verstand zu bleiben. Physisch und psychischer Schmerz hielten sich die Waage, nur deshalb konnte sie weiter machen.
Mit jedem Schritt den sie tat wurde der Druck, die innere Zerrissenheit größer. Es war jetzt nicht mehr nur Billys Innenleben, das sie zu spüren bekam. Es wuchs heran, je näher sie der Situation kam. Von fünf auf zehn, von zehn auf zwanzig. Sie spürte die verbrauchten Seelen gefangen in dem fleischigen Monster. Manche waren gute Emotionen. Glück und Liebe, Vergebung und Zuneigung. Doch angetrieben wurde die Maschinerie von Hass und Angst, verwesendem Neid und Gier der Menschen zu ihrem Lebzeiten.
Jamie fühlte sich angewiderrt. Sie fühlte sich niedergedrückt. Sie fühlte sich angezogen...
Wie von selbst trugen ihre Füße sie weiter. Das leise Flüstern des Monsters versprach Ruhe. Es versprach die Übernahme der Schmerzen, all des Leides und der Angst die sie von innen zerfrassen und zunahmen. Den Tränen vor Erleichterung nahe stolperte sie weiter durch die bunt erleuchtete Nacht, dem verwesendem Etwas entgegen um sich ihm hinzugeben und endlich Frieden zu finden.
Mit einem lauten Knall warf Billy sie gegen die Säule in ihrem Rücken, das ihr die Zähne zusammenschlugen. Er war sie noch nie körperlich so brutal angegangen. Ihr schwirrten die Sinne, kurz schien es dunkel zu werden, doch dann war der Fokus zurück. Billy sah mehr als nur Verzweifelt aus.
„BLEIB VERFICKT NOCHMAL WO DU BIST!", knurrte er.
Seine Berührung war wie ein Stromstoß, der ihr bis in die letzten Gehirnwindung nacheilte. Welche Tür sie auch immer zuvor ausversehen zu ihm geöffnet haben mochte, sie hatte alles verändert. Plötzlich sah sie sich bis ins kleinste Detail durch Billys Augen und was sie zu sehen bekam verschlug ihr den Atem. Wie eine Flutwelle rauschten die Erinnerungen an sie über sie hinweg.
Wie er sie das erste Mal gesehen hatte, in unförmigem Schlaf T-Shirt und die strähnigen Haare in einem Zopf - er war verwirrt und überrascht gewesen. Wie sie über ihn gebeugt seine Wunden verarztete und ihre Finger sanft seine Haare aus der Stirn strichen - er hatte sich geborgen gefühlt. Wie sie ihn zurückwies im Schwimmbad, nur um dann im Anschluss vollkommen perplex aus seinen Armen zu ihm hochzuschauen, nachdem er sie zum ersten Mal geküsst hatte - er war stolz gewesen, auf ihre Standhaftigkeit und seine Überzeugungskünste. Wie er in ihrem Bett gelegen hatte und sie ruhig neben ihm liegend in den Schlaf gesunken war - er war gerührt gewesen, welches Vertrauen sie ihm entgegen gebracht hatte. Wie sie bei ihm aufgetaucht war, unerwartet und zusammenhangslos wie so viele zuvor, die neugierig auf seinen Ruf gewesen waren. Wie er sich verkauft und verraten gefühlt hatte und in seinen widesprüchlichen Emotionen zwischen seinem Begehren und seiner schamhaften Degradierung als stadtbekannter Zuchthengst zu weit gegangen war - er war verletzt gewesen. Deutlich spürte sie den Schmerz, als Jamie erschrocken zu ihm aufgesehen und ihn zurück gewiesen hatte als er seinen Fehler in seiner Annahme bemerkte. Mit säurlichem Beigeschmack durchlebte sie die Eifersucht und Selbsthass als sie dann später von diesem (durch seine Augen wahrgenommenen) blonden Flachwichser Jake abgeholt und angegraben worden war...
Die Erinnerungen kamen nun schneller, wurden intensiver und Jamie durchlebte sie dank des Adrenalins als wären sie genau in diesen Momenten. Sie spürte die Schuldgefühle und den Widerspruch, welche sich in ihm stritten. Was konnte er ihr sagen, was sollte er ihr verschweigen. Sie forderte Wahrheit, doch es war ihm physikalisch unmöglich sie ihr zu geben. Er hatte es versucht, war beim Versuch die Worte zu formen beinahe erstickt. Sie hatte ihn zurückgewiesen, war dann doch wieder aufgetaucht an seiner Tür, die Haare zerwühlt und der Blick scheu und zerrissen mit dem Angebot von Freundschaft - er war erleichtert gewesen. Der Jahrmarkt, der Sog zurück kehren zu müssen, sie mitzubringen und zu ihrem Vater bringen zu sollen vor dem er sie bis dahin hatte schützen, ja sogar fernhalten können - der Sog war zurück gekehrt doch sie hatte ihn gesehen. Sie hatte ihn festgehalten und beschützt, ihn befreit- und er hatte sich sicher gefühlt. Selbst jetzt in der schrecklichen Situation welche im Hintergrund abzulaufen schien wie ein in Zeitlupe gestellter Aktionfilm, glitzerten seine Augen in der Intensität seiner Gefühle.
Unbändige Wut hatte ihn ergriffen, als Martin Brenner in ihrer Küche aufgetaucht gewesen war und sich die Szene von Jamies Mutters Tod entfaltete. Wut und das Gefühl von Machtlosigkeit und unbändigen Schmerz, der von Jamie aus räsonierte und sich auf ihn übertragen hatte. Sie sah durch seine Augen, wie sie sich selbst umarmte auf dem Weg zurück zu Billys Haus, woran sie sich nicht mehr erinnern konnte. Ihr Blick war leer und kalt - und er teilte ihren Schmerz. Sie war starr gewesen, als er sie wie ein Kind in seine Decke gewickelt hatte in ihrem Schock der sämtliches Leben aus ihrem Körper gepustet zu haben schien, dass er sich um sie Sorgen wollte. Ihre Hände waren kalt gewesen, wie sie auf seinen Schoß geklettert war und sich an ihn geschmiegt hatte, ihm alles darbot, was er mit tiefster Begierde und Lust von ihr gewollt hatte - wie heiße Lava war ihm das Verlangen durch die Venen gepumpt. Verlangen nach ihr und das Verlangen ihr den Schmerz nehmen zu wollen, der ihr so offensichtlich ins Gesicht geschrieben gewesen war. Er konnte ihrer Bitte nicht nachkommen - das wäre falsch gewesen. Eine neue Gefühlsregung, ein Gewissen, das sich in ihm breit gemacht hatte und ihn zu besseren Handlungen zwang. Er hatte ihre Bitte, ihre verzweifelte, herzzerreißende Bitte ihr den Schmerz zu nehmen aber auch nicht ablehnen können. Dafür war sein eigener Wunsch ihr helfen zu wollen zu groß. Sie sah jedes einzelne Bild, jede Momentaufnahme, wie er ihren Körper erkundet hatte vor ihrem inneren Auge abspielen. Wie sie sich ihm entgegen gebogen, sich ihm präsentiert hatte, wie ihre weiche Haut sich im Licht des hereinfallenden Mondlichts bewegte. Es sah bezaubernd aus - viel besser als die Realität, doch was ihr den Kloß in den Hals zauberte und sie erstickt schluchzen ließ, waren die Gefühle die von ihm ausgingen während sie sich unter seinen fähigen Fingern verlor. Zuneigung. Respekt. Bewunderung. Stolz. Ehrgefühl und die Erleichterung ihr etwas, irgendetwas bieten zu können.
Sie blinzelte die aufkommenden Tränen hinweg, als sie sich selbst in seinen Armen liegen sah nachdem sie vor Erschöpfung zusammengebrochen war - spürte wie er mit seinen wirren, starken, umherwirbelnden Gefühlen kämpfte, sie eigentlich nur mit einer Inbrust vor dem Übel der Welt beschützen wollte: wie er nie beschützt worden war.
Jamie atmete flach, als der Bann gebrochen war und sie kraftlos und ausgelaugt an der Säule auf den Boden rutschte und das Erlebte verarbeiten musste. Billy war bereits außer Reichweite, als sie wie ein ertrinkender nach ihrer Rettungsleine greifen wollte. Sie brauchte eine Erklärung. Sie wollte mehr. Sie wollte ihn. Er drückte das Mädchen zurück auf den Boden, hielt es fest für das Monster, das er sie sich würde schnappen können.
„Billy nicht- ", ihre Stimme ging unter im Getöse. Sie war nicht mehr als ein Flüstern.
Seine Muskeln verhärteten sich in seinem Rücken, spannten sich an. Hatte er sie gehört?
Er hielt das Mädchen fester. Sie musste ihn aufhalten. Musste das alles stoppen, ihn retten. Er war nicht schuldiger als irgendjemand sonst in dieser verschissenen Mall, vielleicht sogar weniger!
Jamie versuchte wieder auf die Beine zu kommen, rutschte auf dem Boden weg, fiel wieder auf den Hintern. Billy drehte seinen Kopf zu ihr, seine Worte in ihre Kopf nachhallend. Bleib wo du bist. Bleib in Sicherheit.
Ihre Muskeln versagten ihr den Dienst. All der Druck, der Schlafmangel, die Traumata... sie konnte sich einfach nicht mehr bewegen. Nicht, nachdem Billy ihr sein innerstes offenbart und sie damit komplett entkräftet zurück gelassen hatte. Sie sah ihn an, wimmernd und ängstlich, mit dem Gefühl wie die Zeit ihr zwischen den Fingern zerrann. Unaufhaltsam kam das Ende dieses Kampfes auf sie zugerollte und durch eine Reihe unglücklicher Verkettung war Billy genau in der Mitte all dessen. Auf der falschen Seite - wie man es auch drehen und wenden mochte. Er war zu schlecht für die Guten und zu Gut für die Schlechten. Jamie spürte noch immer die Emotionen des Monsters rüber schwappen. Die Emotionen des Mädchens, Billys. Sie drückte gegen an, versuchte zurückzuschlagen.
Lass die Gefühle rein, stell dich auf die richtige Seite. Lass das Mädchen gehen. Lauf mit mir davon.
Er zuckte zusammen. Unerwartet tauchten weitere Bilder vor ihrem inneren Auge auf, doch diesmal war sie nicht die Hauptperson. Die Klangfarbe war eine andere. Die Erinnerung war...ursprünglicher. Billy als kleiner Junge spielte am Strand, ein Lachen auf den Lippen, wie es nur Kinder haben konnten. Voller Stolz trug er sein Surfboard unter dem Arm, nicht älter als zehn vielleicht, beflügelt von dem Lachen und den Zusprüchen einer jungen Frau, die ihm vom Strand aus zujubelt. Sie hörte das Mädchen flüstern. Hörte es die Bilder beschreiben, die auch sie sehen konnte. Die zwei Meter hohen Wellen, die blonde Frau mit dem weißen Kleid, den gelben Sandalen und der blau-roten Stickerei auf dem Kleid. Seine Mutter.
Eine Welle der Gefühle erfasste ihn, die auch sie schon in die Knie gezwungen hatte. Die Anspannung die er in seinem Rücken gehalten hatte, schien zu entschwinden. Jamie sah ihn auf die Entfernung nur von schräg hinten, doch meinte sie zu sehen, das sein Griff sich lockerte. Sie war so wunderschön. Das Mädchen legte ihre Hand auf seine Wange. Sein Griff löste sich komplett. Ein Leben für ein Leben.
Es dauerte einen Moment bis die Bedeutung durch ihre Gehirnwindungen gekrochen war. Den ganzen Abend schon ging es kryptisch und verwirrend zu, Äußerungen ergaben keinen Sinn und Versprechen wurden gebrochen. Doch als Billy einen Blick über seine Schulter warf und sich mit dem ihren verschränkte, ein entschuldigendes, mitleidiges Lächeln auf den Lippen, wurde es ihr deutlich. Die Worte verließen nie seine Lippen doch sie spürte es. Ich liebe dich.
„Nein."
Ihre Stimme war nicht mal mehr ein Hauch. Das Monster kam in Bewegung, schlug seine Tentakel aus, wollte zu dem Mädchen vordringen, dem Billy nun im Weg stand.
„NEIN!" , schrie sie lauter diesmal, verzweifelter, als das Monster mit seinem Tentakel nach vorne schoss und Billy von oben versuchte anzugreifen. Er wehrte es ab - nur um dann die Hände nicht mehr frei zu haben. Weitere Tentakeln wuchsen dem Monster aus dem Rumpf, formten sich als sich die erste in sein Fleisch bohrte und er einzuknicken drohte. Tausende Szenarien rannen ihr durch den Kopf, wie Billy dies überleben könne. Wie sie ihn gesund pflegen und mit ihm von hier weggehen würde. In eine andere Stadt. Vielleicht Portland oder wieder Seattle. Vielleicht nach New York oder Bosten. Sie sah ihn strahlen, aufrichtig, weil sie in eine gemeinsame Wohnung zogen. Sie sah sich selbst kugelrund wie er seine Hand in Ehrfurcht über ihren Bauch legte und diese von ihrem Baby weggetreten wurde, welches er zu einem späteren Zeitpunkt in seinen Armen halten würde. Ein kleines Mädchen, das auf seinen Schultern sitzend an seinen noch immer unmöglichen Haaren ziehen würde bis sie ihn schlussendlich dazu überreden würde können, sie abzuschneiden. Sie sah ein gemeinsames Leben, eine Zukunft mit Familie und Liebe als die zweite Tentakel Billy in der Bauchgegend durchbohrte und ein gurgelndes Geräusch seine Schreie ersetzte. Ihr gefror das Blut in den Adern und die Bilder wurden löcherig und bekamen einen Graustich.
Es waren nicht ihre Fantasien gewesen, wurde ihr klar. Es waren seine.
Weitere Tentakel trafen ihn in rascher Abfolge, trafen Jamie tiefer und tiefer in der Seele bis kein Funke mehr von ihr übrig zu bleiben schien. Billy schrie. Vor Wut, nicht mehr vor Schmerz war Jamie klar. Wut darüber, das sein Leben nicht die Chance bekommen würde, sich zum Besseren zu wenden. Wut darüber, das er Machtlos war. Wut darüber, das sein Leben genauso grausam, brutal und hoffnungslos enden würde, wie er es zuvor auch schon hatte Leben müssen.
Bis ich dich traf.
Eine letzte Tentakel schoss rücksichtlos und gezielt nach vorne in seinen Brustkorb, bohrte sich in das Fleisch und hinterließ eine klaffende offene Wunde während seine Schreie verstummten. Die Verbindung brach.
Jamie sackte in sich zusammen als sie das Loch das Billys Geist gewesen war spürte, während die Welt um sie herum zu verschwimmen begann und alles in einem lauten quietscheden Ton zu verschwinden drohte. Sie drehte den Kopf in die Richtung aus der sie das Geräusch vermutete und sah ihren Vater wie er im Schatten die Fernbedienung handhabte als ihr die letzte Sicherung durchbrannte. Sie gab sich der Wut und dem Hass hin, welche sie augenblicklich durchfluteten wie giftige Gase. Ihre Sicht wurde rot, ihre Haut fühlte sich an stünde sie in Flammen und ihre Lunge zerbarst als sich das Wesen kreischend von Billy zurück zog und vor Schmerzen wand. Sie ließ ihren Vater nicht einen Moment aus den Augen, als sie all ihrem Schmerz und ihre Verluste auf ihn projeziierte und ihm aus tiefster Innbrust den Tod wünschte während das Monster strauchend in seine Richtung taumelte und in zu taxieren schien. Überraschung und zum ersten Mal ein für Jamie zufriedenstellender Blick von Unsicherheit und Angst rutschten über seine Gesichtszüge als seine Fernbedienung auf seine Befehle nicht reagierte. Fassungslos drehte sein Kopf sich zurück zu Jamie und ihre Blicke kreuzten sich als ihm bewusst wurde, was geschah. Das Jamie seinen Tod wollte und ihm auch bescheren könne. Das sie jetzt die Kontrolle übernommen hatte. Ohne ihr zutun legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen.
Ein Mädchen kreischte Billys Namen und riss sie damit aus ihrer Konzentraton. Das rothaarige Mädchen, seine Schwester, rannte auf ihn zu als das Monster dies bemerkte und wieder die Richtung zu wechseln schien.
Ihr Wunsch nach Rache geriet ins Wanken, als die Trauer wieder die Oberhand gewann und drohte sie zu überwältigen. Sie war nie ein gewalttätiger Mensch gewesen. Tatsächlich scheute sie Auseinandersetzungen in der Regel und glaubte an Karma und einen Ausgleich im Universum, doch nach allem was passiert war, konnte sie körperlich spüren, wie sich ihre Weltansicht veränderte und in ein anderes, weitaus düsteres Licht rückte. Ein Licht in dem Menschen mit schlimmen Dingen davon kamen und Handlungen keine Konsequenzen nach sich zogen, es sei denn man forderte sie ein. Wie sie es mir Martin Brenner tun würde. Sie riss den Kopf wieder zurück, ihren Puls laut hämmernd in den Ohren, doch der Mann war verschwunden.
Frustriert schrie Jamie auf, all ihr Hass, all ihr Schmerz hatte nicht länger ein Ziel auf das es sich richten konnte. Sie wollte ihm hinterher, als ihr die Kontrolle über das Monster, welche sie auf geradezu magische Weise erzielt hatte, entglitt. Geschockt musste Jamie mit ansehen wie es auf ein neues auf den blutüberströmten Billy und die beiden Mädchen zu hechtete als sie all den Schmerz und all die Emotionen nicht länger bündelte, sondern sie auf das Monster losließ. Den Schmerz über ihre Verluste. Ihre tote Mutter, den Verrat ihres Vaters, der unweigerliche Ausgang Billys Verletzungen. Die Verzweiflungen über ihre aussichtslose einsame Zukunft ohne Freunde, Familie, Bekannte. Ihre Schuldgefühle, jeder noch so kleine Fehler den sie begangen hatte gegenüber ihren Freunden, das nun so lächerlich scheinende Drama um Lindsey und Jake, ihre Fehleinschätzung Billys, dem Mistkerl der als einziger die wahren richtigen Entscheidungen getroffen hatte. Die Angst der letzten Stunden, des Moments, der ungewissen und schmerzhaften Zukunft. Es ist verrückt, dachte sie wieder unpassender Weise, während sie still und anteilslos sah, wie das Wesen sich wand und um sich warf, sich krümmte und zusammen zog. Es ist verrückt, dass wahrer, echter Schmerz so sehr wehtut, das er sich nur für einen Moment aushalten lässt, bis er einem wieder entgleitet wobei er einen leer und anteilnahmslos zurück lässt. Wie auch sie zuvor ging es in die Knie. Lichter blitzten, Feuer die Tanz des Gefechts unbemerkt geblieben waren, nestelten sich am Fleisch des Wesens entlang und krabbelten über den Boden auf dem Jamie nun endgültig wie ein luft verlierender Heliumballon auf dem Linoliumboden zerfloss. Das Monster bewegte sich nicht mehr und auch Jamie schwanden die Sinne.
„Billy, Billy, bitte bleib wach. Komm zu mir zurück. Bitte Billy, bitte."
Sie nahm das Schluchzen des Mädchens nur noch am Rande wahr und obwohl es vor Trauer und Schmerz durchsetzt war, war Jamie dankbar und fühlte Erleichterung. Billy war in seinen letzten Minuten nicht so alleine wie er dachte. Nicht so allein, wie sie es war. Seine Schwester war bei ihm und würde ihn auch über seinen Tod hinweg noch vermissen, denn sie hatte ihn lieb.
„Es tut mir leid...", hörte sie Billy noch flüstern. All der Schmerz, es tut mir leid. Ihre Augen waren bereits geschlossen und Jamie gab sich all den körperlichen Leiden hin, die sie unter die Oberfläche ins Nichts ziehen wollten. Der seelische Schmerz war ihr zu viel, sie wollte ihn nicht mehr. Sie sah ihn in einem hellen Licht erleuchtet Strahlen. All seine Blessuren, sein kaputte Haut, sein Schmerz in seinen Augen waren verschwunden während er sie betrachtete. Sie streckte sie Hand aus um ihn zu berühren, doch er war bereits dabei zu verschwimmen Es tut mir leid, flüsterte sie dem Nichts entgegen, in dem sie nun alleine war. Ich war eine Minute zu spät. Die Schuldgefühle zerquetschten sie, während Jamie die letzten Sine entschwanden.
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https://youtu.be/7EE9uEvFSmA
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Es tut mir leid *schnief*
Für diejenigen, denen das Herz noch nicht genug blutet, hätte ich noch ein schönes Youtube Edit. Für den Rest sollte die Geschichte sonst auch so reichen.
Ich sitze hier selber und leide gerade, aber es ging kein Weg dran vorbei.
Ein dickes Danke geht nochmal raus an @ccccGniscccc , das du dir die Mühe gemacht hast mir nochmal den letzen Schubs zu geben, das alles auch jetzt zu veröffentlichen. Danke!
Ein letztes Kapitel kommt noch, aber bis dahin könnt ihr hier eurer Wut und eurem Frust gerne Platz machen in den Kommentaren. Ich bin euch nicht böse, ich rege mich mit euch auf, das meine Charaktere sich verselbstständigt haben und der Tragödie mit offenen Armen entgegen gerannt sind.
Bei Fragen, Anmerkungen oder was auch immer: Ihr könnt mir jeder Zeit gerne schreiben. Das beste an Wattpad ist die Kommentarfunktion und die Nachrichten, wobei ich mir jede einzelne gerne Drucken und Rahmen würde.
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