...girl...

Mit jeder Stunde, die ich hier verbrachte wurde ich nervöser.

Das lag zum einen daran, dass ich seit etwa drei Tagen nichts gegessen hatte und zum anderen an der Aussicht auch nichts zu essen mehr zu bekommen.
Denn ich konnte weder jagen oder Fallen bauen, noch kannte ich mich mit essbaren Pflanzen aus.

Meine ursprüngliche Taktik war deshalb, dass ich alles tun würde, um Sponsoren für mich zu gewinnen.
Dafür hatte ich bei den Interviews allerdings das maximal kontraproduktive getan.
Daher musste ich mich jetzt allein durchschlagen.

Die Sonne ging bereits auf und ich lag nun schon seit ein paar Stunden wach.
Der Hunger war mittlerweile so übermächtig, dass er mir sogar den Schlaf raubte.

Das einzige, was mir glücklicherweise weniger Probleme bereitete, war meine Wasserversorgung.
Als die Spiele begonnen hatten, war mir klar, dass ich nicht zum Füllhorn rennen durfte.
Wenn ich in einen Kampf geraten wäre - Gott, das hätte ich unmöglich überlebt.

Ich wollte sofort tief in den Wald laufen, um dann auf einem möglichst hohen Baum Schutz zu suchen.

Hingegen meiner Taktik, konnte ich dem Drang, dennoch etwas abzugreifen, aber nicht widerstehen.

In der Nähe des Füllhorns lag ein blauer Rucksack auf dem Boden, den ich im Vorbeilaufen packen konnte.
Und das hatte sich gelohnt - in dem Rucksack befand sich ein Messer, ein Seil, eine Decke und eine Wasserflasche.

Die Wasserflasche war zu meinem Glück befüllt und das Seil war praktisch für mein Vorhaben, die Bäume während der Spiele so selten wie möglich zu verlassen - denn, wenn ich in den Bäumen schlief, konnte ich mich mit dem Seil festbinden, um nicht runterzufallen.
Ich war also ziemlich froh, diesen Rucksack ergattert zu haben.

Ich saß noch immer in einer Baumkrone, lehnte den Kopf an den Stamm und schloss erschöpft die Augen.
Mir war gar nicht gut.
Hätte ich etwas im Magen gehabt, hätte ich geglaubt, mich gleich übergeben zu müssen.

Ich musste etwas essen - ganz dringend.
Aber ich wusste um himmelswillen nicht, wie ich etwas bekommen sollte.
Ich konnte ja wohl kaum mein Messer nach irgendwelchen Tieren werfen, die wohlmöglich sogar noch Mutationen waren.
Außerdem konnte ich ohnehin nicht zielen.

Ein Schauer durchfuhr mich und ich wusste woher er kam.
Ich spürte ihn immer, wenn ich vollends verzweifelt war.
Vor 2 Jahren hatte Mom eine schlimme Grippe und es war fraglich, ob sie durchkommen würde.
Damals hatte ich genau den selben Schauer gespürt.

Ich öffnete meine Augen wieder und mein Magen zog sich zusammen.
Verdammt, was sollte ich denn machen?
Der Hunger nagte an mir und ließ mich langsam aber sicher durchdrehen.

Ich spürte ein Brennen in meinen Augen, aber ich konnte jetzt nicht weinen!
Wahrscheinlich befand sich sogar in diesem Baumstamm eine Kamera, die mein Gesicht gerade in Großaufnahme filmte.
Lieber starb ich genau jetzt, als Snow den Triumph zu gönnen, mich leiden zu sehen.

Das einzige was mir also übrig blieb, war, weiterzumachen und meinen Magen zu ignorieren - auch, wenn ich mir nicht vorstellen konnte, wie das möglich sein sollte.

Ich griff nach meinem Rucksack, den ich ebenfalls festgebunden hatte, öffnete den Reißverschluss und holte meine Wasserflasche hervor.
Die Flasche war silbern und so glänzend, dass ich mich darin spiegeln konnte.
Ich sah mir dabei zu, wie ich tief durchatmete, bevor ich die Flasche aufschraubte und meine Lippen an die Öffnung setzte.
Leer. Sie war leer.

Nein nein nein, sie konnte nicht leer sein!
Ich konnte schwören, dass gestern Abend noch ein Schluck darin gewesen war!

Ein Schluck, den ich heute Nacht ausgetrunken hatte... verdammt.

Ich raufte mir die Haare und vergrub anschließend das Gesicht in meinen Händen.
Wie konnte ich das Wasser bloß so unüberlegt austrinken?
Ich war so dämlich.

Mein Blick wandte sich nach unten. Da war niemand - zumindest konnte ich niemanden sehen.
Aber ich wusste natürlich, dass man sich darauf nie verlassen sollte. Theoretisch konnte jede Sekunde ein bewaffneter Tribut plötzlich aus dem Dickicht hervorkommen.

Ich dachte nach:
Auf meinen Weg zu diesem Baum hatte ich einen Fluss gesehen. Da musste ich hin. Das war die nächste Wasserstelle.
Ich würde schnell hinlaufen, Wasser holen und mir dann einen anderen Baum suchen. Allerdings musste ich aufpassen, dass ich keinen anderen Tributen begegnete. Obwohl es "hoffen" vielleicht besser traf, als "aufpassen".
Denn hoffen war das einzige, was ich diesbezüglich konnte.

Ich lauschte angestrengt nach Schritten. Im Laub war es nämlich beinahe unmöglich sich vollkommen geräuschlos zu bewegen.
Bis auf Vogelgezwitscher hörte ich jedoch nichts.
Und wenn ich so drüber nachdachte, war es schon seit Stunden ziemlich still.
Ich kam zu dem Schluss, dass dieser Teil der Arena abgelegen sein musste - Die Tribute, die auf Konfrontationen aus waren, würden sich hier also eher nicht aufhalten.
Ich konnte nur hoffen, dass ich mit dieser Theorie richtig lag.

Meine Haare strich ich hinter meine Ohren, ehe ich langsam anfing, mich von dem Seil loszubinden.
Anschließend verstaute ich es wieder in meinem Rucksack und atmete nochmal tief ein und aus.
Das, was ich jetzt tat, war dumm und viel zu gefährlich.
Aber was hatte ich für eine Wahl?
Ohne Essen konnte man einige Tage auskommen, aber ohne Wasser? - Nein, das wäre der sichere Tod.
Also musste ich es wagen, egal ob ich Angst hatte oder nicht.
Ich kletterte den Baum herunter, indem ich mich flink von Ast zu Ast schwingen ließ und das letzte Stück am Stamm entlangglitt.
Zum ersten Mal seit etwa drei Tagen spürte ich wieder den Boden unter meinen Füßen, was jedoch keinesfalls ein gutes Gefühl war.
Die Bäume waren das einzige, was mir in dieser Arena ein gutes Gefühl zu machen vermochte.

Ich holte aus meinem Rucksack schnell noch ein Messer hervor, um es, bereit für den schlimmsten Fall, in der Hand zu halten.
Anschließend schulterte ich den Rucksack und rannte los, so schnell ich konnte.
Das war nicht so einfach, da der Hunger mich auslaugte.

Ich rannte trotzdem weiter durch das Gestrüpp und hörte meine Schritte im Laub rascheln.

Als ich den See bereits sehen konnte, war da plötzlich eine Wurzel, die mich ins Stolpern brachte.
Ich schaffte es, mich wieder aufzurichten und sah in derselben Sekunde, wie sich ein Junge zu mir umwandte.

Automatisch hielt ich die Luft an und mein Griff um das Messer wurde fester.
"Dakota", flüsterte mein Gegenüber.
Mein Name. Er kannte mich?
Und erst dann wurde mir klar, dass er der Junge aus meinem Distrikt war.

Ich glaubte, sein Name war Levius - zumindest hatte ich diesen Namen in den letzten Tagen des öfteren aufgeschnappt.
Ich war nicht gerade gut darin, mir Menschen, die ich kaum kannte, einzuprägen, aber seine Stimme hatte sich aus irgendeinem Grund in meinem Kopf verfestigt, sodass ich sie jetzt erkannte.

Das hier war dieser typische Moment, den jeder schonmal bei den Spielen gesehen hatte.
Sofort erschien Caesars Stimme in meinem Kopf:"Das ist der Legendäre Moment - Hier entscheidet sich, wer zum Jäger und wer zum Gejagten wird. Wer wird die Katze sein und wer die Maus?"
Ich wollte jedenfalls nicht die Maus sein.
Aber genauso wenig gefiel es mir, die Katze zu sein.
Was wollte er sein? Die Katze?
Die Maus würde er zumindest nicht werden, denn dafür musste ich die Absicht haben, ihm etwas zu tun.
Und die hatte ich nicht.
Ich wusste zwar nicht, ob man es durch die Spiele schaffen konnte, ohne jemanden zu ermorden - aber ich hoffte es.
Ich würde höchstens zur Selbstverteidigung töten, aber ich würde nie die sein, die einen Kampf anfing.
So ein Mensch war ich nicht und so einen Menschen konnten selbst die Schrecken der Spiele nicht aus mir machen.

Mit langsamen Bewegungen schien der Junge nach etwas zu tasten, wobei er seinen skeptischen Blick nicht von meinem löste.
Was suchte er? Eine Waffe?
Mein Griff um das Messer verstärkte sich noch mehr.
Dann jedoch, für einen kurzen, unscheinbaren Moment huschte sein Blick in eine andere Richtung.
Ich schaute hin, wo er hingesehen hatte - Dort lag ein Messer. Es war gut einen Meter von ihm entfernt.

Während ich ihn so ansah formte sich urplötzlich ein Bild in meinem Kopf - ich sah ihn. Er stand mit einem anderen Jungen und einem kleinen Mädchen am Schulhof und lachte.
Unwillkürlich wollte sich auch auf meine Lippen ein kleines Schmunzeln schleichen, was natürlich in dieser Situation vollkommen dämlich war.
Ich musste einen kühlen Kopf bewahren. Er konnte jeden Moment aufspringen und mich angreifen.

Diese gesamte Situation erinnerte mich stark an das Verhalten von Raubtieren, insbesondere von Krokodilen. Ich hatte Angst, er würde sich doch sein Messer greifen und auf mich losgehen, wenn ich mir nur eine plötzliche Bewegung erlaubte.

Vielleicht war es naiv, mich auf mein Gespür zu verlassen, aber etwas in seinem Blick sagte mir, dass er genau die selbe Angst hatte.
Er schien weder die Maus noch die Katze sein zu wollen.
Und irgendetwas in mir, war sich dem so sicher, dass sich mein Griff um das Messer schlagartig lockerte und es zu Boden fiel.

Sofort verschwand dieser skeptische Ausdruck aus seinen Augen und er schien verstanden zu haben.
Erst jetzt atmete ich wieder.
Ich wurde noch ein wenig mutiger - ja, andere würden es vielleicht lebensmüde nennen - und ging einen kleinen, unscheinbaren Schritt in seine Richtung, wobei ich ihn noch immer nicht aus den Augen ließ.

Er reagierte, indem er seine Hände hob und mit ruhiger Stimme sprach:"Heb das Messer wieder auf, du könntest es noch brauchen".
Seine Stimme klang genau wie in meiner Erinnerung. Sie war sanft und freundlich und gab einem auf gewisse Weise das Gefühl ihm vertrauen zu können.
"Ich werde dir nichts tun, Dakota, versprochen", setzte er noch hinterher.

Ich war ein wenig perplex.
Er empfahl mir, meine Waffe wieder aufzuheben, während er seine noch immer nicht bei sich hatte und gab mir dann noch so ein bedeutsames Versprechen.
Entweder war er verrückt oder aber einfach ein viel zu guter Mensch, um egoistisch zu handeln - ein viel zu guter Mensch, um in einer Arena bis auf den Tod zu kämpfen.

Ich hob das Messer schnell auf, packe es jedoch in meinen Rucksack, anstatt es wieder kampfbereit in die Hand zu nehmen.
Bevor ich den Rucksack wieder schloß, holte ich noch meine Flasche heraus.
Dann lief ich zu Levius an das Seeufer und hocke mich hin.
Es waren jetzt nur noch etwa zwei Meter zwischen uns.
Ich blickte nochmal tief in seine grünen Augen und sah darin so eine Reinheit, wie ich sie bei noch niemandem zuvor, nicht einmal bei Harper, gesehen hatte.
Ich musste gestehen, dass mich das wirklich beeindruckte.
Sein Versprechen war also nicht nur so dahingesagt - Er meinte es vollkommen ernst.
Ich wollte ihm auch nichts tun, das wusste ich.
Und auch das er mir nichts tun wollte, erkannte ich bereits, als ich das Messer fallen ließ.
Aber ihn das auch noch sagen zu hören, ließ meinen Körper noch von einer viel größeren Art von Erleichterung durchströmt werden.
So groß, dass ich unwillkürlich lächeln musste.
"Ich werde dir auch nichts tun. Das verspreche ich, Levius.",sagte ich.
Anschließend widmete ich mich erstmal dem See. Ich strich meine Haare zurück, tauchte meine Hände in das Wasser und wusch mein Gesicht.
Das Wasser tat gut und nahm mir ein wenig die Anspannung dieser plötzlichen Begegnung.
Auch, wenn sich herausstellte, dass Levius friedlich war, hatte ich doch am Anfang ziemliche Angst.
Ich formte meine Hände erneut zu einer Schüssel, tauchte sie in das Wasser und trank nun etwas.
Anschließend füllte ich meine Flasche auf.
Erst dann glitt mein Blick wieder kurz zu Levius.

Sein schwarzes Haar sah aus, wie das der meisten Menschen aus dem Saum von Distrikt 12. Seine grünen Augen hingegen stachen heraus.
Sie hatten die Färbung eines tiefen flaschengrüns, das mich an die Flaschen erinnerte, in denen meine Mutter unser Wasser häufig mit Minzblättern versetzt hatte.
Sie gefielen mir - denn sie erinnerten mich an Zuhause.

Plötzlich erschien eine Stimme in meinem Kopf:"Du solltest an meine Augen denken, nicht an seine". Es war Harpers Stimme, mit der mein Gehirn mir einen Streich spielte.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich das einordnen sollte - und ich hatte gerade auch weiß Gott genug Sorgen, um mir auch noch darüber Gedanken zu machen.

"Bist du allein unterwegs?", fragte Levius durch die Stille, den Blick in den See gerichtet.
Er schöpfte etwas Wasser mit den Händen und wusch sein Gesicht, wie ich es eben getan hatte.
Erst jetzt bemerkte ich die Wunde in seinem Gesicht. Woher er die wohl hatte?
"Ja. Ich versuche mich zu verstecken. Also bin ich als Verbündete nicht gerade gefragt", traute ich ihm an und lächelte etwas bitter.
Ja, vielleicht war es dumm, ihm das zu sagen, aber ich hatte wirklich das Gefühl, ihm vertrauen zu können.
Und mein Gefühl war immer ziemlich zuverlässig.
"Und du? Bist du allein?", setzte ich hinterher.

Er antwortete ohne zu zögern:"So allein wie man in der Arena eben sein kann. Schließlich weiß ich, dass hier um uns herum noch ein paar andere Teenager herumgeistern und ganz Panem jeden Schritt verfolgt."
Anschließend grinste er, sah dabei jedoch an mir vorbei.
Mir galt dieses Grinsen nicht. Aber wem dann?
Sofort wurde ich wieder paranoid und dachte schon, er hätte vielleicht doch einen Verbündeten, der dort hinten stand und gleich auf mich losgehen würde.
Vielleicht grinste er ihm zu.
Vielleicht war dieses friedvolle Verhalten bloß ein Hinterhalt.
Aber sofort schlug ich mir das wieder aus dem Kopf.
Ich hatte seinen ehrlichen Blick, als er mir sein Versprechen gab, gesehen.
Das konnte er nicht vorgetäuscht haben - so gut konnte niemand lügen.
'Ganz Panem', hatte er gesagt.
Ich würde mal vermuten, dass dieses Grinsen dann wohl 'Ganz Panem' galt.
Bei diesem Gedanken musste ich innerlich schmunzeln.

"Hast du Hunger?", fragte er nun und mein Magen antwortete sofort, indem er sich zusammenzog.
Ohne meine Antwort abzuwarten holte er eine Handvoll Beeren aus seiner Hosentasche.
Wenn man diese Beeren wirklich essen konnte, dann war diese Begegnung der reinste Glücksfall.
Meine paranoide Seite wollte sich schon wieder melden und mir sagen, dass Levius mich vielleicht vergiften wollte.
Aber ich schob diesen Gedanken, bevor er an die Oberfläche gelangen konnte, beiseite.
Ich konnte ihm vertrauen.
Es war normal paranoid zu sein, wenn man Teil eines blutrünstigen Spiels war.
Aber ihm, diesem Jungen hier, konnte ich tatsächlich vertrauen.

Wie, um zu untermalen, dass ich ruhig zugreifen konnte, warf er sich selbst eine Beere in den Mund.
Bei ihm sah es so unbeschwert aus, beinahe kindlich, dass ich plötzlich das Bedürfnis verspürte, ihn vor den Schrecken der Arena beschützen zu wollen.
Natürlich war dieses Gefühl lächerlich.
Ich kannte Levius kaum. Außerdem war ich nichtmal in der Lage, irgendwen zu beschützen.
"Ich habe versprochen, dir nichts anzutun. Und du siehst ziemlich verhungert aus, wenn man das mal so sagen darf", sagte er nun, streckte mir die Handvoll Beeren hin und verunsicherte mich etwas mit seinem plötzlichen Redefluss.
Andererseits war ich über diesen auch ziemlich erleichtert - er schien aufzutauen.
Also konnte ich jetzt vielleicht auch auftauen.

"Glaub mir, genau so fühle ich mich auch.",antwortete ich.
Ich nahm mir eine Beere und versuchte zu imitieren, was er eben getan hatte: Ich warf die Beere spielerisch in meinen Mund - nur leider traf ich ihn nicht.
Das konnte auch nur mir passieren.
Naja, immerhin hatte Panem jetzt vielleicht etwas zu lachen - obwohl sie sich wahrscheinlich über meinen Tod besser amüsieren würden.
Trotz dieses bitteren Gedankens konnte ich nicht umhin, über mich selbst zu lachen.
Bei Levius sah es so leicht aus, aber bei mir klappte es natürlich nicht.

Ich hob die Beere von Boden auf und steckte sie mir nun normal in den Mund.
Der süße Geschmack tat meinen Geschmacksknospen so unendlich gut.
Ich schloss meine Augen und genoss dieses Gefühl, bis ich die Beere runtergeschluckt hatte.
Als ich die Augen wieder öffnete und Levius ansah, sagte ich, "Danke", und meinte es von tiefstem Herzen.

Er erwiderte ein Nicken.
Ich sah zu, wie er den See zu mustern schien, bis mich ein Knacken aufhorchen ließ und ich sofort auf den Wald fokussiert war.
Irgendetwas war hier.
Oder irgendjemand.

Ich hätte mich beeilen sollen, um mir schnell wieder einen Baum zu suchen, aber stattdessen saß ich hier viel zu lange und verschwendete kostbare Zeit.
Wenn ich jetzt sterben musste, dann war das meiner eigenen Dummheit zu verschulden.

Levius schien es auch gehört zu haben und sprang auf.
Er war klüger - er reagierte schnell, während ich vor Panik geradezu erstarrt war.
Levius würde gleich fliehen und fort sein. Und ich würde noch immer hier sitzen und schließlich angegriffen werden.
Wenn ich hier blieb würde man ihm wenigstens nicht so schnell folgen - dann wäre mein Tod immerhin nicht ganz sinnlos.
Doch hingegen meiner Erwartung rannte er nicht einfach weg.
Er streckte mir seine Hand entgegen und fragte:"Kommst du mit?".

Wie auf das Stichwort war meine Starre plötzlich gelöst und ich griff nach seiner Hand.
Als ich stand, sagte ich noch, wie er vorhin:"Heb dein Messer auch besser auf. Du könntest es noch brauchen"
Sofort schob ich hinterher:"Wo wollen wir eigentlich hin? Wir könnten uns einen Baum suchen, da sind wir wahrscheinlich am sichersten."
Ich sprach leise, damit unser eventueller Angreifer es nicht hören konnte. Außerdem redete ich so schnell, dass ich mich fast verhaspelte - aber wir hatten keine Zeit zu verlieren.

Vielleicht zog ich voreilige Schlüsse, wenn ich davon ausging, dass wir uns tatsächlich zusammen verstecken würden - vielleicht wollte er mir auch nur aufhelfen und mich aus meiner Starre befreien.
Er hatte zwar gefragt, ob ich mitkommen wolle, aber hatte er das wirklich so gemeint? Wollte er wirklich so etwas wie ein Bündnis mit mir eingehen? Ich wäre sofort dazu bereit. Wenn man sich verstecken wollte, war es wichtig, immer auf der Lauer zu sein. Und 4 Ohren hörten nunmal mehr als zwei. Außerdem stellte ich mir die Spiele in Gesellschaft ein bisschen weniger grausam vor.
Aber wollte er das?

Er rannte schon los und zog mich mit sich durch das Gestrüpp.
Wären wir jetzt nicht in einer lebensbedrohlichen Situation, würde sich seine Hand, mit der er meine noch immer hielt, tatsächlich gut anfühlen.
Aber ich konnte es mir nicht leisten, über so etwas nachzudenken. Weil wir gerade auf der Flucht waren und auch, weil nur einer die Spiele gewinnen konnte.
Mein Gefühl sagte mir, dass er bessere Chancen hatte, als ich.
Und obwohl ich eigentlich einen enormen Selbsterhaltungstrieb hatte, wäre es, glaube ich, für mich in Ordnung.
Ich wollte zwar alles tun, um hier heil rauszukommen. Aber wenn ich das nicht schaffte und er dafür überlebte, dann hätte das alles wenigstens etwas gebracht.
"Also wenn du vorhast hier an meiner Seite zu bleiben, dann kann ich dir gleich was über mich erzählen: Ich bin ein mieser Kletterer", antwortete Levius auf meine Frage.
Er war also nicht sehr angetan von meinem Plan.
Aber er schien mich an seiner Seite haben zu wollen - also hatte ich seine Äußerung vorhin nicht missverstanden.
Ich wollte auch an seiner Seite bleiben. Aber ich wusste nicht, ob ich dafür meine komplette Taktik über den Haufen werfen konnte.
Levius machte mich mit einem Nicken auf eine große Wurzel aufmerksam, als ich schon fast darüber gestolpert war.
Dann fügte er noch hinzu:"Ich würde erstmal ein paar Meter in diese Richtung laufen, aber wenn du gut Klettern kannst, lass dich nicht aufhalten."
Er gab mich also frei und stellte mich vor die Wahl.
Levius oder der Schutz der Bäume?
Ich musste mich entscheiden.
"Ich kann dich doch nicht alleine lassen, Levius.",sprach ich offen aus.
"Und ich will auch nicht allein sein", fügte ich hinzu.
Dann sprach ich weiter, diesmal etwas schneller:"Wir können ja ein paar Meter in die Richtung laufen und wenn später etwas Ruhe eingekehrt ist, kannst du das mit dem Klettern vielleicht nochmal versuchen. Ich kann dir helfen. Da oben kann man auch gut schlafen. Von mir aus kannst du heute die ganze Nacht schlafen, während ich wache schiebe. Bitte!"
Wenn ich Panik hatte, gab es zwei verschiedene Wege, wie sich das auf mich auswirken konnte - entweder verfiel ich in eine Starre oder ich konnte meine Zunge nicht mehr zügeln und sprach jeden meiner Gedanken laut aus. Letzteres war wohl gerade der Fall.
Ich wollte Levius unbedingt von der Idee mit den Bäumen überzeugen, aber ich wusste nicht, ob er sich darauf einlassen würde.

Er schien meine Verzweiflung zu bemerken und sagte deshalb knapp:"Ist gut".
Anschließend schenkte er mir noch ein schiefes grinsen, was mich trotz dieser schrecklichen Situation zum Schmunzeln brachte.
Ich war in gewisser Weise erleichtert, weil ich mich auf den Bäumen einfach sicherer fühlte. Aber ich wusste, dass ich es nicht über mich gebracht hatte, fortan auf seine Gesellschaft zu verzichten - nun musste ich das auch nicht mehr.

Eine Weile liefen wir weiter.
Levius passte auf, dass von vorn keine Gefahr drohte und ich gab acht auf das, was sich hinter uns abspielte.
Ich konnte hinter uns schon lange niemanden mehr hören oder sehen.
Aber ich hatte Angst, dass meine Sinne mich täuschten und da vielleicht doch noch jemand war.
Wir liefen also weiter durch die Tundra, immer auf der Hut, weil hinter jedem Strauch der Tod auf uns lauern konnte.
Und dennoch bahnte sich eine Frage immer wieder in meinen Kopf: Waren wir nun Verbündete? Für mich fühlte es sich an, wie ein Bündnis, aber ich konnte ja nicht in Levius' Kopf schauen - ich wusste nicht, wie er darüber dachte.

Urplötzlich blieb Levius, inmitten des Dschungels stehen.
Da ich in Gedanken war und das Laufen nach Stunden schon ein Automatismus geworden war, hatte ich das nicht erwartet und prallte direkt gegen ihn.

Beinahe fiel ich hin, doch Levius griff nach meinen Schultern und verhinderte den Sturz.
Ich spürte, dass etwas Hitze in meine Wangen stieg, weshalb ich vermutlich gerade rot anlief - eine Eigenschaft von mir, die ich hasste.

Als ich zum ersten Mal zusammen mit Mom in Distrikt 12 aufgetreten war, zierte diese Röte mein Gesicht während des ganzen Abends.

"Hups, entschuldige", brachte Levius hervor und klang dabei etwas unbeholfen.
"Uhm...schon gut", antwortete ich und versuchte mich an einem Lächeln.

"Ich ähm... hättest du Lust, also...",entgegnete er und stockte.
Er schien nervös zu sein.
Natürlich war Nervosität hier in den Spielen eigentlich ein Dauerzustand.
Aber er verhielt sich anders, als gerade eben noch.

Er sah in meine Augen und ich konnte nur zurückstarren.
Ich war gebannt von seinem Blick, von seinen lebendigen, grünen Augen und von ihrer Intensität.
Dann schluckte er, was seinen Adamsapfel hüpfen ließ und brachte heraus:"Ich bin nicht gerne allein."

Er sprach mir aus der Seele - ich wollte auch nicht allein sein. Musste ich jetzt wieder allein sein, würde ich in ein Loch fallen, tiefer als der Tod.
Ich schloss die Augen, atmete tief durch und öffnete sie anschließend wieder, wobei ich direkt seinem Blick begegnete.

Zögerlich, aus Angst, dass es falsch oder zu aufdringlich war, hob ich meine Hand.
Langsam strich ich ihm seine Haare aus der Stirn und sagte:
"Wir müssen nicht mehr allein sein".

Vielleicht überschritt ich damit, mit der Berührung, eine Grenze.
Ich war normalerweise nicht so ein Mädchen, das mutig genug war, einen Jungen einfach zu berühren - normalerweise schaffte ich es nichtmal mit einem zu sprechen.
Aber mir war in diesem Moment danach.
Und weil ich wahrscheinlich eh bald sterben würde, tat ich einfach, wonach mir war.
Was hatte ich denn noch zu verlieren?

"Du solltest mich berühren, nicht ihn", sagte wieder eine Stimme in meinem Kopf, die Harper gehörte.
Ich schüttelte sie ab.

Plötzlich griff Levius nach meiner Hand. Zuerst dachte ich, dass er es tat, um meine Berührung zu unterbinden, weil er sich durch sie unwohl fühlte.
Doch dann bemerkte ich die Wärme in seinen Augen und die Sanftheit mit der er meine Hand umfasste. Er strich mit seinem Daumen über meinen Handrücken und hinterließ an jeder Stelle, die er berührte, ein Kribbeln.
Ich wagte es nicht, zu atmen.

Noch nie in meinem Leben hatte ich so etwas gespürt.
Nicht Mal, als Harper sich vor den Spielen von mir verabschiedet hatte.
Das hier fühlte sich anders an. Besser.

Und trotzdem konnte ich dieses Gefühl nicht zuordnen.
Reagierte ich so, weil ich verzweifelt und ausgehungert war?
Weil ich Angst hatte und dennoch erleichtert war, nicht mehr allein zu sein?
Oder reagierte ich so, weil ich durch seine Berührung und durch ihn für ein paar Sekunden ausblenden konnte, wie grausam diese Welt war?

Ich wusste es nicht.

Aber ich wusste, dass ich mich besser fühlte, wenn er hier, bei mir, war.
Beinahe spürte ich einen Hauch des Glücks - Er war zum greifen nah.

Levius' warmer Blick wirkte wie eine Bestätigung oder ein Versprechen.
Das Versprechen für mich da zu sein und mich zu behüten.
Ich lächelte leicht, um ihm zu zeigen, dass ich verstanden hatte.
"Danke", flüsterte ich leise

Ich war vollkommen verloren in seinen grünen Augen.
Meinen Blick konnte ich erst von seinem lösen, als plötzlich ein Piepsen ertönte.
Dieses Geräusch kannte ich.
Ich hatte es schon häufig gehört, als ich die Spiele gesehen hatte.
Wüsste ich es nicht besser, würde ich tatsächlich glauben, dass gerade eine Gabe von Sponsoren auf uns zuflog.
Aber das konnte doch nicht sein.
Niemals konnte ich Sponsoren haben, nachdem, was bei meinem Interview passiert war.
Vielleicht hatte Levius Sponsoren bekommen - ihn fand wahrscheinlich jeder sympathisch.
Oder aber es gab selbst im Kapitol Menschen, denen wir mit unserem ziemlich friedvollen Verhalten in der Arena imponieren konnten.

"Hörst du das?", fragte ich Levius, wobei meine Stimme einen beinahe ehrfürchtigen Ton annahm.

"Ein Drohne", entgegnete er nachdenklich.

"Ähm... du sagtest doch, du kannst klettern, nicht?, setzte er noch hinterher, während er weiterhin in den Himmel starrte.
Ich folgte seinem Blick - der kleine Fallschirm hatte sich in einer Astgabel verfangen.
Immerhin gab es somit etwas, wozu ich hier nützlich war.
"Ja, keine Sorge, den habe ich in zwei Sekunden da runter geholt", antwortete ich und grinste.
Ohne seine Antwort abzuwarten, machte ich mich schon auf den Weg nach Oben.
Erst kletterte ich den Stamm hoch und gelangte anschließend von Ast zu Ast.

Am richtigen Ast angekommen, zupfte ich den Fallschirm aus den Zweigen und machte mich anschließend wieder auf den Rückweg.
Ich brauchte zwar länger, als zwei Sekunden, aber trotzdem berührten meine Füße schnell wieder den Boden.
Ich streckte Levius die kleine, metallene Kapsel hin und sagte:"Hier, ist vermutlich für dich."

Er nahm sie in die Hand, fragte jedoch:"Warum gehst du davon aus, dass es für mich ist?".
Er sprach dabei so, als wäre ein Geschenk, von den Sponsoren an ihn, das Abwegigste der Welt - vielleicht empfand er das tatsächlich so.
Ich glaubte allerdings, dass sogar die Menschen im Kapitol ihn nur mögen konnten. Er war aufgeschlossen, herzlich, witzig und vermutlich noch mehr Dinge, die ich wüsste, würde ich ihn besser kennen.
Für mich hingegen konnte es nicht sein - Ich habe die Kapitolbewohner in meinem Interview als "Monster" bezeichnet. Ein Wunder, dass die Friedenswächter mich nicht auf der Stelle hingerichtet hatten.
Levius öffnete die Kapsel und auch ich lugte gespannt hinein.
"Brot", stellte er fest, wobei sich auf seinem Gesicht beinahe ein Lächeln ausbreitete.
Ich schluckte.
Dieses Brot wäre eine Wohltat für meinen Magen.
Aber es gehörte ihm, das war klar.
Also musste ich mich beherrschen.
"Es ist deins, weil du es verdienst. Sie mögen dich, ganz im Gegensatz zu mir", antwortete ich auf seine Frage und versuchte mich an einem Lächeln, das jedoch ziemlich bitter aussehen musste.

Levius runzelte die Stirn und kurz blitzte in seinem Blick etwas auf. War es Enttäuschung? Wieso war er enttäuscht?
"Also vielleicht ist es auch für ein anderes Tribut, was sich hier in der Nähe versteckt hält und wir waren nur zur rechten Zeit am rechten Ort. Aber das ist egal, wir haben's gefunden und wir sind doch jetzt ein Team oder?".
Ich nickte kaum merklich.
Natürlich konnte es stimmen: Es konnte für jemand anderen sein. Aber trotzdem wunderte es mich, dass Levius nicht mal eine Sekunde in Erwägung zog, das es vielleicht doch für ihn sein konnte. Er musste irgendetwas erlebt haben, was ihn dermaßen geprägt hat - was ihm gezeigt hat, dass man in dieser Welt immer leer ausging. Oder, dass er immer leer ausging.

Sofort tat er mir leid.
Doch, als er das Brot brach und mir ein Stück gab, konnte ich nur noch darauf starren und auch an nichts anderes mehr denken. Ich hielt ein richtiges Brot in meiner Hand, das ich jetzt essen konnte! Mein Magen zog sich zusammen und mir lief das Wasser im Mund zusammen.
"Hau rein", sagte Levius grinsend und warf die Kapsel auf den Boden.
Sofort biss ich ein Stück ab und ich konnte spüren, wie gut es mir tat.
Ich wurde jedoch kurz durch Levius, der noch etwas sagte, abgelenkt:"Danke liebe Sponsoren, von wem und an wen auch immer das ging! Ihr seid zu großzügig!".
Ich musste kurz über ihn grinsen.
Er war echt... - mir fiel kein Wort dafür ein... Jedenfalls war ich froh, ihn jetzt als Verbündeten zu haben.

Ich biss nochmals in mein Brot und verstaute dann den Rest, für später in meinen Rucksack.
Es fiel mir schwer, dem Drang, es ganz aufzuessen, zu widerstehen, aber ich musste rational damit umgehen.
Anschließend sagte ich:"Sollen wir uns jetzt vielleicht auf einem Baum verstecken? Ich weiß, du bist von der Idee nicht so überzeugt, aber ich helfe dir auch."

Wir setzten bereits langsam unseren Weg fort, als Levius mich offen ansah und antwortete:"Ist gut, ich vertraue dir voll und ganz. Das Problem ist nur, wenn ich einmal oben bin, komme ich vermutlich so schnell nicht mehr runter. Aber wir haben ja heute schon etwas getrunken und Essen haben wir auch für eine Weile. Warum also nicht?"
Ich lächelte.
"Dann vielen Dank für dein Vertrauen",entgegnete ich.
Dann fügte ich noch hinzu:"Achja und wir haben ja auch noch eine Wasserflasche in meinem Rucksack - damit schaffen wir es bestimmt eine Weile da oben zu sein".
Denn wenn er dachte, dass ich sie nicht mit ihm teilen würde, hatte er sich getäuscht.

Ich schaute nach oben und entdeckte plötzlich den perfekten Baum - er hatte einen soliden, dicken Stamm, starke Zweige und war zudem ziemlich hoch.
Ich blieb stehen.
"Der hier ist es", sagte ich mehr zu mir selbst und drehte mich dann zu Levius.

Skeptisch beäugte er den Baum.
Ich wusste nicht, was ihm durch den Kopf ging, aber vermutlich war ihm das Klettern noch immer nicht geheuer.
Trotzdem war ich mir sicher, dass er es schaffen würde - er war ziemlich schlank und hatte deshalb nicht zu viel Eigengewicht zu tragen. Außerdem waren diese Schuhe, die jeder Tribut trug, wirklich gut zum Klettern geeignet. Zudem war ich mir sicher, dass er einen scharfen Verstand hatte und auch ohne Kletter-Erfahrung abschätzen konnte, wo er hintreten durfte und wo nicht - das waren gute Voraussetzungen.

"Also ich würde ja sagen, Ladys first, aber ich habe keine Ahnung, was ich da tun soll", gab er zu und zeigte auf den Baum.
"Also mein Plan sieht folgendermaßen aus", sagte ich, Strich meine Haare hinter mein Ohr und fuhr fort:"Ich zeige dir hier unten,was du machen musst, anschließend sichere ich dich mit einem Seil und klettere nach oben. Dann wendest du das, was ich dir gezeigt habe an und kletterst hoch, während ich das Seil auf Spannung halte und somit verhindere, dass du runterfällst, falls du abrutschen solltest".
Schnell kramte ich schonmal das Seil aus meinem Rucksack, welches zum Glück eine beachtliche Länge hatte.
Wieder war ich froh, diesen Rucksack ergattert zu haben.

Levius ließ seinen Blick schweifen und blieb an mir hängen.
"Weiß du was: klettere du einfach hoch und wirf mir dann das Ende vom Seil runter. Ich komme schon irgendwie hoch.",sagte er dann.
Sein Ausdruck wirkte sorgenvoll. Vielleicht hatte er Angst, dass wir hier unten Zeit verschwendeten - jede Sekunde am falschen Ort konnte der Tod bedeuten.
Kurz dachte ich nach und schaute prüfend in seine Augen.
"Dann mache ich es aber so, wenn das okay ist", erwiderte ich und ging, ohne auf seine Reaktion zu warten, auf ihn zu.
Ich schlang das Seil vorsichtig um seine Hüfte und machte dann mit flinken Händen einen Knoten.
So war er zumindest sicherer, als wenn er das Seil bloß in den Händen hielt.
Ich weiß, dass es nicht richtig war, ihm plötzlich so nahe zu kommen - vermutlich hatte ich ihn sogar erschrocken.
Aber wenn er keine Zeit verlieren wollte, würde ich das auch nicht tun.
Außerdem fühlte sich seine Nähe gut an. Und hier in der Arena war es wichtig, stets an dem Guten festzuhalten - sonst würde man vollkommen durchdrehen.

Vermutlich zierte wieder eine leichte Röte meine Wangen, aber möglichst schnell, damit Levius diese hoffentlich nicht bemerkte, fing ich auch schon an, auf den Baum zu klettern.

Während ich den Baum immer weiter erklomm, spürte ich Levius Blick auf mir. Völlig unangekündigt durchfuhr mich ein Schauer und ich bekam Gänsehaut.
Ich wusste nicht, ob das okay war.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen.
In meiner Hosentasche lag der Zettel von Harper, in welchem er mich bat, zu ihm zurückzukommen - Währenddessen dachte ich jedoch bloß an einen anderen Jungen.
Ich kannte weder Harper noch Levius gut und ich würde auch keinen von ihnen besser kennenlernen, wenn ich eh bald starb.
Aber ich wusste, dass sich Levius' Anwesenheit gut anfühlte und das trotz der Perspektive meines baldigen Todes.
Ich sollte mir nämlich nichts vormachen - ich hatte keine Chance, zu gewinnen.
Ich war zu langsam, zu schwach und hatte zu viele Skrupel.
Levius schien mich dennoch beschützen zu wollen.
Harper tat das nicht.
Er konnte gemütlich in seinem Haus sitzen, mit seiner Schwester, an dessen Stelle ich mich freiwillig meldete, an seiner Seite.
Würde ich ihm etwas bedeuten, hätte er mir mehr als einen Zettel und einen kleinen Kuss gegeben - das waren nur Gesten des Mitleids...vielleicht sogar hatte er auch bloß das Gefühl, mir etwas schuldig zu sein.
Aber würde ich ihm tatsächlich etwas bedeuten, hätte er mir mehr gegeben.
Er hätte mir sein Leben gegeben, er wäre mit mir zusammen in die Spiele gegangen.

Ich hatte einfach ein schlechtes Gewissen, weil ich, seit ich Levius grüne Augen heute morgen zum ersten Mal wahrnahm, bloß noch über ihn nachdenken konnte. Aber ich merkte immer mehr, dass ich keinen Grund für ein schlechtes Gewissen hatte.
Wenn ich eh bald sterben würde...
Wäre es dann nicht sowieso klüger, einfach für den Moment zu leben?

Als ich auf einem stabilen Ast angekommen war, setzte ich mich hin.
Anschließend streckte ich meinen Daumen in die Höhe, um Levius zu zeigen, dass er nun hochklettern konnte. Denn jede weitere Form eines Signals, hätte womöglich die Aufmerksamkeit anderer Tribute erregt.
Er begann damit, seine Hände auf der rauen Rinde zu fixieren und dann immer weiter zu klettern.
Das machte er überraschend gut und flink.

Schneller, als erwartet, war er schon bei mir und sagte sanft:"Rutsch mal ein Stück".
Sofort tat ich es, woraufhin er sich hinter mir auf den Ast schwang.
Ich hatte diesen Ast ausgesucht, da er mit Sicherheit dick genug war, um uns beide zu halten. Wenn Levius platz nahm, wackelte der Ast nicht einmal.

Als ich in sein Gesicht blickte, fiel mir plötzlich auf, wie nahe es meinem jetzt war.
Er sah wirklich hübsch aus - seine schwarzen Haare standen leicht unordentlich ab, seine Konturen waren sanft und dennoch kantig und seine grünen Augen funkelten trotz der Dunkelheit. Erneut stieg Hitze in meine Wangen. Da es nun aber schon ziemlich dunkel war, hoffte ich, dass er es nicht bemerkte.
"Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe", flüsterte er und grinste anschließend schief.
Einerseits wirkte dieses Grinsen so kindlich, dass Levius mir wieder leidtat und ich ihm vor all dem hier nur beschützen wollte. Andererseits passte dieses Lächeln so perfekt in sein Gesicht und sah so hinreißend aus, dass ich kurz den Drang verspürte, ihn vor all diesen Kameras einfach zu küssen.
Seine Lippen sahen so weich und lieblich aus.
Wieder schluckte ich.
"Ich bin auch unendlich froh, dich gefunden zu haben", hauchte ich, wobei ich automatisch anfing zu lächeln.

Er schien in sich hinein zu grinsen und entgegnete:"Und was machen wir nun mit dieser Erkenntnis hier oben?".
Anschließend lächelte er mir offen entgegen.
"Wenn wir schlafen wollen, dann würde ich mich als menschliche Heizung anbieten, nur so für den Fall. Es soll ja schon kalt hier oben auf den Bäumen werden, auch, wenn ich das nicht aus eigener Erfahrung sagen kann.",fügte er scherzhaft hinzu.
Ich musste lächeln.
"Ja, kalt wird es hier auf jeden Fall. Also danke. Wir heizen uns dann einfach gegenseitig. Ich habe hier in meinem Rucksack auch eine Decke - die wärmt uns sicher auch.",antwortete ich, während ich meinen Blick nicht von ihm losreißen konnte.
Seine grünen Augen wirkten wach, aber dennoch tiefgründig. Zudem verspürte ich beim Anschauen seiner Haare das Bedürfnis, mit meinen Fingern durch diese zu fahren.
Ich bemerkte jedoch auch einige andere Dinge - die kleine Wunde an seiner Stirn, die Narben an seinen Händen und auch eine kleine an seinem Hals.
Ich kannte ihn nicht, aber er schien ein Leben voller Lasten zu führen.
Seine Gesichtszüge wirkten dennoch freundlich und der Schwung seiner Lippen war perfekt.
Ich wusste, dass ich nicht so auf seine Lippen starren durfte. Aber ich konnte nicht anders. Alles in allem sah er ganz und gar perfekt aus.

"Nur, damit du dich nicht erschreckst und vielleicht vom Baum fällst: ich werde dieses Seil jetzt wieder von dir losbinden, damit wir uns zum schlafen festbinden können.", warnte ich ihn vor.

Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, weil allein schon sein Blick so viel in mir auslöste.
Aber ich musste stets fokussiert sein - immerhin war ich in den Hungerspielen.
"Jetzt wo ich schon mal hier bin, vertraue ich dir auch", antwortete Levius lächelnd und hob seine Hände, damit ich um seinen Bauch greifen und den Knoten lösen konnte.
Sein Vertrauen schmeichelte mir.
Und ich wusste, dass ich ihm auch vertraute.
"Na dann", sagte ich grinsend und fing an, ein Stück näher an ihn heranzurücken.
Ich konnte nur hoffen, dass es für Levius nicht zu nah war - aber in seinem Blick hatte ich keine Anzeichen dafür gesehen.
Also schlang ich langsam meine Arme um seinen Bauch und löste angestrengt den Knoten.
Dabei spürte ich seinen Blick und seine Körperwärme, was mich geradezu verrückt machte.
Der Knoten war fest und daher schwer zu lösen, aber irgendwann schaffte ich es.
Zufrieden schaute ich auf und bemerkte, dass wir uns sehr nah waren.
Vermutlich nahmen meine Wangen wieder eine rötliche Färbung an, was Levius im Schutz der Dunkelheit aber hoffentlich nicht sehen konnte.
Ich hörte seine Atmung und spürte seine Präsenz.
Und ich verharrte völlig in dieser Position - ich konnte nichts dagegen tun, war wie hypnotisiert.
Ich durfte ihm nicht so nah sein - ich kannte ihn doch kaum. Außerdem waren wir, oder zumindest ich, ohnehin dem Tod geweiht.

Plötzlich beugte er sich nach vorn, was meinen Atem zum stocken brachte. Er hauchte einen Kuss auf meine Wange und flüsterte:"Danke".
Mein Herz sprang förmlich aus meiner Brust.
Wieder war es, als würde ich tatsächlich etwas Glück fühlen. Glück - und das hier in den Hungerspielen.
Levius war wirklich wundervoll.
"Vielleicht sollten wir versuchen etwas zu schlafen", raunte er und ich bemerkte just in diesem Moment, wie müde ich eigentlich war.
Das war ein harter, aber doch erfolgreicher Tag.
Ich hatte etwas im Magen, mein Wasservorat wurde aufgestockt, ich war unbeschadet und hatte nun sogar einen Verbündeten in dessen Nähe ich mich wohl fühlte.
"Ja, ich bin todmüde", antwortete ich und erkannte erst danach, dass diese Wortwahl hier vielleicht nicht ganz angebracht war.

Ich holte meine Decke heraus und band anschließend das Seil um mich, Levius, den Baumstamm, an dem er lehnte, und meinen Rucksack. Dann setzte ich mich vor Levius, mit dem Rücken zu ihm, zog das Seil fester und machte einen Knoten.
Die Decke legte ich über uns.
Plötzlich spürte ich etwas nasses auf meinem Kopf.
Dann wieder und wieder.
Es regnete.

Einerseits war es echt unpraktisch, wenn wir nass wurden, aber andererseits beruhigte mich das Geräusch der Wassertropfen auch ein wenig.
Fast wollte sich der Gedanke, ob ich Levius vielleicht zu nah war, wieder in meinen Kopf schleichen.
Aber ich war mir sicher, dass er nichts dagegen hatte - immerhin hatte er gerade selbst meine Wange geküsst.
Bei dem Gedanken daran flatterte mein Herz erneut.

Ich war wirklich froh, Levius begegnet zu sein.
Zum ersten Mal drängte sich aber ein gewisser Wunsch in mein Bewusstsein - der Wunsch, ihn bereits vor der Ernte kennengelernt zu haben.
Wir hätten Zuhause reden oder gemeinsam essen können.
Wir hätten uns in der Schule vielsagende Blicke zugeworfen und gemeinsam gelacht.
Ich hätte vielleicht sogar ein Lied für ihn geschrieben und es in Distrikt 12 gesungen. Hätte ich ihn nur vorher gekannt, hätte alles anders laufen können.
Ich wusste nicht, warum er sich freiwillig gemeldet hatte. Aber ich wusste, warum ich es tat - und wäre vor den Spielen etwas zwischen mir und Levius gewesen, wäre zumindest ich jetzt nicht hier.
Aber es war unnötig, nun über sowas nachzudenken.
Wir waren jetzt hier und daran konnten wir nichts mehr ändern.

Zögerlich lehnte ich mich zurück und schmiegte mich an Levius.
Ich genoss seine Nähe und Wärme.
Als ich den Kopf drehte und mein Ohr an seine Brust lehnte, konnte ich sogar seinen Herzschlag hören.
Ich atmete tief ein und aus und lugte durch die Zweige in den Himmel - oder eher an die Kuppel dieser riesigen Arena.
Levius schlang plötzlich seine Arme um mich, was mein Herz wieder stolpern ließ.
Anschließend tastete ich vorsichtig nach seiner Hand und verschränkt sie auf meinem Schoß mit meiner.
Auf seiner Hand konnte ich ein paar Narben spüren, was mich sofort wieder daran erinnerte, was hätte sein können...
Dieser bezaubernder Junge verdiente es nicht, so viel durchzumachen.
Ich wusste nicht, was er erlebt hatte, aber seine Narben und auch seine Art zeigten, dass er bereits mehr erlebt hatte, als andere - es waren düstere Erlebnisse. Düsterer, als das Leben in 12 ohnehin schon war.
Hätte ich Levius schon vorher gekannt, hätte ich mein bestes gegeben, all das Düstere irgendwie aufzuhellen. Ich hätte ihm gezeigt, dass er so viel mehr wert war, als er vielleicht dachte.
Dieser Junge war perfekt. Zu perfekt, um es in Worte zu fassen.
Ich hätte alles getan, um die Zeit zurückzudrehen und ihn bereits vor den Spielen kennenzulernen.
Aber das ging nicht.
Das Leben spielte nach seinen eigenen Regeln und nicht noch unseren. Wir waren vollkommen machtlos.
Was blieb uns also anderes übrig, als das zu akzeptieren und das beste daraus zu machen?
Deshalb sollte ich genießen, was mir das Leben jetzt noch bot.
Ich konnte die Hand dieses Jungen jetzt halten.
Und wenn ich das tat, fühlte es sich so an, als hielte ich etwas unfassbar wertvolles in meiner Hand, das ich um jeden Preis beschützen wollte.
Mit meinen Daumen strich ich über seine Hand und bildete mir sogar ein, sein Herz dabei stolpern zu hören.
"Gute Nacht", murmelte ich noch, bevor ich wenig später in den Schlaf glitt und träumte.
Träume, die sich nicht an Regeln hielten - bloß an meine eigenen.


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