»WER WEISS, WAS DAS FÜR FREAKS SIND?«

~ Dienstag, 08. August 2017 ~

LIEBES TAGEBUCH,

herzlich willkommen auf meinem Schreibtisch. Vielleicht stelle ich mich zunächst einmal bei dir vor:

Mein Name ist Maria Simoni, ich bin 19 Jahre alt und wohne in Eichenstedt. Das ist ein kleiner Ort in der Nähe des Harzes. Viel los ist hier normalerweise nicht. Ich bin sicher, dass ich dennoch das ein oder andere Spannende aus meinem Leben in dir aufschreiben kann.

Was an mir so spannend ist? Meine berufliche Laufbahn zum Beispiel! Denn seit Anfang Juli bin ich Auszubildende bei Eichenstedt.fm, einem kleinen Radiosender in meiner Heimatstadt. Ich wollte schon als kleines Kind unbedingt beim Radio arbeiten und bin überglücklich, dass ich mir diesen Traum nun erfüllen kann. Während ich damals nur meine Familie und Freunde interviewt habe, werde ich jetzt die wirklich interessanten Themen bearbeiten.

Meine Hauptaufgaben im Radio sind nämlich die Nachrichten und das Wahrnehmen von Presseterminen, beispielsweise im Rathaus. Dort treffe ich wichtige Menschen der Region und darf sie mit Fragen und Kommentaren löchern und auf den Zahn fühlen. Es ist nur ein ganz kleiner Sender und bestimmt gibt es anderswo viel größere Sachen zu berichten, dennoch fühle ich mich dort sehr wohl und es ist mein Sprungbrett in die Welt des Journalismus.

Das Funkhaus ist im Zentrum Eichenstedts gelegen und erstreckt sich auf zwei Etagen. In der unteren Etage befinden sich der Empfangsraum und die Redaktionsräume. Auch die drei Studios sind dort und ein großer Konferenzraum sowie einige kleinere Büroräume. Es läuft den ganzen Tag über Musik aus mehreren Lautsprechern, damit wir überall unser Programm hören können und sofort mitbekommen, wenn mal etwas schiefläuft. Du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Hektik ausbricht, wenn mal nichts als Stille zu hören ist. Dann hört man von überallher flinke Schritte zum Kontrollplatz flitzen. Wie genau die Technik funktioniert, das werde ich in den kommenden Jahren noch lernen. Derzeit eigne ich mir alles Wissen über das journalistische Arbeiten an und wenn ich Pause habe, dann gehe ich in die zweite Etage. Dort sind eine kleine Küche und eine Dachterrasse, auf der man über ganz Eichenstedt blicken kann.

Meine Kollegen sind auch alle nett und die meisten auch noch jung genug, um Freundschaft mit ihnen schließen zu können. Ich hätte wirklich keinen schöneren Arbeitsplatz finden können und freue mich auf die kommenden Jahre.

Du, liebes Tagebuch, wirst mich von jetzt an auf meinem Weg zur professionellen Radiotante begleiten. Ich denke, dass es mir noch oft ein Schmunzeln entlocken wird, wenn ich in zehn oder zwanzig Jahren wieder in dir lese und mich an meine Anfangszeiten beim Radio erinnere.

Aber genug geschwatzt! Fangen wir doch gleich mal an, über den heutigen Tag zu berichten!

Wie jeden Tag habe ich auch heute Morgen zunächst alle aktuellen Meldungen aus der Region durchstöbert, um die relevanten Themen für Eichenstedt und Umgebung herauszusuchen. Dabei bin ich auf einen Artikel über zwei Brüder aus den Vereinigten Staaten gestoßen, die seit kurzem hier leben sollen und eine alte und verfallene Immobilie in Eichenstedt gekauft haben.

»Du liebe Zeit! Da haben sich tatsächlich zwei Verrückte gefunden, die in die alte Villa am Fluss einziehen wollen«, rief ich empört in den Raum. Eigentlich wollte ich es nur denken, aber ich konnte diesen Wahnwitz einfach nicht für mich behalten.

»Ja, das habe ich vorhin auch gelesen«, antwortete mir Claudia, meine Kollegin aus der Serviceredaktion und schüttelte zweifelnd ihre dunkelbraunen Locken. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Amis aus dieser Ruine etwas machen können. Das haben doch schon viele andere versucht.« Auch sie war verwundert darüber, dass sich nach Jahren des Leerstands wieder Käufer für diese Bruchbude interessierten.

Jeder in Eichenstedt kannte das Gebäude. Früher einmal ist es ein wunderschönes Herrenhaus gewesen. Doch daran können wir jüngeren Eichenstedter uns nicht mehr erinnern. Uns ist die Villa leider nur noch als leerstehende Bude bekannt, in der zeitweise manch wundersamer Bewohner gehaust hat.

»Wisst ihr eigentlich, dass sich vor längerer Zeit eine pseudo-religiöse Truppe dort eingenistet hatte und schnell wieder ausgezogen ist, weil angeblich Ratten deren Kinder im Schlaf angeknabbert haben?«, mischte sich Franz Meißner in unser Gespräch ein. Er ist der Älteste in unserem Radio und der Einzige in dieser Runde, der sich noch an die besseren Zeiten des Gebäudes erinnern kann. Aber auch an alles, was danach mit ihr geschah.

»Ja, das war derzeit das Stadtgespräch schlechthin!«, antwortete Claudia und verzog angewidert das Gesicht. »Meine Großeltern haben sich oft darüber unterhalten.«

»Ich musste auf dem Weg zur Schule immer daran vorbeigehen und mir war das alles andere als geheuer damals. Mal sehen, wann diese beiden Amerikaner mit angeknabberten Zehen und Ohren schreiend aus dem Haus rennen!«, heizte ich unsere Fantasie weiter an und wir mussten herzhaft lachen.

»Dann musst du aber sofort mit dem Mikrofon vor Ort sein und O-Töne einfangen, Maria«, scherzte daraufhin Melanie, eine der Schülerpraktikantinnen.

»Hehe, „Eichenstedt.fm sprach als Erster mit den Opfern". Klar«, antwortete ich amüsiert über diesen Gedanken.

»Und dann steht die olle Villa ruck zuck wieder leer. Wie jedes Mal«, sinnierte Claudia weiter und wippte dabei rhythmisch zu Starships Song We Built This City, welcher gerade lief.

»Ehe die erste Ratte zubeißen kann, flüchten die beiden vor den Kosten, die für die Sanierung anfallen werden. Ich möchte das nicht machen. Ganz ehrlich«, sagte ich daraufhin und setzte mich wieder an mein Tagewerk.

Ich denke, wir waren uns alle einig, dass auch diese Burschen kein gemütliches Wohnhaus aus der verfallenen Ruine unten am Fluss zaubern können. Da wird ihnen auch der wohlklingende italienische Nachname Salvatore nicht helfen können. Ich habe auch italienische Vorfahren, musst du wissen. Was nicht heißt, dass diese Typen mir deswegen gleich sympathischer sind. Ich halte sie für verrückt, sich diese Arbeit aufzubuckeln.

»Auf dem Weg zum Radio und zurück, muss ich nach daran vorbeigehen und kann ja mal einen flüchtigen Blick auf die Renovierungsfortschritte werfen«, murmelte ich noch vor mich hin und war kurz darauf in eine andere Nachricht vertieft.

Auch meine Kollegen fanden schnell neue Themen zum Diskutieren. Zum Beispiel, dass Taylor Swift sich gegen einen Po-Grapscher wehrt oder Jürgen Vogel, der in seinem aktuellen Film den Ötzi spielt. Ich liebe ja Mumien und alles, was altertümlich, antik, prähistorisch oder sonst wie urig ist. Manchmal fällt es mir wirklich schwer, mich wieder auf meine eigentliche Arbeit zu konzentrieren, wenn ich durch derartige Stichpunkte abgelenkt wurde. Ich würde zu gerne einmal jemanden aus der Vergangenheit treffen, der mir aus erster Hand alles über diese früheren Zeiten erzählen kann. Am besten jemanden, der auch Tagebuch schreibt. In ein paar Jahren bist du, liebes Tagebuch, schließlich auch ein Zeitzeuge der Vergangenheit.

»Na, klasse. Jetzt google ich gleich wieder nach Eismumien und Moorleichen. Toll gemacht, Claudia!«, necke ich mich mit meiner Kollegin.

»Das tut mir aber sehr leid, Frau Nachrichtenfee«, kicherte die Vierundzwanzigjährige gespielt schuldbewusst und zwirbelte an einer Haarsträhne herum. »Vielleicht werden hier in Eichenstedt ja auch mal spannende Funde gemacht. Dann kannst du offiziell über Mumien recherchieren.«

»Ach, komm. Als ob man ausgerechnet hier etwas Bedeutendes finden würde«, winke ich ab. »Da halte ich es für wahrscheinlicher, dass ein riesiger Gorilla unseren Kirchturm raufklettert.« Keine Ahnung, wie ich darauf kam.

Für mich gab es glücklicherweise noch allerhand Spannendes aus der Region zu berichten. So kam zum Beispiel ein Gewaltverbrecher aus Quedlinburg ins Gefängnis und in Halle gab es eine Verfolgungsjagd, nachdem ein Mann mit einem Hammer in einem Autohaus für Aufsehen gesorgt hatte. Später setzte ich mich mit dem Chefredakteur zusammen und bastelte aus diesen und weiteren Meldungen sendefertige Nachrichtentexte. Zum ersten Mal seit Beginn meiner Ausbildung durfte ich heute sogar ein paar Texte einsprechen.

Aber auch der gehaltvollste und schönste Arbeitstag hatte einmal ein Ende und so stand ich gegen 19 Uhr vor der Spätschicht, um mich für diesen Tag zu verabschieden.

»Pass aber auf, Maria, dass dich diese Salvatores nicht in ihre Villa locken«, konnte sich Franz eine nicht ganz ernst gemeinte Warnung nicht verkneifen.

»Mit denen werde ich schon fertig. Falls diese Typen nicht gerade mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet sind, werden sie ohnehin schneller wieder ausgezogen sein, als sie einer von uns zu Gesicht bekommt.«

Tatsächlich, liebes Tagebuch, konnte ich bereits heute auf dem Nachhauseweg mit Erstaunen feststellen, dass sich an der alten Ruine etwas tat! Die neuen Bewohner hatte ich allerdings nicht gesehen. Ist vielleicht auch besser so. Wer weiß, was das für Freaks sind?

Ich wohne übrigens in einem kleinen Mehrfamilienhaus am Rande der Stadt. Als ich durch die Wohnungstür kam, habe ich meine Eltern sofort gefragt, ob sie mich im Radio gehört haben. Ich bin herumgehüpft, wie ein junges Kaninchen, so glücklich hat mich der heutige Tag gemacht.

Mein Papa heißt Marco Simoni und sein Vater stammt aus Italien. Er arbeitet als Kaufmann für Tourismus in Quedlinburg und ich konnte ihm erleichtert berichten, dass dieser Verbrecher, der in dem beschaulichen Städtchen für Aufsehen gesorgt hatte, jetzt im Gefängnis sitzt.

Meine Mama Charlotte Simoni, geborene Neugebauer arbeitet als Kindergärtnerin in Groß Wiesenstedt, einem Ortsteil von Eichenstedt. Vor Weihnachten werde ich dorthin gehen und Weihnachtsgrüße der Knirpse aufzeichnen, die dann im Radio gesendet werden. Ich sag ja, ich habe einen tollen und abwechslungsreichen Beruf.

Weniger Glück hatte da bislang meine ... oh, warte mal kurz. Mein Handy klingelt. Ah! Es ist Jasmine, meine ehemalige Schulfreundin. Sie wohnt jetzt in Köln, wo sie Kultur, Gesellschaft und Soziales studiert. Ich geh mal ran.

»Hey, Mine! Wie schön, dass du anrufst. Wie geht es dir?«

»Super und dir? Hast du schon ein paar Stars interviewt?«

»Ne, das ist doch nur ein regionaler Radiosender. Warte mal, ich muss nur mal kurz ...«

Ich erzähle ihr jetzt alles, was ich dir erzählt habe, also bis gleich, Tagebuch.

»Was machst du denn gerade, musst du noch arbeiten?«

»Was? Ähm, nein. Ich habe mir heute vor der Arbeit ein Tagebuch gekauft und notiere meine heutigen Erlebnisse.«

»Das hältst du ohnehin nicht durch. Du hast es damals bereits mit einem Traumtagebuch probiert und nach einem Eintrag nicht weitergemacht

»Aber es war wenigstens ein witziger Traum. Der, wo haufenweise Aquarien in unserem Schulklo standen.«

»Ja, Maria. Sehr witzig. Schade, dass nicht noch mehr dieser überaus appetitlichen Träume dazu kamen«, ich konnte hören, wie Jasmine ihre Augen verdrehte. »Und erinnere dich mal an dein Liebestagebuch, als du mit Phil zusammen warst. Hast du mal wieder was von dem gehört?«

»Nein, und das ist mir auch ganz recht so. Reden wir nicht mehr darüber.«

»Ist ja gut. Diese Pfeife ist wirklich kein weiteres Wort wert. Also dann, erzähl mir vom Radio!«

Ich redete fast eine Stunde mit meiner Freundin und merke erst jetzt, wie sehr sie mir fehlt. Die guten alten Zeiten sind jetzt vorbei und wir werden nur noch telefonischen Kontakt haben. Aber so ist das Leben.

Ich müsste dir noch einiges mehr erzählen, liebes Tagebuch, aber für heute bin ich wirklich zu müde dafür. Ich würde sagen, das ist auch erstmal genug gewesen.

Bis zum nächsten Mal!

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