»IST DAS BLUT? RICHTIGES BLUT?«
»WAS – WAS IST mit Ihnen los?«, stammelte der Radfahrer, als ich seine offene Kopfwunde mit der Hand berühren wollte, um mehr von seinem Blut zu probieren.
Ich hatte das Gefühl, dass ich sein vor Angst pochendes Herz sogar hören konnte. Oder war es nur Einbildung? Auch mein eigenes Herz schlug immer schneller und in meinen Ohren rauschte es. Dennoch kam es mir vor, als würde ich jedes Geräusch um mich herum viel deutlicher wahrnehmen. Als würde sich mein Gehörsinn mit meiner Nase und meiner Zunge darüber streiten, welche Eindrücke wichtiger seien.
Mir war, als würde ich durchdrehen. Natürlich drehte ich durch! Ich naschte das Blut eines wildfremden Menschen. Mein ganzer Körper zitterte vor Ekel, aber da war eine stärkere Macht, die mich vorantrieb. Der Mann trat einen Schritt vor mir zurück und stolperte. Das war meine Gelegenheit – nun fehlte nur noch ein klitzekleines Stück und ich hätte seine Wunde erreicht.
Seine verführerisch duftende Wunde.
Doch ich kam nicht mehr dazu, das zu tun, was ich Abscheuliches vorhatte. Denn wie aus dem Nichts wurde meine Hand von einem weiteren Fremden zurückgerissen, der überraschend neben mir stand.
»Was ist passiert?«, fragte der junge Mann in Lederjacke den Radfahrer forsch, der genauso überrascht über dessen plötzliches Erscheinen war wie ich.
»D-der, der Baum. Der Baum ist umgefallen«, stammelte der Radler und ließ seinen Blick von mir zu dem Fremden und wieder zurück schweifen. »Diese Frau und ich lagen darunter. U-u ... und ich, ich wollte ihr nur helfen. Aber sie ist so, so komisch. Ich denke, sie hat eine Gehirnerschütterung oder einen Schock. Sie braucht Hilfe. Helfen Sie ihr.« Nachdem der Mann aufgehört hatte wild mit der Hand in meine Richtung herumzuwirbeln, erstarrte er erneut und ließ den Blick nicht mehr von dem Mann neben mir ab.
Der Lederjacken-Typ mit dem seltsamen Akzent ließ seinerseits endlich meinen Unterarm los und ging auf den Radfahrer zu.
»Du wirst es nicht glauben, aber du hast der jungen Dame hier eine wichtige Entscheidung abgenommen«, sagte er und erntete verständnislose Blicke. »Du wirst dich jedoch nicht mehr an sie erinnern«, sprach Lederjacken-Man weiter und schaute dem Radler dabei tief in die Augen. Seltsamerweise schien sich dessen Atmung daraufhin sofort zu beruhigen. »Du wirst dich an nichts mehr erinnern können, was in den vergangenen Minuten hier passiert ist. Du warst der Einzige, der von dem Baum erschlagen wurde. Es war niemand hier, als du aufgewacht bist. Jetzt nimm dein Rad und geh zum nächsten Arzt, um dich untersuchen zu lassen. Ab!«
Wie durch Zauberei gewann der Radler wieder an Farbe im Gesicht. Dann stand er beherzt auf, wandte sich von uns ab, nahm wortlos sein Fahrrad und ging unsicheren Schrittes von dannen. Ich dachte, dass ich bereits das Merkwürdigste erlebt hatte, das es gab, aber diese Verwandlung ließ mich daran zweifeln, ob ich mich überhaupt im wachen Zustand befand.
Lange hatte ich allerdings nicht Zeit, über das eben Geschehene nachzudenken. Denn der unbekannte Lederjacken-Typ schnappte mich ohne Vorwarnung und klemmte mich wie eine Schlenkerpuppe unter seinen rechten Arm. Ehe ich mit der Wimper zucken konnte, standen wir hinter einem großen, aber zu dieser Jahreszeit nicht allzu blickdichten Gebüsch. Dieses befindet sich hinter der Turnhalle meiner ehemaligen Schule. Früher habe ich mich dort mit meinen Freunden versteckt und jetzt stand ich völlig perplex neben diesem schwarzhaarigen Kerl, der mich eindringlich musterte.
»Hui, was war das denn?«, fragte ich dann und musste, ohne es überhaupt zu wollen, tierisch anfangen, zu lachen.
Ich wusste gar nicht warum – es passierte einfach. Mich überkam ein sonderbares Gefühl der Euphorie. Ich fing an, ausschweifend über das Blut von dem Radfahrer zu erzählen, obwohl ich mir selbst mehr als bescheuert dabei vorkam.
»Es war lecker«, erzählte ich dem Unbekannten, der mich seltsamerweise eher verständnisvoll als erschrocken anschaute. »Kannst du dir das vorstellen? Ich habe es mit der Hand von meiner Schulter abgewischt und dann daran geleckt.« Ich gestikulierte wild herum und spielte meinen Bericht lebhaft nach. »Ist das nicht schwachsinnig? Sag' mal ehrlich! So was Verrücktes habe ich noch nie erlebt. Ich denke, ich habe ein schweres Schädel-Hirn-Trauma oder so was. Hahaha! Ich meine, Blut. Hörst du? Blut! Ich habe Blut von einem wildfremden Menschen ... Igitt«
Wie auf Knopfdruck änderte sich meine Stimmung aus heiterem Himmel erneut – von euphorisch-heiter, zu total entsetzt und tieftraurig.
»I-ich, habe Blut getrunken«, sagte ich heiser und spürte, wie mir Tränen in die Augen schossen und sich mein Magen zusammenzog. »Ich hätte ihm helfen sollen. Er war verletzt. Aber ich konnte nur an dieses verdammte Blut denken. Ich denke immer noch an sein Blut. Ich will mehr davon, glaube ich. Was ist nur los mit mir?« Ich drehte mich entsetzt von dem Fremden weg und hielt mir die Hand vor den Mund. Dabei bemerkte ich eine weitere Tatsache an mir, die mir Sorgen bereitete. »Was ist das denn jetzt? Warum tut mein Oberkiefer auf einmal so entsetzlich weh? Was passiert hier?«
Ich begann meine Stimmung erneut zu wechseln. Dieses Mal wurde ich panisch. Fast schon hysterisch. Mir lief kalter Schweiß die Stirn herunter und ich hyperventilierte. Der Mann hielt mich an meinen Schultern fest und schien mir etwas erzählen zu wollen, doch ich achtete nicht auf ihn.
»Was ist nur mit mir los? Was ist passiert?«, sagte ich immer wieder zu mir selbst. »Ich habe das Gefühl, ich werde verrückt. Und warum habe ich so einen Hunger? Nach so einem Vorfall. Wie kann ich da Hunger haben? Aber es tut so weh. Alles tut weh. Mein Kiefer, mein Magen. Mein ganzer Körper. Sie müssen einen Arzt holen. Irgendetwas stimmt nicht mit mir«, flehte ich den Unbekannten an, der angesichts meines Nervenzusammenbruchs erstaunlich gelassen blieb. Vor allem, wenn man bedachte, was ich ihm gerade für unfassbares Zeug erzählt habe. Hatte er beruflich mit psychisch auffälligen Menschen zu tun? Komme ich jetzt in eine Anstalt?
Ich versuchte, mich zu beruhigen, und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Dann vernahm ich den Geruch von Blut aus der Jackentasche des Fremden. Oder war auch das nur ein Hirngespinst? Ich traute mir selbst nicht mehr über den Weg. Tatsächlich aber zog er auf einmal einen Blutbeutel hervor und reichte mir diesen. Ich schaute den Kerl verwirrt an und beäugte dann die Blutkonserve, die ich bisher nur aus Krankenhäusern oder vom Blutspenden her kannte. Warum schleppt er so etwas mit sich herum?
»Hier, trink.« Der Mann nickte mir aufmunternd zu. »Das war es, was du gerochen hast und was du brauchst, um deinen Hunger zu stillen. Danach sollte es dir besser gehen.«
»Ist das Blut? Richtiges echtes Blut?«, fragte ich ungläubig, als ich den prall gefüllten Beutel an mich nahm.
»Nun ja, nicht so richtig, wie frisch aus der Ader, aber zum sattwerden reicht es«, sagte der Fremde, aber ich hörte ihm schon gar nicht mehr zu.
Ehe ich realisierte, was ich da gerade tat, hatte ich die Blutkonserve auch schon ausgetrunken.
BLUTKONSERVE – AUSGETRUNKEN!
Obwohl ich mich anschließend wirklich besser fühlte, zumindest was den quälenden Hunger betraf, war ich erschrocken über mich selbst und fühlte mich schlechter als jemals zuvor.
»Verdammt, was mache ich hier? Was soll das alles?«, fragte ich mehr zu mir selbst und starrte ungläubig auf den leeren Blutbeutel.
»Es ist alles in Ordnung«, versuchte der Fremde, mich zu beruhigen, und seine hellblauen Augen schauten mich aufmunternd an.
Aber er sollte keinen Erfolg damit haben. Denn ich fühlte mich mehr von ihm beunruhigt, als von mir selbst und meinen sonderbaren Taten. Mit dem Kerl stimmt irgendetwas nicht.
»Wieso haben Sie eine Blutkonserve in Ihrer Jackentasche? Sind sie Sanitäter?« Ich ging einen Schritt zurück und starrte ihn argwöhnisch an.
»Du stellst ganz schön viele Fragen, Blondie. Aber eines kannst du wissen – den heutigen Tag solltest du dir gut einprägen«, sagte er, packte mich erneut an beiden Schultern und schaute mich sehr ernst an. »Heute ist so etwas wie dein zweiter Geburtstag.«
»Was meinen Sie damit? Sie kennen mich doch überhaupt nicht. Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich los, Sie – sie ...«
»Damon. Mein Name ist Damon, falls es dir hilft«, grummelte er leicht genervt. »Und jetzt komm mit. In diesem Zustand kann ich dich nicht frei herumlaufen lassen.«
Ich strampelte, um mich von ihm loszumachen, doch er griff meinen linken Oberarm und zerrte mich unsanft hinter sich her.
»Was soll denn das? Lass mich los, du Dämon! Ich muss zur Arbeit. Hey!« Mein Protest war jedoch vergebens.
»Ob du es glaubst oder nicht – du bist jetzt eine Gefahr für dich selbst und deine Mitmenschen. Es ist besser, wenn wir dich erstmal unter Beobachtung halten.«
Ich verstand kein Wort von dem, was er da von sich gab. Als er mich weiter die winterkahlen Büsche entlang zog, holte ich mir an einem der Zweige eine große Schramme an der Hand, was nicht gerade zu meiner guten Laune beitrug.
»Autsch! Verdammt noch mal. Pass doch auf!«, fauchte ich ihn an und gab ein fast schon animalisches Knurren von mir.
Doch Damon verdrehte nur kurz die Augen. »Ist gleich wieder weg«, sagte er beiläufig und setzte seinen Weg fort. »Wir müssen uns beeilen, damit wir vor Sonnenaufgang im Haus sind.«
»Was redest du denn da? Wieso Sonnenauf– heiliger Scheiß! Was ist das denn?« Ehe ich weiter schimpfen konnte, bemerkte ich, wie die gerade zugezogene Wunde begann zu heilen.
Nach kurzer Zeit war nichts mehr von der Verletzung zu sehen. Noch nicht einmal eine Narbe. Nichts. Ich wurde immer verwirrter.
»Wie ist das möglich?«, hauchte ich und beäugte meine wundersam gesundete Hand. Damon hatte jedoch keine Zeit für derlei Verzögerungen.
»Das erklären wir dir nachher alles. Jetzt müssen wir schnell sein. Los, stell dich nicht so an.« Damon schien es wirklich eilig zu haben. Während er voraneilte, schaute er immer wieder gen Himmel, um zu sehen, wie weit das Tageslicht vorangeschritten war.
In der Tat begann es langsam hell zu werden. Doch ich hatte noch immer keine Erleuchtung darüber, warum das ein Problem für mich sein sollte. Immerhin konnte man bei dem miesen Wetter nicht einmal von taghell sprechen. Nach wie vor tobte Friederike übers Land und ich müsste längst auf dem Weg ins Rathaus sein, um beim dortigen Pressegespräch teilzunehmen. Stattdessen lief ich den Weg auf der anderen Seite der Häuserzeile wieder zurück. Einem Fremden folgend, der mich mit all diesen verrückten Dingen noch mehr verwirrte, als ich eh schon verwirrt war.
Widerwillig erzählte ich dem Fremden eine Kurzfassung darüber, wer ich überhaupt bin und warum in Gottes Namen ich bei diesem miesen Wetter nicht einfach daheimgeblieben war. Er selbst meinte übrigens, dass er gerade vom Frühstück käme, wobei er das Wort Frühstück ziemlich bizarr betonte. Er ist nicht normal, ganz sicher nicht, war ich mir sicher. Kurz darauf schienen wir unserem oder vielmehr seinem Ziel näher zu kommen und ich konnte kaum glauben, an welchem Gebäude ich eintraf.
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