»ICH KANN NICHT MAL AN BLUT DENKEN, BEI DIESEM GERUCHS-COCKTAIL«

~ 25. Januar 2018 ~

LIEBES TAGEBUCH,

eben kam Stefan in mein Zimmer, als ich gerade anfangen wollte, in dir zu schreiben. Und er hatte erfreuliche Neuigkeiten.

»Du darfst wieder nach Hause, Maria«, sagte er und eigentlich wollte ich ihm gerade vor Freude um den Hals springen, wenn, ja wenn das Wörtchen wenn nicht wäre.

»Allerdings nur, wenn du den heutigen Tag ohne Zwischenfälle überstehst.«

Ehe ich fragen konnte, was Stefan damit meinte, stand Damon in der Tür, grinste schief und erzählte von ihrem Plan, mit mir nach Magdeburg, ins Einkaufszentrum zu fahren.

»Wenn du dort niemanden aussaugst, kannst du zurück zu deiner Familie«, erklärte Damon.

Ich war erst einmal sprachlos. Dann aber erkannte ich, dass es eine gute Gelegenheit sein würde zu beweisen, dass ich dem Blutdurst widerstehen konnte. Und nur dann bin ich schließlich keine Gefahr für die Menschen in meiner Umgebung. Also los!

An einem Donnerstag sind die Geschäfte vermutlich nicht ganz so vollgestopft mit Kunden, wie an den Wochenenden, aber dennoch wird es mit Sicherheit genug pulsierende Adern geben, deren Verlockung ich widerstehen muss. Ein guter Ort, um zu beweisen, ob ich wieder auf die Menschheit und somit auf mein altes Leben losgelassen werden kann. Also bis nachher, liebes Tagebuch. Drück mir die Seiten!

»Trink am besten noch mal ordentlich aus der Blutkonserve, bevor wir losfahren«, sagte Damon, als ich die Treppe herunterkam. »Desto weniger Durst du hast, umso einfacher ist es, diesen unter Kontrolle zu halten.«

Man konnte nur hoffen, dass er recht behalten würde. Ich hatte in meiner ersten Woche als Vampir, bis auf die wenigen Tropfen Blut des Radfahrers, ausschließlich aus Konserven getrunken und das sollte auch so bleiben. Nun musste ich mich diesbezüglich beweisen, während meine Familie dachte, ich sei an der Côte d'Azur und würde es mir dort gutgehen lassen.

Die Salvatore-Brüder hatten es sich offenbar tatsächlich zur Lebensaufgabe gemacht, mir bei meinem Gutvampir-Vorhaben zu helfen. Vielleicht, weil sie es selbst nie wirklich geschafft hatten? Sie schienen in ihrer alten Heimat, Mystic Falls so viele negative Dinge erlebt zu haben, dass sie ihre neue Wahlheimat Eichenstedt um jeden Preis von Vorfällen übernatürlichen Ursprungs bewahren möchten. Genau wie ich. Also habe ich mit den beiden wohl tatsächlich die besten Berater an meiner Seite. Im Gegensatz zu diesem Klaus. Aber den sehe ich hoffentlich so schnell nicht wieder.

Dass dieser jedoch noch nicht gesagt hatte, warum er eigentlich hier war, bereitete den Salvatores nach wie vor Kopfzerbrechen. Sie machten sich offenbar ernsthafte Gedanken über die Absichten des Urvampirs. Aber das waren im Moment nicht meine Sorgen. Auf mich wartete eine wichtige Prüfung und hier, mein liebes Tagebuch ist der exklusive Bericht darüber:

Hinter der Villa befand sich eine kleine Garage. Als Damon diese öffnete, erlebte ich erneut eine Überraschung. Ich hatte erwartet, dass sich Vampire alle paar Monate die neuesten Modelle irgendwelcher Luxusmarken zusammenmanipulierten. Aber dem war nicht so. Zum Vorschein kam ein hellblauer Chevrolet Camaro aus den 1960er Jahren.

»Warum hast du denn ein so altes Auto und manipulierst dir keinen neuen Jaguar, Lamborghini oder sonst was?«, fragte ich amüsiert. Damit traf ich offenbar einen wunden Punkt bei Damon.

»Was ist schlecht an meinem Baby?«, fragte er sichtlich betroffen.

»Nein, nichts!«, antwortete ich schnell zur Beschwichtigung.

»Das ist ein gutes Auto«, fügte Damon voller Stolz hinzu. »Wegen der fehlenden Kopfstützen brauchst du dir als Vampir auch keine Sorgen zu machen. Brichst du dir bei einem scharfen Bremsmanöver das Genick, wächst es wieder zusammen. Und was die Stoßdämpfer betrifft, nun, die könnte ich vielleicht wirklich mal auswechseln lassen. Aber auch um Reiseübelkeit brauchen sich Vampire nicht zu sorgen. Also, meine Freunde. Einsteigen und Anschnallen nicht vergessen!«

Damon grinste breit und öffnete seine Beifahrertür. Ich krabbelte mühsam auf die Rückbank. Alte Autos haben durchaus ihren Charme. Allerdings nicht für die hinteren Beifahrer. Da hatte sich in puncto Komfort in den letzten Jahrzehnten doch einiges zum Positiven entwickelt. Und was die Reiseübelkeit betraf – nun, auch als Vampir war die Fahrt nach Magdeburg alles andere als vergnüglich.

Aber die beiden Blutsauger vor mir versuchten, mich bei Laune zu halten. Immer wieder wollten sie mich in einen Smalltalk verwickeln.

»Maria, was war das Böseste, was du als Mensch jemals getan hast?«, wollte Damon wissen und ich konnte im Rückspiegel seine Vorfreude auf die Antwort erkennen.

»Nichts. Ich habe niemals etwas Böses getan«, antwortete ich jedoch entsetzt über diese Frage und enttäuschte Damons Erwartungen.

»Ach, komm schon! Jeder hat doch schon mal Bockmist gebaut.« Damon ließ nicht locker, während Stefan darüber nur schmunzeln konnte.

»Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich habe als Kind Käfer in Plastikgefäße gesperrt, um sie zu beobachten. Sie sind früher oder später leider alle gestorben. Das war nicht nett. Aber sie hatten Namen altägyptischer Herrscher!«, berichtete ich stolz.

Nun lachten beide Vampire.

»So versuchst du also, deine Untaten reinzuwaschen? Du verkleidest sie im Deckmantel antiker Königsnamen. Interessant«, sagte Stefan und Damon verzog verständnislos das Gesicht.

Ich versuchte, die Brüder davon zu überzeugen, dass das Vampirwerden das Spannendste und Düsterste meines bisherigen Lebens sei. Irgendwann hörten sie auf, Fragen über mich zu stellen. Stattdessen war ich an der Reihe sie noch ein wenig auszuquetschen.

Dabei erfuhr ich mehr über Mystic Falls. Dem Ort, an dem Stefan und Damon zu Vampiren wurden. 1864 war das. Im Jahr 2009 kehrten sie dorthin zurück und begegneten Elena Gilbert – dem Mädchen, das genauso aussah wie die Vampirin, die die Brüder damals erst um den Finger gewickelt und dann in Blutsauger verwandelt hatte – Katherine Pierce, oder Katerina Petrova, wie sie wohl früher einmal hieß. Pikant war zu erfahren, dass Stefan zuerst mit Elena zusammen war. Dann wurde sie allerdings ebenfalls zu einem Vampir und verliebte sich in Damon.

»Nein, das war sie schon vorher!«, protestierte Damon, als Stefan die Geschichte erzählte. »Sie konnte es nur besser akzeptieren, als sie dann selbst zu einem solchen Monster wurde, wie ich es nun einmal war.«

»Vergiss dabei nicht, die Erschaffungsbindung zu erwähnen«, ermahnte Stefan daraufhin seinen Bruder.

»Die hat nichts mit den Gefühlen zu tun, Bruder. Das wissen wir doch.« Da war es wieder, dieses komische Wort – Erschaffungsbindung.

»Was genau ist diese Erschaffungsbindung?«, wollte ich daraufhin wissen.

Ich erfuhr dann, dass es in sehr seltenen Fällen dazu kommen konnte, dass ein Vampir sich seinem Erschaffer so verbunden fühlt, dass er alles für diesen tut, was er sagt, nur, um ihn glücklich zu machen. Das klingt wirklich verrückt, nicht wahr? Als ich einen Augenblick lang darüber nachdachte, kam mir ein fürchterlicher Gedanke.

»Moment, dieser Klaus ist mein Erschaffer. Ich bin mit seinem Blut im Organismus gestorben und dadurch zum Vampir geworden. Gäbe es diese Erschaffungsbindung bei mir, hätte ich gestern von der Frau getrunken, nur weil Klaus das so gewollt hätte. Verstehe ich das richtig?«, fragte ich vorsichtig nach.

»Absolut richtig, Maria. Du wärst dann so was wie sein Handlanger«, antwortete Stefan.

»Das ist ja gar nicht gruselig.« Mir schauderte es bei dieser Vorstellung. Mein klarer und eigenständiger Verstand war mir glücklicherweise auch als Vampir erhalten geblieben. Nun musste ich ihn nur noch anständig verwenden.

Die restliche Autofahrt über lernte ich noch eine Menge mehr über das verrückte Leben der Salvatore-Brüder. Etwa über die komplizierte Beziehung zwischen Stefan und einer gewissen Caroline Forbes. Caroline wurde durch einen sonderbaren Zauber mit den Hexenbabys einer guten Freundin schwanger, die von ihrem eigenen Zwillingsbruder ermordet wurde. Nun lebt sie in einer fragwürdigen Gemeinschaft mit den Kindern und deren Vater, der zuvor Stefans Geschichtslehrer war. Dagegen war meine Situation ja fast schon ein Sonntagsspaziergang. Ich hörte auch von einem magischen Dornröschenschlaf, in dem Elena sich gerade befinden soll und was die Mutter der Salvatores damit zu tun hatte, die nebenbei bemerkt auch ein Vampir war. So viel Drama!

»In eurer Haut möchte ich wirklich nicht stecken«, fasste ich meine Gedanken zusammen, als mir die Brüder all diese über- und unnatürlichen Geschichten erzählt hatten. Sie warfen sich daraufhin mitleidige Blicke zu und atmeten tief ein.

»Wir hoffen sehr für dich, dass du nicht einmal einen Bruchteil solcher Dinge durchmachen musst«, antwortete Stefan und drehte sich zu mir um.

»Aber mal auf diese Caroline zurückzukommen – heißt das jetzt, Vampire können auf normalem Wege keine Kinder bekommen, oder gibt es auch schon kleine Mini-Blutsauger?«, fragte ich vorsichtig nach und hatte ein wenig Angst vor der Antwort.

»Falls du in dieser Richtung jemals Pläne hattest, Maria, dann tut es mir leid. Vampire können keine eigenen Kinder bekommen«, antwortete Stefan und ließ den Blick aus dem Autofenster schweifen.

»Schon gut. Kinder sind nicht so mein Fall. Eine Sorge weniger, würde ich mal sagen«, gab ich etwas sarkastisch zur Antwort. »Aber das gilt sicher nicht für jeden Vampir, oder? Einige von euch hätten doch sicher gern eine Familie gegründet?«

»Du wirst es nicht glauben, aber eine Vampirfamilie gibt es tatsächlich«, sagte Damon und es war nicht zu überhören, an wen er dabei dachte.

»Ja, die Mikaelsons. Aber das sind doch alles Geschwister, die erst später verwandelt worden, habt ihr gesagt«, antwortete ich im Glauben zu wissen, was er meinte.

»Tatsächlich ist dein heldenhafter Erschaffer, Klaus Mikaelson der einzige Vampir, der Kinder zeugen kann. Ich weiß, eine abartige Vorstellung.« Damon spielte Übelkeit vor. »Aus irgendeinem Grund hat er es geschafft, eine Tochter in die Welt zu setzen«, fuhr er fort und schüttelte sich.

»Die Kleine heißt Hope«, ergänzte Stefan und klang dabei schon eher, wie jemand, der über ein kleines Kind sprach. »Sie müsste jetzt fünf oder sechs Jahre alt sein. Aber sie ist noch kein Vampir. Durch das Vampirblut ihres Vaters im Körper, würde sie allerdings zu einem werden, wenn sie sterben sollte. Ich weiß, das ist alles ganz schön viel an Informationen«, sagte Stefan und beendete damit das Thema.

Ich grübelte noch eine Weile im Stillen, über all das eben Gehörte. Wenig später erreichten wir unser Ziel – das große Einkaufscenter im Zentrum von Magdeburg.

Glücklicherweise behielt ich recht mit meiner Vermutung, dass es hier mitten in der Woche und am Mittag noch nicht ganz so überfüllt war. Dennoch waren einige Menschen auf den Beinen und wuselten durch das Gebäude. Für mich war es das erste Mal als Vampir, dass ich mit so vielen Menschen konfrontiert wurde. Ich rief mir immer wieder in Erinnerung, dass Menschen kein Freiwild waren.

Ich möchte ihnen nicht wehtun, ich bin ein guter Vampir.

Zu meiner eigenen Überraschung war es aber nicht der Geruch von Blut, der mir als Erstes entgegenströmte. Vielmehr drangen verschiedene andere Düfte an mein empfindliches Näschen.

»Ich hab nicht gewusst, dass Menschen so viele verschiedene Gerüche absondern«, kommentierte ich meinen ersten Eindruck und rümpfte die Nase.

Was ich roch, war eine illustre Mischung aus Schweiß, billigem Parfüm, Käsefüße und anderen Ausscheidungen verschiedenster Konsistenzen.

»Ich kann nicht mal an Blut denken, bei diesem Geruchs-Cocktail.«

Die Salvatores lachten leise. »Sei froh, dass du nicht vor hundert Jahren verwandelt wurdest, Maria. Da waren noch einige unangenehme Gerüche mehr in der Luft«, sagte Stefan und presste die Lippen aufeinander.

Vermutlich hatte er recht damit. Doch dann erschnüffelte ich einen angenehmen Duft. Ganz in unserer Nähe war ein Bäcker. Und schon hatten die Brüder eine erste Aufgabe für mich parat. Ich sollte zu dem Bäcker hingehen und mir mithilfe von Manipulation ein Brötchen besorgen – so der Plan.

»Das ist Diebstahl. Ich wollte ein guter Vampir werden«, fing ich an zu protestieren. Aber Damon meinte, ich solle es eher als Geschenk betrachten, bei dem ich selbst etwas nachgeholfen hatte.

Also stand als Erstes eine Straftat auf meinem Stundenplan der How-to-become-a-Good-Vampire-School. Wunderbar. Ich fügte mich meinem Schicksal und ging zu der nichtsahnenden Bäckerin.

»Schönen guten Tag«, sagte ich etwas überfreundlich und die Frau lächelte mich an und schaute mir dabei in die Augen.

Diesen Moment nutze ich natürlich und blickte wiederum ihr tief in die Augen. Sie starrte wie versteinert zurück und ich konnte mit der Manipulation beginnen.

»Ich hätte gerne ein Brötchen. Aber ich werde nichts dafür zahlen. Geben Sie es mir bitte einfach und dann vergessen Sie, dass ich hier war.«

Es funktionierte! Es war zwar eine kleine Gaunerei, dennoch freute ich mich über diesen erneuten Erfolg als Vampir. Die Bäckerin gab mir lächelnd das Brötchen und im nächsten Augenblick wandte sie sich von mir ab, als ob ich nicht da bin und auch nie da war. Faszinierend. Stolz wie Oskar und mit meinem ersten selbstmanipulierten Brötchen in der Hand, kehrte ich zu Stefan und Damon zurück. Sie waren sichtlich stolz auf ihre kleine Schülerin. Dann setzten wir unseren Weg fort.

»Übertreib es aber nicht mit der Manipulation von Verkäufern. Irgendwann fällt es doch mal jemanden auf. Wie immer kommt es auch hier auf die Dosierung an«, riet mir Stefan.

Es seien heutzutage überall Überwachungskameras in den Geschäften und sollte jemand etwas darauf sehen, was er sich nicht erklären konnte, kann es wohl schnell unangenehm werden.

»Wir sollten so unscheinbar wie möglich agieren, um keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Diskretion ist sehr wichtig für ordentliche Vampire«, fuhr Stefan fort.

Ich überlegte dennoch, ob man Verkäuferinnen im Bekleidungsgeschäft nicht wenigstens manipulieren konnte, die Wahrheit darüber zu sagen, ob einem das Kleid oder die Hose wirklich steht oder nicht. Dann fiel mir jedoch ein, dass mir schon immer egal war, was andere Leute über mich dachten. Wenn mir das Kleid gefällt, dann kaufe ich es, egal, was die Verkäuferin dazu sagt!

Dieser Gedanke führte mich jedoch in eine Richtung, die ich so nicht einschlagen wollte. Denn auf einmal dachte ich daran, dass ich ja auch als Vampir auf die Meinung anderer pfeifen konnte. Warum also auf das hören, was die Salvatore-Brüder zu mir sagten? Ich könnte allein den richten Weg für mich finden und ...

Ich wurde unerwartet aus meinen düsteren Gedanken gerissen, als plötzlich ein Mann schnellen Schrittes an uns vorbeirauschte. Er war beladen mit etlichen schweren Taschen und schien es sehr eilig zu haben. Sein Gesicht war puterrot und durch die Anstrengung quoll seine pulsierende Halsschlagader deutlich hervor. Wie auf Knopfdruck war er wieder da, der Blutdurst. Mit ihm zusammen kam dieses Mal auch die Jagdlust, die durch den schnellen Schritt des vermeintlichen Opfers geweckt wurde. Zu gerne wäre ich ihm hinterhergelaufen, um ihm etwas Blut abzunehmen.

Aber kurz darauf meldete sich mein Gewissen wieder und begann, alle eben aufblitzenden Böser-Vampir-Gedanken zu unterdrücken. Ich erinnerte mich wieder an meine guten Vorsätze und daran, wie sehr sich Stefan und Damon darum bemühten, dass ich es auch schaffte diese umzusetzen. Ich atmete tief ein und aus und mir war es unendlich peinlich, dass ich für einen kurzen Moment dachte, ich würde die Brüder nicht brauchen. Ich brauchte sie nach wie vor. Sie merkten, dass mit mir etwas nicht stimmte, und zogen mich sofort zur Seite, um mich unter Beobachtung zu halten.

»Alles in Ordnung«, beruhigte ich sie. »Es geht wieder. Ich habe es unter Kontrolle.«

Das hatte ich wirklich. Und es fühlte sich gut an. Ich schaffte es tatsächlich, ein positives Vampirerlebnis nach dem anderen zu sammeln. Das gab mir Kraft.

Der restliche Tag im Einkaufszentrum war somit keine Schwierigkeit mehr für mich. Ich fühlte mich wieder wie ein normaler Mensch. Außer, dass ich angesichts meiner Unverwundbarkeit etwas leichtsinnig geworden war und erst mal auf dem Geländer der Rolltreppe herunterrutschte. Unten angekommen habe ich einen kleinen Halbstunt hingelegt und die Leute um mich herum haben entweder entsetzt und erschrocken geguckt oder ablehnend mit dem Kopf geschüttelt. Mir war es egal. Ich war glücklich. Und das ein oder andere Souvenir haben wir dann doch noch zurechtmanipuliert. So verging dieser tolle Tag, ohne Komplikationen und voller schöner Erinnerungen.

Auf dem Weg zurück nach Eichenstedt bekam ich dann das Okay der Salvatores, dass ich am Abend wieder nach Hause dürfe. Diese fantastische Nachricht rundete das heutige Erlebnis noch einmal ab und ich fühlte mich noch besser als zuvor. Ich hatte meine bisher härteste Prüfung mit Bravour bestanden. Ich kann mich zwischen Menschen bewegen, ohne sie auszusaugen. Der erste große Schritt in Richtung guter Vampir war getan.

Am Abend war es dann soweit – meine Vampir-Praktikumswoche bei Damon und Stefan Salvatore war zu Ende. Ich durfte endlich wieder nach Hause. Wie zwei fürsorgliche Großeltern standen die beiden an der Tür ihrer halb verfallenen Villa und schauten mir wehmütig nach, als ich den Heimweg antrat. Sie winkten mir zum Abschied und wiederholten zum einhundertsten Mal, dass ich sie jeder Zeit anrufen könne, wenn ich Fragen oder Probleme hätte.

»Ihr wisst aber schon, dass ich jetzt zu meinen Eltern gehe und ihr nicht meine Eltern seid, die zusehen, wie ich in die fremde weite Welt hinausziehe?«, scherzte ich bei diesem amüsanten Anblick.

»Aber es fühlt sich genauso an«, erwiderte Damon und spielte schmerzhaften Abschiedskummer vor. »Unser kleines Vampirbaby verlässt uns!« Damon legte seine Hand auf Stefans Schulter und witzelte weiter herum. »Wie schnell doch die Kleinen groß werden.«

»Ich wohne nicht weit weg. Wir sehen uns ganz bestimmt wieder. Danke nochmals für eure Hilfe. Passt gut auf euch auf!« Ich winkte zum Abschied und ging endlich wieder in Richtung zuhause.

Ich ging langsamer nach Hause, als ich gedacht hätte. Natürlich freute ich mich, meine Familie wiederzusehen, aber dennoch wusste ich, dass es nicht mehr so sein würde, wie vor meinem Unfall, von dem sich nicht einmal wussten, dass er passiert war.

Kurz bevor ich unsere Eingangstür erreicht hatte, dachte ich noch mal darüber nach, was mir die Salvatores geraten hatten. So sollte ich zum Beispiel sagen, dass ein Taxifahrer meine Koffer bereits gebracht hatte, wenn jemand danach fragen sollte. Damit keine weiteren Fragen gestellt würden, sollte ich meine Familie zusätzlich manipulieren, mir all diese Notlügen anstandslos zu glauben. In Wahrheit hatte ich nie einem Koffer dabei. Damon hatte bei seinem Besuch bei mir zuhause das Nötigste an Klamotten mitgenommen und all das trug ich in meiner kleinen Handtasche. Einige davon hatte ich jedoch heute in Magdeburg durch Manipulation ergattert. Aber das sollte und durfte niemand wissen.

Offiziell kam ich von der französischen Mittelmeerküste zurück. Einzig ein paar Fotos von Freya sollten diese Behauptung stützen. Und auf diesen war ich nicht mal zu sehen. Na ja, es half nichts. Es war zu ihrem und zu meinem Besten. Wenn ich es geschickt anstellte, würde es keine verfänglichen Nachfragen geben.

Ich atmete ein paarmal tief ein und aus, bevor ich die Tür zu meinem alten Leben aufschloss. Meine Familie freute sich, mich zu sehen, wunderte sich aber, warum ich nicht einach reinkam. Ich tat so, als müsste ich noch etwas an meinem Schlüssel herumfummeln, dann sagte mein Papa endlich die erlösenden Worte und ich konnte reingehen. Es war noch nie so nervenaufreibend, die eigenen vier Wände zu betreten! Wie erwartet, waren meine jüngst erlernten Manipulationskünste sofort gefragt. Gleich dreimal musste ich meine erfundene Geschichte erzählen. Danach glaubten sowohl meine Eltern, als auch meine Zwillingsschwester Luisa alles, was ich ihnen über die vergangene Woche erzählte und ich konnte endlich in Ruhe ankommen.

Wir redeten noch ein wenig über das Mittelmeer und darüber, dass es im Januar auch dort recht frisch war. Dem Internet sei Dank, konnte ich mich im Vorfeld über das Klima an der Côte d'Azur schlaumachen. Ich brachte mehrmals mein Bedauern zum Ausdruck, dass 14C° Wassertemperatur leider zu frisch waren, um Schwimmen zu gehen. Doch ich lobte die Gaumenfreuden und die freundlichen Menschen. Ich hatte übrigens, kurz bevor ich gegangen war, noch einmal mit Freya telefoniert und konnte dank ihrer Hilfe ein paar aktuelle Geschichten von der Côte d'Azur erzählen. Am Ende glaubte ich selbst schon fast, was ich da zum Besten gab. Meine Familie hörte interessiert zu und wusste dadurch ein bisschen was, um es bei Nachfragen erzählen zu können. Die Nachbarn sind ja immer so neugierig, fragen aber selten die betroffene Person selbst.

Unsere Mitmenschen waren dann das, worüber wir uns im Anschluss unterhielten. Ich wollte schließlich auf den neuesten Stand gebracht werden, was ich alles in unserem Mietshaus verpasst hatte. Am Ende berichtete Luisa von ihrem Praktikum bei einer regionalen Werbeagentur, die aber leider keinen Ausbildungsplatz zu vergeben hatte. Schließlich behauptete ich, zu müde vom Flug zu sein, um noch länger reden zu können. Meine Eltern nickten verständnisvoll und meine Schwester brachte mich noch in mein Zimmer, knuddelte mich ganz fest und dann gingen alle wieder ihrem gewohnten Tagesgeschäft nach.

Es war schön, aber dennoch seltsam, wieder dort zu sein, wo ich bislang ein ganz normales, menschliches Leben geführt hatte. Wie sollte ich dort wieder anknüpfen, nach all dem, was passiert war? Konnte das wirklich so einfach funktionieren? Eigentlich existierte dieses Leben nicht mehr. Ich war nicht mehr der Mensch, der vor einer Woche diese Wohnung verlassen hatte. Dieser Mensch wurde von einem Baum erschlagen und würde nie wieder kommen. Unter den Ästen hervor, kroch stattdessen eine Kreatur, die nur überleben konnte, indem sie Menschblut trank. Und genau das befand sich neben den Klamotten in meiner Tasche. Ein kleiner Kühlbeutel lag unter meiner Jeans, gefüllt mit Blutkonserven.

Bis jetzt lief alles gut. Die erste große Notlüge wurde mir ohne Weiteres abgekauft und anderen möglichen Problemen war ich mit Manipulation zuvorgekommen. Damit begann es also, das Leben voller Lügen und Halbwahrheiten – mit einer frischen Meeresbrise und kulinarischen Empfehlungen.

Aber was würde in 20 Jahren sein? Wenn alle um mich herum alt sind und ich immer noch aussehe wie ein junger Hüpfer? Wieder einmal begann ich zu realisieren, welche Bürde ich ab dem heutigen Tag zu tragen hatte. Doch ich versuchte, diese Gedanken erst mal weit von mir zu schieben und mich stattdessen über das Wiedersehen mit meiner Familie zu freuen. Stefan und Damon meinten, dass ich gerade in der Anfangszeit so viele positive Gefühle wie möglich sammeln, und in den gewohnten Tagesrhythmus zurückfinden sollte. Das würde helfen, meine Persönlichkeit stabil zu halten. Wollen wir hoffen, dass das funktioniert und ich, die lebende Feldstudie, nicht zu einem anderen Ergebnis komme.

Aber es war trotz allem schön, wieder zuhause und unter normalen Menschen zu sein. Endlich waren die Gesprächsthemen nicht voller Blut, Tod und Angst. Ich erfuhr den neuesten Klatsch aus der Nachbarschaft und was es sonst so Neues in der Welt der Menschen gab. An diesem Abend vergaß ich für einen Augenblick, was ich nun war.

Die Gewissheit holte mich aber schnell wieder ein, als ich allein in meinem Zimmer war. Dann begann wieder das Grübeln. Denn bereits am nächsten Tag wartete die nächste Hürde auf mich, die es zu meistern gab. Eichenstedt.fm.

Denn dann endete mein, durch Damon herbeimanipulierter Spontanurlaub und ich musste auch vor meinen Arbeitskollegen die Fassade aufrechterhalten, dass ich dieselbe Person war, wie vor dem Urlaub.

»In der Redaktion, Ihr städtischer Vampir des Vertrauens«. Das konnte ja heiter werden!

Als ich zum Fenster ging, um die Jalousien herunterzuziehen, dachte ich für einen kurzen Augenblick, ich würde diesen komischen Klaus auf der anderen Straßenseite stehen sehen. Ich zog schnell alles zu und redete mir ein, dass ich mich geirrt hatte. Dennoch lugte ich kurz zwischen den Lamellen hindurch. Da stand niemand. Gott sei Dank! Vielleicht spielt mir der Stress der vergangenen Tage bereits einen Streich. Aber was, wenn nicht? Ich soll mich von ihm fernhalten, sagen die Salvatores. Er sei gefährlicher als alle anderen Vampire, man könne ihm nicht trauen. Wenn er nun tatsächlich finstere Pläne in Eichenstedt schmiedete und ich dabei im Weg war? Waren ich, meine Familie und die Salvatores in Gefahr? Oder die gesamte Stadt Eichenstedt?

Vielleicht bin ich nur paranoid, oder was denkst du, liebes Tagebuch? Ich verdränge derartige Gedanken jetzt ganz schnell wieder und versuche, in meinem Bettchen endlich etwas Ruhe zu finden. Ich bin sicher, dass ich dir schon bald weitere Geschichten aus meinem übernatürlichen Leben berichten kann.

Gute Nacht!

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