»ICH BIN TOT?«

WIR LIEFEN NICHT sehr weit. Kurz nachdem wir den Baumweg, der parallel zu meinem Weg zur Arbeit verläuft, hinter uns gelassen hatten, sagte mein Entführer zu mir, dass das unser Ziel sei, und deutete dabei auf nichts Geringeres als die alte Villa am Eichenstedter Fluss!

Ehe ich etwas fragen konnte, rief Damon jemanden und zeigte mit dem Finger auf meine Wenigkeit, während er nach oben starrte. »Stefan! Wir haben Besuch.«

Ich blickte ebenfalls hoch und erkannte an einem geöffneten Fenster einen weiteren jungen Mann, der emsig vor sich hin werkelte. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

»Ihr seid die beiden verrückten Amerikaner, die diese alte Villa gekauft haben! Diese, ähm, Salvatores, ja? Daher dein englischer Akzent.«

»Jep«, war Damons knappe Antwort. Dann sah er erneut zu seinem Bruder, der offenbar Stefan hieß, herauf. Dieser blickte aus dem Fenster ebenfalls zu uns herab. Es war ein komischer Anblick, nun tatsächlich einen dieser ominösen Bewohner in der baufälligen Villa zu sehen. Bislang war mir nie einer der beiden je begegnet und in dem Zeitungsartikel von damals waren keine Fotos gewesen.

»Seit wann bringst du dein Frühstück mit nach Hause, Damon?«, fragte dieser Stefan und wirkte nicht gerade erfreut über meinen unerwarteten Anblick.

Aber warum Frühstück? Das verwirrte mich natürlich noch zusätzlich. Jedoch unterließ ich es, weitere Fragen zu stellen. Stattdessen stellte mir Damon beim Reingehen eine Frage, die mich noch mehr irritierte.

»Du kennst nicht zufällig eine Hexe?«

»Eine Hexe?«, fragte ich zurück und fühlte mich ein wenig für dumm verkauft. »Nein. Natürlich nicht! Eichenstedt ist zwar in der Nähe des Harzes, aber Hexen gibt es hier trotzdem genauso wenig, wie anderswo auf der Welt.«

Damon lachte nur vor sich hin, während er seine Jacke auszog und mir beiläufig einen Sitzplatz in dem chaotischen Wohnzimmer anbot. »Wir werden sehen«, murmelte er.

In der Villa war alles noch im Umbau. Überall lag Werkzeug herum und die Einrichtung war eher sporadisch, ließ aber einen gewissen Sinn für schweres und historisch anmutendes Mobiliar erkennen. Es sah dadurch weitaus wohnlicher aus, als ich es mir vorgestellt hätte. Die beiden schienen bereits einiges an Geld und Arbeit in das alte Gemäuer hineingesteckt zu haben. Dann hörte ich Schritte aus Richtung der Holztreppe, die neben einer offenen Küche lag, an der das Wohnzimmer angrenzte.

Der Bruder von Damon, Stefan Salvatore, kam herunter und schaute mich nach wie vor genervt an. Er hatte allerhand Werkzeug an seinem Gürtel und wischte sich gerade die schmutzigen Hände an einem kleinen karierten Frotteehandtuch sauber.

»Damon, wer ist das? Was macht sie hier?«, fragte er seinen Bruder und warf sich das schmuddelige Handtuch über die linke Schulter.

»Letzteres würde ich so langsam auch gerne mal wissen«, fügte ich hinzu und schaute Damon genauso erwartungsvoll an, wie dessen Bruder es tat.

»Gestatten, Maria Simoni. Angehende Radiotante und auf ewig 19 Jahre jung. Sie ist eine von uns«, antwortete Damon Salvatore eher nebenbei und mit gleichgültigem Unterton.

»Sie/Ich ist/bin WAS?!« Stefan und ich reagierten beide zeitgleich und gleichermaßen entsetzt und verwundert auf Damons kryptische Aussage.

»Sie ist ein Vampir?«, hakte Stefan dann noch mal nach und musterte mich ungläubig, als würde er nach einem sichtbaren Beweis für Damons Behauptung suchen.

Normalerweise hätte ich auf das Wort Vampir mit ungläubigem Entsetzen reagieren müssen - oder lachen. Aber beides tat ich nicht. Vielmehr verfiel ich in eine Art Schockstarre.

Vampir.

Blut.

Ich hatte Blut getrunken.

Vampire trinken Blut.

Alles, was passiert war, nachdem ich unter dem Baum erwacht bin, lief nun vor meinem geistigen Auge noch einmal ab. Die Bilder meiner im Blut des Radfahrers getränkten Hand, der Geschmack seines Blutes und letztlich die Blutkonserve, die ich in einem Zug leer getrunken hatte.

Ich hatte mich wirklich benommen, wie ein Vampir. Aber Vampire gibt es nicht! Oder doch?

Ich spürte, wie meine Knie weich wurden, und ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, ohne ein bestimmtes Ziel zu fixieren. Dann sah ich ein mit einer roten Flüssigkeit gefülltes Glas auf dem kleinen Tresen in der Küche stehen. Ich sah es nicht nur, ich konnte es sogar riechen, obwohl es etwa drei Meter von mir entfernt stand. Es roch eindeutig nach Blut. Als ob all meine Sinne auf das Aufspüren von Blut ausgerichtet wären, konnte ich mich nicht mehr davon abwenden.

»Ich bin ein Vampir«, murmelte ich leise vor mich hin, während ich geistesabwesend das Glas mit Blut anstarrte.

»Du bist ein Vampir«, bestätigte mich Damon, als wäre es das Normalste auf der Welt, griff nach dem Glas und trank den roten Lebenssaft genüsslich aus.

Mein Magen protestierte hörbar.

»Ab-aber wie? Wieso?«, stammelte ich und schaute nun wieder zu den Brüdern, die stumm nickten und mir eine Mischung aus Mitleid und Gewissheit zuteilwerden ließen.

»Lass es mich so formulieren«, begann Damon seinen Erklärungsversuch und trat langsam an mich heran. »Als der Baum auf dich drauf gekracht ist, hat er dich kurzerhand ausgeknockt.« Er zuckte ungerührt mit den Schultern.

»Ich bin tot?«, rief ich entsetzt und spürte wie zum Gegenbeweis mein Herz schneller schlagen.

»Das kann man so oder so sehen. Du hattest anscheinend Vampirblut im Organismus, als du gestorben bist und somit, voilà, bist du zurück ins Leben gerufen worden. Freue dich. Wer war der Vampir, der dir sein Blut gegeben hat?«

Vampirblut im Organismus? Ich hatte keine Ahnung, wovon Damon da sprach. Dann kam Stefan mit ernster Miene auf mich zu.

»Ja, du bist nun ein Vampir, Maria. Aber das bedeutet nicht, dass du Menschen verletzen musst. Wir können uns genauso gut von Blutkonserven ernähren.«

»Oder Eichhörnchen. Kaninchen gehen auch«, warf Damon ein.

»Ja, Tierblut wäre die andere Möglichkeit. Aber es lässt einen Vampir schwächer sein, als Menschenblut«, ergänzte Stefan.

»Ich bin Vegetarierin! Ich tue keiner Fliege was zuleide«, antwortete ich entsetzt. Diese Option kam für mich nicht infrage. »Dann wohl die Konserven. Jeden Tag?«, fragte ich. »Muss ich jeden Tag Blut trinken? Und wie viel? Und warum eigentlich? Warum bin ich ein Vampir, verdammt?«

Wieder sank meine Stimmung in den Keller. Doch dann passierte erneut etwas Seltsames mit mir. Vor meinem geistigen Auge erschienen Bilder. Erinnerungen an den gestrigen Abend, die ich zuvor nicht, oder nicht mehr, gekannt hatte.

»Ein Vampir. Da war ein Vampir. Er hat mich angegriffen!«, sagte ich schockiert.

Damon und Stefan schauten mich interessiert an und warteten gespannt, was ich ihnen berichten würde.

»Er hat mich überfallen und mich gebissen, als ich gerade von Arbeit kam. Vorne beim Merkurfeld«, begann ich zu erklären und wirbelte mit der Hand in der Luft herum. »Er saugte mich aus und mir wurde bereits schwindelig. Doch, wartet! Da war dann noch ein Mann. Er tauchte aus dem Nichts auf und brachte den Angreifer irgendwie zu Fall. Dann biss er sich selbst ins Handgelenk und ließ mich sein Blut trinken. Der Fremde beugte sich zu mir herunter, schaute mich an und sagte, dass ich mich an nichts mehr erinnern solle. Meine Bisswunde heilte kurz darauf und der Fremde verschwand mit dem anderen Vampir in die Nacht. Deswegen saß ich auf einmal am Boden! Ich hatte keine Ahnung, was passiert war.«

Es war komisch, dass ich das alles vorher nicht mehr gewusst haben wollte und fühlte sich an, als würde ich von einem früheren Leben berichten. Stefan und Damon waren ebenso verblüfft über meine Erzählung.

»Also gibt es hier doch noch weitere Vampire«, sagte Stefan zu seinem Bruder und sah über diese Erkenntnis alles andere als erfreut aus.

»Offensichtlich«, antwortete Damon und trat mit ernster Miene an mich heran. »Dem zweiten Vampir kannst du wirklich danken. Er hat dir gleich zweimal das Leben gerettet. Einmal vor dem Angreifer, der dich sicher getötet hätte und einmal vor dem Baum, der dich getötet hat. Wäre das alles nicht passiert, hättest du heute Morgen kein Vampirblut im Organismus gehabt und würdest jetzt nicht vor uns stehen.«

»Aber wer war er, der Vampir, der mich gerettet hat?«, fragte ich.

»Wir wissen es nicht. Wir dachten bis eben, dass wir die einzigen Vampire in der Region sind. Wie es aussieht, ist dem nicht so. Vielleicht war er nur auf der Durchreise.« Damon tat so, als wäre es unbedeutend. Stefan jedoch schien ernsthaft besorgt zu sein.

Ich für meinen Teil hätte dem Kerl gern Danke gesagt. Obwohl - war es wirklich ein Grund zum Dank? Ich war jetzt eine Vampirin. Eine Untote. Eine Blutsaugerin. Ich wurde erneut traurig. Ich konnte diese ganzen Informationen nur sehr schwer verarbeiten. Es war wie ein verrückter Traum, aus dem ich einfach nicht erwachen wollte. Ich fing an zu weinen.

»Als Vampir sind all deine Emotionen verstärkt. Besonders in der Anfangszeit ist es hart diese zu kontrollieren«, sagte Stefan zu mir und legte seine Hand tröstend auf meine Schulter. »Außerdem müssen wir eine Hexe finden.«

»Was habt ihr nur ständig mit eurer Hexe?«, fragte ich verdutzt. »Als hätte ich im Moment nicht ganz andere Sorgen, als Märchenfiguren zu suchen.«

Stefan ging zum Fenster und schob einen der staubigen Vorhänge zur Seite. Ein Sonnenstrahl, der nun aufgegangenen Sonne, gelangte in den Raum und traf mich am Arm.

Nichts passierte.

»Und? Was sollte jetzt damit sein?«, fragte ich daraufhin und hob dabei meine Hand, welche nicht von Klamotten bedeckt war. »Autsch! Was in aller Welt ist das denn?« Plötzlich fing meine Haut an der Stelle, wo das Licht mich berührte, an, fürchterlich zu brennen.

Ich ging schnell aus dem Sonnenstrahl heraus. Kurze Zeit später heilte die Wunde auf ebenso sonderbare Weise, wie zuvor meine Schramme und die Kopfverletzung. Während ich im Schatten wandelte, standen die beiden Vampir-Brüder am geöffneten Fenster und genossen die ersten Strahlen des neuen Tages. Ohne nur eine einzige Brandwunde zu erleiden.

»Wieso passiert euch das nicht? Ist das normal am Anfang?«

Damon grinste und fing an, den monströsen Ring von seinem linken Mittelfinger abzunehmen. Als er das tat, fing auch er an, an den Stellen zu brennen, an denen ein Lichtstrahl ihn berührte. Er huschte schnell in den Schatten und heilte daraufhin ebenfalls.

»Tageslichtringe«, sagte Stefan und hielt seine rechte Hand hoch, an deren Mittelfinger ebenfalls ein solch klobiges Schmuckstück prangte.

»Ein Vampir verbrennt im Sonnenlicht. Es gibt also zwei Möglichkeiten«, begann Damon weiter zu erklären. »Entweder du verlässt das Haus nur noch nachts oder bei sehr schlechtem Wetter oder du kennst eine Hexe, die gewillt ist, dir einen solchen Ring anzufertigen.«

»Und der Ring schützt mich vor dem Verbrennen?« Das ist ja wirklich wie in einem schlechten Märchen!

»Genau. Damit kannst du dich ganz normal auch bei gleißendem Hochsommer-Sonnenschein draußen aufhalten.« Damon nickte erneut so gleichgültig, als würden wir uns übers Brötchenbacken unterhalten.

»Und wo finde ich jetzt eine Hexe, bitteschön? Sag nicht in einem Pfefferkuchenhaus in Bad Suderode«, wollte ich wissen und verdrehte die Augen.

»Das ist das erste Problem«, antwortete Damon.

»Und was ist das Zweite?«

»Nun, für gewöhnlich sind Hexen nicht gut auf Vampire zu sprechen. Es könnte also schwierig werden, eine Hexe zu finden, die auch dazu bereit ist, für dich einen Tageslichtring zu fertigen. Solche Schmuckstücke funktionieren nur bei demjenigen, für den sie gemacht wurden. Wir können dir unsere nicht leihen oder dir irgendeinen anderen geben. Kurzum - finde eine Hexe, schließe Freundschaft mit ihr und ta-da, dein Leben erhellt sich wieder.« Damon grinste, als er das sagte, als wäre es das Einfachste auf der Welt, auf die Schnelle eine Hexe zu finden und sie zur Freundin zu machen.

»Und was mache ich bis dahin? Ich kann so nicht auf Arbeit gehen und -«

Stefan unterbrach mich. »Allerdings. Du solltest in nächster Zeit besser nirgendwo hingehen.«

»Wie bitte?«

»Frisch nach der Verwandlung sind Vampire unberechenbar«, schilderte Stefan Salvatore den Ernst der Lage. »Du kannst weder deine abnormalen Emotionen und Sinne, noch dein starkes Verlangen nach Blut kontrollieren. Du bist eine tickende Zeitbombe, Maria. Es ist besser, du bleibst zunächst hier bei uns, damit wir dir helfen können, dich in deinem neuen Leben zurechtzufinden.«

Ich war sprachlos. Hatte er gerade tatsächlich gesagt, dass ich aus dieser Bruchbude nicht mehr raus darf, bis ich so einen Ring, beziehungsweise die Kontrolle über mein Vampirdasein hatte? »Das geht doch nicht! Ich muss ins Radio. Wer macht denn dann die Nachrichten und in zwei Wochen kommen neue Praktikanten in den Ferien und überhaupt!«

Aber sie hatten leider recht. Da war noch immer dieser Hunger auf Blut. Nach wie vor verspürte ich diese riesige Leere in meinem Bauch und dann roch ich auf einmal noch mehr Blut - und noch etwas anderes, weniger verlockendes. Beides schien aus dem Kühlschrank zu kommen. Der Blutduft zog mich an, wie Aas eine Fliege und ehe ich es überhaupt merkte, stand ich bereits dort.

»Woah! Wie hab ich das denn gemacht? Wieso bin ich so schnell wie The Flash

»Auch eine der positiven Seiten des Vampirismus. Du bist schneller als jeder andere Mensch. Du kannst besser hören und sehen. Alle Sinne sind verstärkt.« Als Stefan das Stichwort Sehen ansprach, bemerkte ich auf einmal noch etwas.

»Verdammt, du hast recht. Ich kann ja übelst gut gucken! Und das ohne Brille! Hammer.« Erst da bemerkte ich, dass ich alles scharf sah. Schärfer als mit Brille. Ich kramte in meiner Tasche herum, um mein Nasenfahrrad herauszuholen, und setzte es auf. »Au backe. Alles komplett unscharf. Dabei habe ich die noch nicht einmal ein Jahr«, sagte ich schon fast enttäuscht, dass ich künftig auf meine Sehhilfe verzichten konnte. »Aber wie erkläre ich das meinen Mitmenschen?«

»Du hast vielleicht Sorgen.« Damon verdrehte die Augen.

»Na, hör mal. Die kennen mich alle nur mit Brille. Und überhaupt, die wissen gar nicht, wo ich bin, wenn ich einfach hierbleibe. Versteht mich oder versteht mich nicht. Aber ich bin gerade echt ein wenig überfordert mit der ganzen Situation.«

Ich lehnte mich an den Kühlschrank, der weiterhin verführerisch nach Blut roch.

Damon Salvatore kam auf mich zu und schien eine Idee zu haben. »Vampire sind in der Lage die Gedanken von Menschen zu manipulieren.«

Ich wurde hellhörig. »Das hast du vorhin mit dem Radfahrer gemacht?«

»Richtig. Und dein unbekannter Retter hat es gestern mit dir gemacht«, nickte Damon. »Denk dir eine Geschichte aus, wo du die nächste Zeit sein könntest. Ich werde deine Angehörigen aufsuchen und manipulieren, diese Geschichte zu glauben. Und dann gehe ich ins Brillengeschäft und lasse dir Gläser ohne Stärke in deine Brille einbauen, wenn es dich glücklich macht.«

Es machte mich glücklich. Na ja, beruhigte mich zumindest ein wenig. Immerhin war ich auf diese Weise ein paar Probleme losgeworden. Dennoch blieb ein komischer Beigeschmack.

»Also muss ich künftig alle Leute anschwindeln, die mir nahestehen? Ich werde eine ewige Lüge leben.« Ich wurde erneut traurig, versuchte es aber unter Kontrolle zu halten.

»Das ist leider wahr«, stimmte mir Stefan zu und wirkte ebenfalls etwas melancholisch bei diesem Thema. »Du wirst nirgendwo länger als zwanzig Jahre lang leben können. Du wirst dir immer neue Geschichten einfallen lassen müssen, um nicht enttarnt zu werden. Und wenn wir Vampire von ewig sprechen, dann meinen wir auch die Ewigkeit, denn Vampire sind unsterblich.«

Unsterblich.

Eigentlich genau das, was sich die Menschheit schon immer sehnlichst gewünscht hatte. Aber wenn man dann plötzlich und unerwartet damit konfrontiert wird, dann fühlt es sich einfach nur verrückt und unrealistisch an und ganz und gar nicht gut.

»Wie alt seid ihr?«, fragte ich dann und versuchte, die Antwort zu erraten. Die Wahrheit sollte mich mal wieder überraschen.

»Mein Geburtstag ist am 1. November 1846«, antwortete Stefan. »Ich bin also 171 Jahre alt.« Das war mal eine Zahl! So etwas hört man wirklich nicht alle Tage. »Ich wurde verwandelt, als ich siebzehn war. Ich werde somit für immer siebzehn sein.«

Unweigerlich kam mir der berühmte Song von Chris Roberts in den Sinn. Du kannst nicht immer siebzehn sein. Liebling, das kannst du nicht.

»18. Juni 1839. Fünfundzwanzig, beziehungsweise 179 Jahre alt«, unterbrach Damon meine musikalischen Gedanken.

»Ihr wurdet beide im selben Jahr verwandelt«, schlussfolgerte ich. »Wie?«

Die Brüder sahen sich auf eine Weise an, als wäre ihnen das Thema unangenehm oder würde bittere Erinnerungen wecken.

»1864. Ja. Es war, es war eine lange Geschichte«, sagte schließlich Stefan und atmete schwer aus.

»Wir erzählen dir ein anderes Mal davon«, ergänzte Damon und bemühte sich um ein schiefes Lächeln.

Ich nickte. Am ersten Tag unseres Kennenlernens wollte ich meine beiden neuen Freunde oder was auch immer sie jetzt für mich waren, natürlich nicht gleich mit unangenehmen Fragen löchern.

Jedoch dachte ich an meinen tollkühnen Wunsch zurück, den ich damals in mein Tagebuch geschrieben hatte: Ich würde zu gerne einmal jemanden aus der Vergangenheit treffen, der mir aus erster Hand alles über diese früheren Zeiten erzählen kann. Manche Wünsche bleiben doch lieber unerfüllt.

»Du kannst dir übrigens eine Blutkonserve herausnehmen«, meinte Damon anschließend, als er bemerkte, dass meine Gedanken immer wieder um dem Kühlschrank kreisten.

Als ich diesen öffnete, fand ich tatsächlich haufenweise Blutbeutel verschiedenster Blutgruppen darin. Außerdem noch ein paar normalmenschliche Dinge. Sogar Knoblauch war zu finden.

»Igitt! Das hat hier so komisch gerochen. Ich denke, ihr seid Vampire? Wieso um alles in der Welt wollt ihr dann welche verjagen?« Ich rümpfte die Nase und schloss den Kühlschrank ganz schnell wieder.

»Dieser alte Hut mit dem Knoblauch ist nur eine Legende«, antwortete Stefan lachend. »Wir haben italienische Wurzeln. Ich koche häufig mit Knoblauch.«

»Für mich dann bitte ohne. Bei mir stimmen die Legenden nämlich. Auch schon bevor ich zum Vampir wurde und das, obwohl mein Opa auch aus Italien stammt.« Dann betrachtete ich die glatte metallische Oberfläche des Kühlschranks und konnte unsere Spiegelbilder darin erkennen. »Wie ich sehe, sind die Geschichten über das fehlende Spiegelbild auch Unsinn, was?«

»Absolut. Stell dir das Drama vor, wenn Stefan morgens nicht mehr in den Spiegel gucken könnte, um seine Heldenfrisur zu stylen«, antwortete Damon und versuchte seinem jüngeren Bruder durch dessen Haare zu wuscheln. Stefan duckte sich aber rechtzeitig, um dies zu verhindern.

»Ihr seid ja echt putzig«, sagte ich daraufhin amüsiert. »Dass Vampire düstere Monster sind, habt ihr damit auch widerlegt.«

»Lass dich nur nicht täuschen«, erwiderte Damon mit erhobenem Zeigefinger. »Vor dir stehen zwei waschechte Massenmörder. Stefan nannte man einst den Ripper von Monterey.«

»Damon, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt«, fuhr ihn Stefan daraufhin an.

»Schon gut«, beruhigte ich ihn. »Ich denke, es war auch für euch nicht immer einfach, dem Blutdurst zu widerstehen. Vor allem in Zeiten, in denen es noch keine Blutkonserven gab. Habt ihr die eigentlich aus dem Krankenhaus gestohlen?«

»Klar«, war Damons knappe Antwort. »Man sollte jedem Blutspender einen Orden verleihen. Bis auf Stefan greift jeder halbwegs vernünftige Vampir auf Konserven zurück. Nun ja, meistens.« Er zwinkerte mir frech zu.

»Und Stefan nicht?«, fragte ich verwirrt.

»Stefan hat derzeit mal wieder dem Menschenblut abgeschworen und widmet sich dem Jagen von Eichhörnchen und anderem Getier.«

»Oh, fein. Die armen kleinen Dinger. Aber vermutlich besser, als Menschen, was?« Der Vegetarier in mir konnte sich einen vorwurfsvollen Blick in Richtung Stefan nicht verkneifen.

»Du solltest froh darüber sein, glaub mir«, sagte Stefan.

Ich verstand zwar nicht genau warum, aber konnte mir vorstellen, dass es etwas mit seiner Vergangenheit zu tun hatte, über die er noch nicht sprechen wollte. Also nickte ich nur stumm und trank aus meinem Blutbeutel. Anschließend war ich satt und fühlte mich - Achtung, mieser Wortwitz! - total erschlagen von all den sonderbaren Erlebnissen der letzten Minuten. Ich bat also darum, mich etwas zurückziehen zu dürfen.

»Und eine Dusche bräuchte ich auch. Ich bin noch voller Blut. Der verdammte Baum muss mich echt voll erwischt haben. Und mein schöner Mantel ist ruiniert, och, menno.«

Stefan geleitete mich ins obere Stockwerk, wo ein spartanisch eingerichtetes Badezimmer und ein kleines Gästezimmer lagen.

»Es ist noch keine Luxusherberge, aber ich hoffe, du fühlst dich trotzdem einigermaßen wohl«, sagte er.

»Passt schon. Jetzt als Vampir können mir ja selbst Schimmelsporen und Hausstaubmilben nichts mehr anhaben. Apropos, mir fällt da etwas ein.« Als ich an meine Allergien dachte, die ja nun ebenfalls Geschichte waren, fiel mir auch gleich ein Alibi ein, mit dem ich mein plötzliches Verschwinden rechtfertigen konnte.

»Sag Damon, er soll meiner Familie und meinen Arbeitskollegen erzählen, dass ich zur Kur bin. Irgendwo an der Küste, weil die Luft gut gegen meine Allergie ist. Das sollte einigermaßen plausibel klingen, denke ich.«

Stefan nickte. »Wenn du noch etwas brauchst, dann sag Bescheid«, sagte er schließlich. Dann gab ich ihm meine Adresse und er ging wieder herunter.

Ich blieb allein zurück. In einem Haus, an dem ich viele Jahre meines Lebens täglich vorbeigegangen war. Nie hätte ich gedacht, dass es einmal ein wichtiger Bestandteil meines Lebens werden sollte, oder dessen, was davon übrig geblieben ist. Ich legte mich also aufs Bett und starrte zu den verschlossenen Rollläden, die das Sonnenlicht aussperrten. Gut, viel Sonne schien an diesem stürmischen Tag eh nicht, aber es hätte gereicht, um aus mir ein Häufchen Vampirasche zu machen. Es war wirklich schwer zu begreifen, dass sich dieser Umstand wohl in nächster Zeit nicht ändern würde. Ein Leben ohne Tageslicht. Wie schrecklich. Und ich hatte keine Ahnung, wie man daran schnell etwas ändern könnte.

Während ich versuchte, meine wirren Gedanken zu ordnen, stellte ich fest, dass die Sache mit dem verbesserten Gehör tatsächlich der Wahrheit entsprach. Der Lärm, den der Sturm machte, war unerträglich laut. Und es hörte nicht auf. Ich warf die Bettdecke über meinen Kopf und fing erneut an zu weinen.

Wie sollte es jetzt nur weitergehen?

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