♪ Kapitel 3 ♪





Zum Glück nahm Ismar ihn mit. Jetz auch noch Geld für den Transport ausgeben zu müssen wäre ungünstig gewesen.

„Ich muss sowieso zum Hauptbahnhof, irgend ein reicher Schnösel aus der Klinik. Dir machts doch nichts aus eine kleine Runde zu drehen?" Der Text ploppte auf dem Display an seinem Handgelenk auf.

Wer mitfahren würde und wie lange die Fahrt sich zog war Quentin reichlich egal. Er wollte schließlich bloß zum Pfandhaus, seinen ehemals wichtigsten Besitz für die nächste Miete verpfänden. Dieser Weg wäre ohnehin der längste seines Monats. Schon jetzt zog sich die Zeit. Jede Sekunde unangenehm möglichkeitenbelastet. Er konnte noch immer umdrehen, es sich anders überlegen oder einfach nicht das Haus verlassen.

Es hätte mit Sicherheit andere Möglichkeiten gegeben, aber er konnte das kostbare Stück Holz, dass ihm wenn er es anfasste immer noch suggerierte, er würde die Töne hören können, wenn er sich nur traute an den Seiten zu ziehen, einfach nicht mehr ansehen.

Seine Gitarre war Teil seines alten Lebens gewesen. Sein altes Leben war vorbei. Er musste neu anfangen, auch wenn alles in ihm schrie, dass er noch nicht bereit war. Ihm war jedoch klar, dass man vermutlich niemals wirklich bereit war, die Liebe seines Lebens einfach aufzugeben, gehen zu lassen.

Aber so war es nun mal, die Musik war aus seinem Leben gestrichen worden und würde nicht wieder kommen, da konnte er noch so viel hineininvestiert haben. Sie war weg.

Alle Geräusche waren weg.

„Kein Thema", schrieb er zurück. Schon lange hatte er die Gegend nicht mehr gesehen. Sagte man nicht, dass die Farbe Grün einem guttun sollte. Irgendwelche Urinstinkte oder derartiges, die Augen entspannen. Schnaubend hob sich sein Mundwinkel, versuchen konnte man es ja mal.

Es tat fast körperlich weh, den dünneren Reisekoffer der Gitarre am Reisverschluss zu schließen. Seine Finger berührten jeden Einzelnen Noppen. Eine stumme Entschuldigung lag auf seinen Lippen.

Es ging einfach nicht anders.

Er hielt es nicht mehr aus.

Es tat einfach zu weh.

Die Frage stellte sich ihm, was mehr weh tuen würde, sein Versagen und seinen Verlust täglich vor sich zu sehen oder durch die Abwesenheit der Gitarre seine vollständige Kapitulation ins Gedächtnis gerufen zu bekommen.

Gut, dass der Boxsack auf ihn wartete. Leider konnte er diesen Monat wohl nicht im Studio gegen Ismar kämpfen, aber immerhin zu Hause allein ein bisschen die Gedanken zum Schweigen bringen.

Er hatte nie etwas aufgegeben, hatte sich immer, wortwörtlich und im übertragenen Sinne, durchgeboxt. Ganz besonders, wenn es die Musik betraf. Kein Sekunde war ihm je der Gedanke ans Aufgeben gekommen, die Möglichkeit bestand einfach nicht. Im derzeitigen Fall jedoch, hatte er nicht einmal die Chance auf einen Kampf gehabt. Die Ärzte hatten ihn aufgegeben, seine auditiven Zentren am Hinterkopf waren vollständig durchtrennt, keine Chance auf Reparatur. Heilung ausgeschlossen

Es war nicht fair.

Er war 29 und alles was er je gewollt hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Zu einem Zeitpunkt, an dem alle anderen die Grundalgen ihres soliden Lebens schafften. Stand er kurz davor sein altes Leben für einen weiteren Monat der Verleugnung zu verpfänden.

Das Wissen nagte an ihm, während er sich die Stief band.

Seine schwere Lederjacke gab ein angenehmes Gewicht auf seine Schultern. Wie sie häufig vorher schlang er sich in einer fließenden Bewegung die Gitarre über die Schultern und verließ die Wohnung. Er hatte die Bewegung bereits tausende male ausgeführt und es war seltsam, dass es nun eins der letzten Male gewesen sein würde.

Vor dem Haus, kramte er sein halb zerdrücktes Zigarettenpäckchen aus der Jackentasche und zündete sich eine beruhigende Stange an.

Ich sollte aufhören zu rauchen, dachte er wie ständig ohne wirklichen Umsetzungswillen.

Nass fegte ihm leichter Nieselregen entgegen und er zog sich weiter unter das kleine Vordach des Mehrfamilienhauses zurück. Es war Herbst geworden. An manchen Tagen noch schwül warm vom Sommer, an anderen schon deutliche Anzeichen des nahenden Winters. Graue Wolken hingen tief über der Stadt.

Quentin wohnte in einem der geschäftigeren Viertel der Stadt, nahe des Theaters. Nur ein kurzer Fußweg zum Arbeitsplatz, bei schlechtem Wetter, konnte er in fünf Minuten mit dem Rad dort sein. So der ursprüngliche, grundsolide Plan.

In den letzten sechs Monaten hatte er sich nicht mehr auch nur in die Nähe des Angestellteneingangs, auf der Rückseite des Gebäudes verirrt.

Wie oft hatte er mit Kollegen im danebenliegenden Restaurant nach einer Spielzeit den Abend ausklinge lassen. Ständig hatten sie gemutmaßt was das mittlerweile stellenweise übermalte Graffiti wohl darstellen sollte.

„Das ist einfach Kunst, das muss man nicht verstehen", war der allgemeine Konsens gewesen.

So pompös und modern die offizielle Seite des Theaters und dessen Eingangsbereich auch aufgebaut war, umso abgewrackter und lebendiger wirkte die hintere Seite. Allein mit dem umrunden einer Ecke wechselte man die Altersgruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Manuskripten und Kostümen in den Händen zu Mittfünfzigern in ihren teuren Pelzen. Hocherhobene Nasen, die auf die kreativen Köpfe herabblickten und sich für erlesene Kenner mit kulturellem Interesse hielten.

Doch die Kultur fand im Inneren, im Bauch des dreistöckigen Monsters statt. Kleinere Improvisationstheatergruppen, denen er manchmal Montag Abends beigewohnt hatte. Tanz und Orchesterproben. Castings für Schülerstatisten, die nur für eine bestimmte Spielzeit eines Stücks gebraucht wurden. Maske- und Kostümdesign und zwischendrin viele herumwirbelnde Menschen, die auf ihre drei Minuten Ruhm hin fieberten.

Am liebsten hatte er die Dernièren, die letzten Aufführungen der Stücke, an welchen kleinere Streiche im Stück gespielt worden, die meist nur die Crew erkannte. Wenn ein Hauptdarsteller anstatt einer schwarz weiß gestreiften eine pink-glitzernde Hose trug oder die Musiker anstelle der üblichen Musik eine verlangsamte Version von „Mein kleiner grüner Kaktus" anstimmten, ging jeder mit einem Schmunzeln aus dem Saal. Egal, wie griesgrämig er ihn betreten hatte. An die besten Einfälle wurde sich noch lange erinnert. Jeder gab im Kollegium damit an, bei welchem grandiosen Einfall er mitgewirkt hatte.

Doch die Geschichten gehörten der Vergangenheit an und würden auch dort bleiben. In der kleinen Kiste mit seinem Lächeln.

Müde glomm seine Zigarette zu Ende. Die Reste schnippte er zielsicher in den Gullideckel neben seinen Füßen. Gegen den Wind kontrollierte er ob sein Kragen aufgestellt war, doch die kalte Luft fegte trotzdem um seinen Hals. Mehrere Autos rauschten verschwommen vor seinen Augen vorbei. Die üblichen Grau und Schwarz Töne gingen in einander über.

Obwohl er in einer Seitenstraße wohnte, war heute ein reger Betrieb. Quentin vergrub seine langsam kalt werdenden Hände tief in den Taschen seiner Jacke und bemühte sich mit seinem breiten Rücken die Gitarre vor dem Wasser zu schützen. Es war Gewohnheit sich selbst vor das Instrument zu werfen, damit es möglichst keine Umwelteinflüsse abbekam und sich womöglich verzog.

Über den Dächern der Häuser segelten bunte Blätter zu Boden. Flecken an Farbe vor dem Grau der Küstenstadt. Ständiger Wind und Seeklima, aber Vic hatte sich in die kleine Stadt an der Küste verliebt und somit waren sie vom behüteten Festland hier hin gezogen. Ganze drei Städte und dutzende kleine Dörfchen war das, was man hier Zivilisation nannte. Innerhalb von einem Tag konnte man die Erhebung oberhalb der Meereslinie einmal umrunden. Nicht, dass seine Heimat, bedeutend viel größer gewesen wäre im Vergleich zu den Landmassen der Kontinennte. Klein war angenehm, überschaubar, romantisch.

Metropolen waren nicht sein Metier, lieber die knapp 100.000 Einwohner von Costridge. Bei gutem Wetter konnte man von der Nordseite der Insel das Festland sehen, doch meistens kam man sich hier vor, als wäre man allein auf der Welt. Nicht das Schlechteste, wenn man die Nachrichten bedachte.

Zwischen all den dunklen Autos blitzte es gelb auf.

Ismars Taxi war immer schnell und gut erkennbar. Gemächlich rollte es mit zwei Reifen auf den Bürgersteig und blieb vor ihm stehen.

Quentin schlug mit Ismar ein als er gegen den Regen blinzelnd ausstieg.

„Hey", grüßte dieser. Er bewegte die Lippen extra langsam und groß, auch, wenn sie viel gemeinsam und Quentin alleine mit Untertiteln bei Filmen, geübt hatten und sein Lippenlesen mittlerweile sehr gut funktionierte.

Er wank nur.

Verstehen ja, kommunizieren nein.

Schließlich konnte er selbst nicht lesen was über seine Lippen kam und bevor er sich als stotternder Gollum mit Halsschmerzen outete, war er lieber der schweigsame Bär. Seine langen Haare und breiten Schultern halfen dabei sehr gut.

Ismar, trug wie üblich einen seiner bunten Turbane.

Heute Sonnenaufgangsorange, das zumindest würde er mit Sicherheit dazu sagen. Ihm war derartiges sehr wichtig, Farben hatten Bedeutung und konnten Beeinflussen, seiner Meinung nach.

Heute wollte er also etwas wie, Neuanfang darstellen. Wie es wohl war mit seinen Augen in den Spiegel zu sehen? Bestimmt schön eine Kultur zum repräsentieren zu haben, wenn es auch nur in Modischen Statements war. Ismar war weitaus weniger konservativ als man auf den ersten Blick vermuten mochte.

Quentin deutete auf den Turban und hielt den Daumen in die Höhe. Ismar öffnete ihm die hintere Tür des Taxis und strahlte. Kurz verneigte er sich aus Dankbarkeit und stieg wieder auf den Fahrersitz. Es war so schön einfach seinem ältesten Freund ein Kompliment zu machen. Vermutlich das weiteste Maß an Freundlichkeit, zu dem er in den letzten Monaten fähig gewesen war, immer hin. Ismar hatte zu ihm gehalten als Vic ging, das würde er ihm nicht vergessen.

Auch, wenn er noch nicht wusste, wie er es ihm vergelten konnte. Früher hätte er ihn zu einem selbstgekochten Curry und Naanbrot eingeladen, aber er hatte so lange nicht wirklich gekocht, dass er sich nicht sicher war, ob es überhaupt noch schmecken würde.

Sein Freund würde sich mit Sicherheit nicht beschweren, aber wenn er es tat wollte er es richtig machen.

Nächsten Monat vielleicht, wenn in seinem Kopf besseres Wetter aufzog.

Sein Fahrer signalisierte, dass sie sich in Bewegung setzen würden und er nickte gen Rückspiegel. Das schmale Band zeigte gerade die braune Augenpartie und die erste Lage der Kopfbedeckung. Ihm wurde aufmunternd zugeblinzelt.

Es erfüllte ihm mit Scham, dass man glaubte ihm sozial unter die Arme greifen zu müssen. Ja, er hatte nicht oft das Haus verlassen, aber er war im Grunde doch immer noch der Alte.

Oder?

Leise Zweifel beschlichen ihn, während er den Kopf gegen die kühle Scheibe lehnte. Seine längeren Kneipenabende und die Tagesausflüge mit Victoria schienen wie die Jugendabenteuer eines anderen Quentin, eines der tatsächlich gesellig war. Freundschaften waren ihm immer zugeflogen, nichts hatte er weniger aushalten können, als an einem Samstagabend zuhause zu sitzen.

Es sei den Vic hatte einen guten Film eingelegt und Wein aufgemacht, diese Abende hatten bereitwillig nur ihnen gehört.

Dennoch, wo waren seine Lachfältchen neben den Augen hin? Wann hatte er den letzten Quizabend im Pub besucht?

Er wusste es nicht mehr.

Er hatte sich hängen lassen. 

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