♪ Kapitel 2 ♪


An seinem Handgelenk vibrierte es. Prickelte gegen seine Haut und stellte die feinen Härchen auf. Es war störend genug, dass er ein Auge öffnete.

Der Wecker klingelte.

In seinem Kopf herrschte weiterhin Stille. Sein oberer Nacken tat noch immer manchmal weh, wenn er zu viel auf dem Rücken lag. Er drehte sich auf den Bauch. Drehte den Kopf zur Seite.

Angestrengt presste sein Atemsystem Luft in seine Lungen, am Gewicht seines schweren Körpers vorbei. Er war immer muskulös gewesen, doch in den letzten Monaten hatte er noch deutlich zugelegt.

Licht fiel durch die länger nicht geputzte Scheibe. Es war Tag.

Ja und ?

Gab es heute einen Grund aufzustehen? Welches Datum war überhaupt?

Missmutig strich er sich die Haare hinters Ohr. Sie waren länger geworden und derzeit leicht fettig. Er musste diesen Monat Wasser sparen. Quentin sah auf den Wecker seiner Uhr.

Ende des Monats.

Ende des sechsten Monats in der Hölle. Fantastisch.

Nicht das der nächste Monat eine Verbesserung in irgendeiner Weise darstellte. Es würde kein Gehalt mehr kommen. Kein Anfang des Monats Gefühl.

Die Kompensationsschecks hatten vor zwei Monaten aufgehört. So war das, wenn man keine Versicherung für körperlicher Unfähigkeit abgeschlossen hatte.

Wer hatte schon sowas?

Er war Sänger verdammt, das war kein körperlicher Job.

Das Ende des Monats bedeutete jedoch tatsächlich etwas. Es bedeutete die nächste Meinte wurde fällig. Seit Victoria ausgezogen war, leistete er sich ihre gemeinsame Wohnung allein, dabei hatten sie sie sich gemeinsam zu ihren guten Zeiten nur leisten können. Beide vollbeschäftigt.

Er war derzeit nicht einmal beschäftigt.

Ohne festes Einkommen.

Jetzt war es schätzungsweise nicht mehr ihre Wohnung, nur noch seine.

Ein Arbeitszimmer, dass er nie benutzt hatte und an dem noch zu viele bunte kleine Erinnerungszettel klebten. Eine Küche, die er nicht mehr benutzte und ein Bad, dem er das Wasser abgedreht hatte, mit einer Eckwanne, die nur Vic praktisch fand. Das Doppelbett, zierte keine lila Decke mehr und er konnte auf der breiten Stoffcouch liegen, wann immer er wollte.

Keine Verbesserung, wenn er ehrlich war. Nicht alle der zusätzlichen Kilo waren Muskeln, so viel konnte kein Mensch boxen, um zu kaschieren, dass er nicht mehr selbst kochte. Nicht so, wie früher zumindest.

Für eine Person ausgefallen kochen war einfach nicht dasselbe. Einkaufen im großen Stil derzeit sowieso undenkbar. Hobby hin oder her. Die kleinen Wandregale mit den bunten Kochbüchern aus aller Welt schienen ihn regelrecht zu verspotten. Die zu Hochglanz polierten Gerichte schauten hochnäsig auf seinen üblichen Teller mit Nudeln in Käsesoße hinab.

Seine Uhr blinkte.

Es war der 31. Er musste die Miete besorgen.

Müde hievte Quentin sich aus dem Bett und schlurfte mit gekrümmten Schultern durch den Flur in das Wohnzimmer, mit offener Küche.

Der an einem der alten Balken befestigte schwarze Boxsack im Wohnzimmer hatte schon bessere Tage gesehen. Seine Armmuskulatur tatsächlich nicht. Es gab nichts anderes gegen die Wut in ihm zu tun. Die äußere Schicht des hängenden Zylinders war an manchen Stellen bereits weicher und dünner geworden. Seine eigene Hülle im Gegensatz dazu umso härter.

Es erfüllte ihn mit perfider Genugtuung zu wissen, dass er, Quentin, das gewesen war. Er der nicht mehr gut genug war, um auf der Theaterbühne aufzutreten, nicht mehr gut genug für seine ehemalige Verlobte. Er war noch zu etwas fähig und wenn es bloß rohe, stumpfe Gewallt war.

Immerhin das.

Verheißungsvoll begrüßte der Sack ihn zum Morgen, doch dafür war er ausnahmsweise nicht aufgestanden. Später würde er schwitzen, bis das Trommeln seiner Fäuste in seinem Kopf widerhallte und er sich fast einbildete, dass es wieder da war. Aber das war es natürlich nicht, egal wie sehr er die grundlegenden Wellen manchmal spürte. Überall, wenn er nur fest genug schlug.

In seinen Füßen, in seinen Händen, in seinen Wangen. Voller leerer Versprechen wanderte es seine Arme hoch, verursachte ihm Gänsehaut.

Es würde auch nicht widerkommen, das hatten ihm die Ärzte nach vier Monaten ohne Verbesserung deutlich zu verstehen gegeben.

Sein Körper funktionierte noch und irgendwie auch nicht.

Seit sie die Scherben aus seinem Schädel gezogen hatten funktionierte ein kleines aber feines Detail nicht mehr. Sein Gehör.

Ohne Gehör kein Gesang und ohne Gesang kein Geld. Es war sehr simpel.

Der beste Vorschlag dieser Quacksalber war es gewesen, dass er eine Logopädin besuchen sollte und einen Psychologen. Glücklich sollte er sein, dass es nur seine Auditive Wahrnehmung getroffen hatte. Zwei Millimeter weiter oben hätte die Scherbe stecken müssen und er wäre auch blind gewesen.

Lieber wäre er blind als taub. Ausgerechnet, dass was er am meisten brauchte, hatte er verloren.

Er war nie zu mehr im Stande gewesen als seiner Musik, hatte nie etwas anderes gewollt und sein Ziel, am Theater angenommen zu werden auch erreicht. Zufriedenheit war kein Wunschtraum gewesen.

Seine Eltern hatten mehrere Termine für ihn gemacht.

Er war nie hingegangen.

Wozu lohnte es sich das Sprechen zu trainieren, wenn niemand ihn erwartete mit dem er sprechen wollte? Seine Freunde aus dem Boxclub und seine Brüder mal außenvor. Mit ihnen konnte er auch so kommunizieren. Sie ersetzten Vic nicht.

Victoria, die immer da gewesen war, seit der Schule, die ihn verstanden hatte, wenn er es selbst nicht tat. Die, die nie Kinder gewollt hatte und jetzt plötzlich schwanger war. Nicht von ihm verstand sich.

Es war zum Schreien.

Mit Vic an seiner Seite, die in der örtlichen Tierarztpraxis gearbeitet hatte, war es kein Problem gewesen ein gutes Leben zu führen.

Vic, die immer zu ihm gehalten hatte.

Seine beste Freundin, die er hatte heiraten, mit der er hatte sein Leben verbringen wollen. Vic mit den Sommersprossen auf der Nase und dem ehrlichsten Mundwerk, dass er kannte.

Vic, die gegangen war.

„Nicht so."

Mehr hatte auf ihrem verdammten Zettel nicht gestanden, obwohl sie sonst nie ein Blatt vor den Mund nahm. Wenn es genügte fünf Worte aufzubringen, verwendete sie 20, rein aus Prinzip.

Anscheinend war er ihr das dann doch nicht mehr wert gewesen. Auch wenn eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf ihm sagte, dass das Bild, was er derzeit abgab nichts wirklich wertvolles war und schon dreimal niemand, der einen Menschen wie Vic verdiente. Vielleicht passte ihr neuer Mann besser zu ihr, vielleicht verdiente er sie sogar. Meistens verdrängte er diesen Gedanken.

Es war einfacher auf die Welt wütend zu sein, denn es war absolut und verdammt unfair, dass ihnen das passiert war. Ein Unfall, ein dummer Unfall. Öl auf der Fahrbahn von einem vorherigen Auto mit undichtem Schlauch. Nicht einmal ihre Schuld. Seine ebenfalls nicht.

So schnell war seine Lebensplanung Vergangenheit, so einfach. Ihm war nie klar gewesen, dass er sich bloß ein Kartenhaus gebaut hatte.

Ein ehemals sehr solides Kartenhaus, wenn man es mal auseinander nahm. Gutes Verhältnis zu seinen Eltern, Freunde, Hobby, hübsche Wohnung, gute Jobs, wenn auch mittelmäßig bezahlt.

Was wollte man mehr.

Sein Blick schweifte durch den Raum und traf seinen ehemals wichtigsten Besitz. Täglich verspottete ihn das wohlgeformte, ehemals sehr teure Stück Holz.

Er hatte sie sich selbst zum Berufseintritt geschenkt.

Vic hatte die Saite gesponsort.

Brav wartete die Gitarre auf ihrem Ständer in der Ecke. Es war eine Schande, dass sich jetzt staub auf ihrem Korpus abzeichnete. Das Tremolo, hatte ebenfalls seinen Glanz verloren.

Täglich starrte er sie an und wurde mit den Minuten die vergingen griesgrämiger.

Es reichte. Es war genug.

Die Gitarre war das Sinnbild dessen was er verloren hatte, wenn er sie noch einen tag länger vor Augen hätte würde er sie aus dem Fenster schmeißen und es vermutlich eine Sekunde später bereuen.

Das Instrument konnte schließlich nichts dafür und war zu hochwertig, um nicht benutzt zu werden.

Trotzdem ertrug er diese Präsenz nicht. Solange sie dort stand und ihn verhöhnte war sein altes Leben noch greifbar. Nur einen Fingerzeig entfernt, aber es würde nicht wieder kommen.

So ging es nicht weiter.

Vielleicht war er noch nicht bereit sich das Arbeitszimmer vorzunehmen, vielleicht untersuchte er diesen vermaledeiten Zettel jeden Abend nach einer versteckten Botschaft, die nie auftauchte. Irgendwann würde das blaue Papier einfach in seinen Händen zerbröseln, wenn er es weiter zwischen den Fingern rieb.

Ihm wurde etwas klar. Er konnte Victorias Entscheidung oder den zustand seines Gehörs nicht ändern, aber das hier, dieses Instrument voller viel zu guter Erinnerungen, daran konnte er etwas ändern.

Das Ding musste verschwinden.

Quentin wusste, wie er die Miete bezahlen würde, auch, wenn er sich dafür selbst erneut das Herz brach.

Viel mehr noch als Vic es je gekonnt hätte. 

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