~ Einfach nur ein blindes Mädchen? ~

Ich stand also da, vor meinem Spiegel, mit einer Reflektion, die ich nie sehen würde.

Mein Spiegel war für mich nichts weiter als eine glatte Oberfläche mit einem seltsamen Namen.

Mehr aus Gewohnheit hatte ich diesen Platz gewählt und weil ich die kalte kühle Oberfläche mochte. Sie fühlte sich angenehm an, wenn man seine Handinnenfläche darauflegte und hatte mich geerdet. Sogar darüber hinaus nur noch einmal darin bestärkt mein Vorhaben umzusetzen.

Mein Vorhaben.

Den elektrischen Rasierer meines Vaters hielt ich noch immer in der rechten Hand. Zum Glück, oder Unglück, wie man's nimmt, legte er ihn immer an die gleiche Stelle. In diesem Haushalt lebte das unbeschwerte Zusammenleben von festen Aufenthaltsregeln für alles. Ich hatte nicht einmal wirklich suchen müssen.

Nur den Aufsatz hatte ich nicht einschätzen können und einfach das genommen was danebengelegen hatte. Die Haare meines Vaters fühlten sich immer aufregend kurz und störrisch an. Kein Haar verrutschte, wenn ich darüberfuhr. Sie legten sich nur kurz um und kitzelten beim Wiederaufstellen zu tausenden gleichzeitig meine Handinnenfläche, wie das Prickeln Tausender Lufbläschen in Wasser mit Kohlensäure.

Wie tausende funkelnde Sterne in meiner Hand.

Das war ein für mich erstrebenswertes Ergebnis gewesen, das war mein Ziel.

Meine Hand hielt das Gerät weiterhin fest. Als würde das etwas ändern, aber ich wusste wohl schlicht weg nichts Besseres mit ihr anzufangen. Schlimmer noch, wenn ich die Finger der Rechten öffnete und den Apparat ablegte, war meine Handlung zu Ende, abgeschlossen, endgültig.

Meine rechte war meine starke Seite, ob ich unbedingt Recht gehandelt hatte, da war ich mir derzeit jedoch nicht mehr so sicher.

Vor wenigen Minuten war das Brummen verstummt. Eine leichte Kühle strich mir über den Schädel, wo vorher noch glatte dicke Haare gewärmt hatten.

Mit meiner linken Hand fuhr ich über die Stoppeln, nahm ganz bewusst wahr. Das Kribbeln von hunderttausenden kleinen Nadeln war mir, jetzt da ich beide Seiten, die empfindende und die berührt werdende, gleichzeitig spürte, fast zu viel auf der Haut. Ich nah war wie die Härchen umgelegt wurden, während ich sie umlegte und sich gleichzeitig andere wieder aufstellten, dieses Sensationschaos überforderte mich ein wenig.

Ich zog die Hand weg, lies sie sinken.

An einigen Stellen waren die Überbleibsel meiner Frisur ungleich lang.

War ja zu erwarten gewesen.

Meine andere Hand weigerte sich weiterhin störrisch den Rasierer loszulassen. Meine Fingerknöchel krampften sich mit Sicherheit weiß um das Plastik.

Langsam floss mein angehaltener Atem in die Stille um mich herum, machte sie weniger erdrückend, eher seidig. So seidig-weich, wie meine Haare es vorher gewesen waren.

Angeblich waren sie blond, was ich nicht sah und mir nichts sagte, mir somit völlig gleichgültig war.

Und schön.

Was ich auch nicht sah und mir somit noch weniger sagte.

Ich konnte Schönheit nur als Gefühl beschreiben, dass sich von knapp unter dem vorletzten Rippenbogen seitlich in die Bauchgegend und dann in den ganzen Körper ausbreitete.

Schönheit machte: WUSCH, wenn ich sie wahrnahm.

Mein Atem floss kalt und weich in die Stille, nur im Hintergrund war das Entfernte Ticken einer Uhr zu vernehmen. Vermutlich die in der Küche.

Wenn es so still war konnte ich Ebenfalls das Geschehen in den Nebenräumen mitverfolgten und musste mich nicht auf die vielen Eindrücke in meiner unmittelbaren Nähe beschränken.

Lange würde es nicht mehr so still und friedlich bleiben, wie es gerade um mich herum war. Lange würde Mum, die mit Sicherheit den Rasierer gehört hatte, nicht mehr auf sich warten lassen.

Sehr gut, dann konnte sie mir gleich beim Begradigen helfen. Nichts konnte ich alleine, naja oder besser gesagt, nur eine begrenzte Anzahl an Tätigkeiten, zu denen die morgendliche Frisur nun auch zählen würde.

Ein kleiner Triumph stieg in mir auf und mein rechter Mundwinkel zog sich nach oben.

Ja, das hier würde mir gefallen, so war es viel praktischer. Außerdem, jeder Schritt, der mir mehr Selbstständigkeit und mehr Möglichkeiten gab, war ein guter Schritt.

Zusätzlich würde mir nun meine Wut darüber, wie schön meine blonden Engelshaare waren und wie hübsch sie doch wieder aussahen, jetzt endgültig erspart bleiben.

Ob ich nicht auch sah, was für ein schöner Mensch ich wahr?

Ähm, naja. Eigentlich nicht.

Im Übertragenen Sinne mochte ich mich sehr und Schönheit hatte für mich wirklich eine nicht oberflächliche Bedeutung, aber die wenigsten Menschen wahren ehrlich genug interessiert, um mich nicht oberflächlich wahrzunehmen.

Schritte ertönten im Flur des ersten Stocks, dann auf der Treppe. Liefen vom ersten Stock nach unten.

Mein Zimmer lag als einziges der Kinderzimmer im Erdgeschoss. Meine Eltern sowie meine zwei jüngeren Geschwister hatten ihre oben.

Sie konnten schließlich die Treppenstufen nehmen und sehen.

Als ob ich das nicht konnte.

Schwachsinn.

Jedes Kind konnte das mit geschlossenen Augen und meine Situation war schließlich nichts anderes, nur dass ich die Augen nicht im Zweifelsfall aufmachen konnte.

Dennoch hatten meine Eltern als sie von meiner nahenden Blindheit erfuhren keine Kosten und Mühen gescheut und das gesamte Kinderzimmer mit dem ehemaligen Arbeitszimmer getauscht.

Bis auf das letzte Plüschtier.

Die Schritte kamen näher, hallten auf unserem alten Eichenparkett, dann auf dem Teppich im Flur. Der Strickteppich verschob sich dumpf beim letzten Schritt darauf und rutsche kratzend auf dem Parkett nach hinten, wie er es immer tat.

Entsetzen und Standpauke incoming in drei, zwei, eins...

Es klopfte an der Tür.

Dreimal, schnell und leicht. Nur die ersten zwei Knöchel der Hand, der Klang war trotzdem angenehm voll.

Mum.

„Alles okay, Schatz? Darf ich reinkommen?" Sie klopfte aus Höflichkeit und aus Privatsphäre Gründen, ich schloss meine Tür nie ab und sie wusste es. Dennoch bot sie mir so viel Freiraum wie möglich und so viel Halt und Unterstützung wie nötig. Ich liebte meine Mutter, zwischen uns gab es keine Geheimnisse.

Außer vielleicht die stetig wachsende Wut und Dunkelheit in mir.

„Ist offen", ich drehte leicht meinen Kopf, damit sie beim Eintreten mein Gesicht von vorne sehen konnte, sie mochte das. Es suggerierte ihr Normalität.

Mir war es völlig egal ob man mir ins Gesicht sah oder nicht.

Etwas Resthaar rieselte von oberhalb meines Ohrs in meinen Nacken, in den Spalt zwischen Hals und Handtuch, dass ich in den Kragen meines Pullis gestopft hatte.

Es kitzelte auf meiner Haut.

Leicht zog sich mein Ohr zur Schulter und diese hoch. Meine Haut zuckte dabei ein wenig.

Die Tür schabte auf dem Holzboden meines Zimmers, weil eine ihrer Ecken etwas zu lang war und Mum trat ein.

Ein Keuchen war ihre unmittelbare Reaktion.

„Was hast du getan?"

Ich zuckte nur die Schulter, immer noch den Rasierer in der Hand. War das nicht offensichtlich?

„Es ist praktischer so. Gibt mir mehr Freiheiten."

Mum schluckte, deutlich vernehmbar. Ich versuchte mir vorzustellen, dass sie eine Hand vor den Mund legte, doch ich konnte nicht sagen, was sie tatsächlich tat. Ich wusste nicht mal, wie es aussehen würde, wenn sie es täte, wusste ja nicht einmal, wie sie aussah. Sondern spürte nur, wie sie nähertrat.

„Darf ich?"

Mir war klar was sie meinte.

Mich berührte man nicht ungefragt, das war einfach nicht fair, ich sah es schließlich nicht kommen und konnte mich sonst nicht auf die Flut an Eindrücken vorbereiten.

„Mhm. Mach nur."

Sachte fuhr sie über meine Stoppeln.

Die Empfindung des Berührt-werdens allein war tatsächlich recht angenehm aufregend. Ich mochte es, wenn man mir über die Haare fuhr. Mum hatte das als ich klein war öfters getan, jetzt unterließen es die meisten mich zu berühren.

„Deine schönen Haare", sie klang ungläubig.

„Ich mochte es nicht, dass sie mir bei Wind immer im Gesicht kitzelten und wie schwer sie mir auf den Rücken fielen. Außerdem..."

Mum horchte auf: „Außerdem was?"

„Nichts vergiss es, der Gedanke war nicht wichtig", die Arme hatte genug um die Ohren mit ihrer fünf-köpfigen Familie, sie musste nichts von meiner Dunkelheit wissen.

Außerdem wusste sie, dass ich schon früher oder später sprach, wenn es wichtig wurde.

„Sie werden ja wieder wachsen, ich wollte es mal so ausprobieren, ob ich damit nun weniger Mühen habe. Du musst mir nicht mehr beim Zopfbinden helfen oder korrigieren, wenn bei meinen Versuchen Strähnen heraushängen. Bei Frisuren, die ich für euch andere trage oder dafür, dass sie einfach weg sind und sie mich nicht nerven, wohlbemerkt. Das hier ist das Selbe, nur dass sie effektiver und längerfristiger „weg" sind."

Sie schien mir zuzustimmen und beschlossen zu haben das Unausweichliche zu akzeptieren. Zu spät war es jetzt sowieso. Mum war schon immer gut im Akzeptieren von unabänderlichen Fakten gewesen. Eine Pragmatikerin.

„Es steht dir weißt du?"

Und eine Optimistin. Ich kurz schnaubend durch die Nase aus.

Mum war das was man als romantisch-optimistische Pragmatikerin bezeichnen konnte.

Dennoch, war das ihr Ernst? Forciert lachte ich.

„Klasse, mir doch egal. Ich sehe es schließlich nicht."

Ich hatte gute und schlechte Tage. An guten fand ich, dass mir nichts fehlte. An schlechten fehlte mir alles und mir war mein vermeintlicher Verlust schmerzlich bewusst. An diesen Tagen wollte ich einfach nur die Augen öffnen und die Welt sehen können, ich wollte wissen was Farben waren oder wie das Lächeln meiner Mum aussah und nicht nur sich anfühlte.

Heute war definitiv einer dieser Tage.

Mum verstand das, sie hielt meine Launen schließlich seit 16 Jahren aus und sie war vermutlich der Grund, warum ich sie hatte. Naja, sie und ihre Liebe für das antike Griechenland, die Philosophen und ungezügelte Temperamente.

Mum hatte meinen Vater auf einem Griechenlandurlaub kennengelernt. Eigentlich hatte sie nur die vielen Sehenswürdigkeiten bewundern wollen. Einmal im Leben auf der Akropolis stehen, das war der Ursprungsplan gewesen.

Sie hatte sich nicht ganz an den Plan gehalten.

Er war der Sohn eines dortigen Werkstadtbesitzers. Bei welchem er, der aus der Art gefallene bleiche und blonde Mika, auch arbeitete.

Bleich, aber dafür nicht weniger heißblütig.

Mums Liebe und Faszination für ein Land und dessen uralte Kultur hatte sich schnell mit einer neuen Liebe für eine Person im Speziellen vermischt.

Es hatte nicht lange bis zur Hochzeit gedauert und schon hatte Anita ihren Mika ins verregnete Städtchen Costridge entführt.

Ebenfalls an einer Küste, jedoch an einer ganz anderen. Dennoch die beiden waren glücklich und das auch noch nach drei Kindern und zwanzig gemeinsamen Jahren.

Jap, meine Familie war exakt so kitschig perfekt, wie sie sich anhörte.

Abgesehen von mir, aber das sprach niemand aus.

Mein Temperament kam nach meinen griechischen Wurzeln, vielleicht behauptete Mum deshalb insgeheim immer, dass ich ihr Liebling sei, wenn wir allein waren.

Jeder wusste das sie log. Mum hatte keine Lieblinge, denn die Zwillinge Jake und Sira kamen so sehr nach ihr, dass sie sie auch nur lieben konnte.

Etwas zupfte an meiner Kopfhaut.

„Ähm...Au?" Was sollte das?

„Bist du dir ganz sicher, dass du das so lassen möchtest?", Anita spielte offensichtlich auf die unterschiedlichen Haarlängen an.

Aber so schnell gab ich nicht klein bei. Selbst, wenn es nur Spaßeshalber war und ich ihr insgeheim Recht gab.

„Na klar, ich hab' das selbst gemacht nur darauf kommt es an. Das ist individuell und hat personality", ich verwendete bewusst Anglizismen, die ich eigentlich sehr nervig fand, denn ich war sehr sicher, dass sie meine Mutter noch mehr störten. Im Übrigen, nahm ich meine Argumentation selbst nicht wirklich ernst und das war offensichtlich.

„Aha nennt man das heute also so."

„Du meinst: Trägt man das heute also so."

Hinter meinem Rücken kicherte es, ja, meine Mutter war die Sorte Frau, die auch in den 50gern noch kichern konnte. Eine weitere ihrer unschlagbaren Eigenschaften.

Sachte löste sie meine Finger einzeln vom glatten Plastikgriff des elektrischen Handrasierers. Endlich ließ ich dieses Ding los.

„Also Liebes, mir ist es im Grunde auch völlig egal ob man das heute so trägt, aber so können wir das nicht lassen."

Spielerisch lenkte ich ein.

„Du hast ja Recht. Außerdem: Ganz oder gar nicht."

Unser semi-geheimes Motto, die Capochès machten nichts halbherzig. Für uns ging es im Zweifel mit dem Kopf durch die Wand und dann Gnade der Wand, die sich uns entgegenstellte. In unserer Familie herrschte die Überzeugung, wenn dein Herz nicht völlig bei der Sache ist, dann lass es und wenn du etwas tust, dann tu es mit allem was du hast.

Die Hochzeit meiner Eltern über kulturelle Grenzen hinweg, war die Krone der Verdeutlichung dieser Einstellung.

„Richtig, ganz oder gar nicht." Ich wusste einfach, dass Mum während sie das aussprach hinter mir nickte. Hörte den leichten Ruck, der durch ihre Kleidung raschelte.

„Machst du es für mich fertig, bitte?", denn sie hätte niemals ohne meine Erlaubnis etwas getan, dass ich nicht nachvollziehen konnte.

„Aber klar Schatz", sachte küsste sie mich auf den Kopf, wie sie es öfters tat, obwohl wir beide der Meinung waren, dass ich theoretisch zu alt dafür war, aber wir genossen es wohl beide noch eine kleine Weile.

Ein völlig neues Gefühl, jetzt, wo keine Haare mehr die Berührung dämpften. Die Weiche Haut ihrer Lippen lag warm und angenehm auf den Stellen meiner Kopfhaut, an denen sie das Haar beseitelegte.

Mum gab mir mit einem leichten Druck an der Schulter zu verstehen, dass sie jetzt beginnen würde. Wir kommunizierten viel über leichte Berührungen.

Ich nickte, stumm.

Der Rasierer begann von Neuem zu summen.


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