2| Congrats

Die Tage fliegen nur so an mir vorbei, denn seit dem Ausflug mit Harry sind bereits wieder zehn Tage vergangen. Nach der Überwindung des anfänglichen Schocks konnten wir mit Günther noch vereinbaren, dass wir die Motorräder kommenden Samstag abholen würden, damit er genügend Zeit hat, alle nochmals durchzuchecken.
Was jetzt noch fehlt sind die Ausweise, um diese Dinger auch fahren zu können. Das Datum für die Prüfungen hat Liam bereits festgemacht und so bleiben uns genau zwei Monate, um uns mit den Maschinen vertraut zu machen und um zu lernen, sie zu fahren.
Beim Gedanken daran ist mir zwar nicht allzu wohl, aber bis dahin haben Harry, Liam und ich ja nur noch den Russisch-Unterricht an den Samstagen und in meinem Fall drei Tage die Woche Schichtarbeit in der Stadtbibliothek.

Somit bleibt mir momentan nicht viel mehr, als die kleineren Details der Reise vorzubereiten.
Was ich am heutigen regnerischen Tag nur zu gerne mache. Mit einer Tasse warmem Tee sitze ich vertieft in die Aufstellung der Aufgaben, die während der Reise noch anfallen, wie zum Beispiel das Buchen der Hotels in New York und so weiter. Dabei bin ich so konzentriert, dass ich gar nicht mehr daran gedacht habe, dass ich heute den Brief erhalten sollte, der mich darüber aufklärt, ob ich den Master nun geschafft habe oder eben nicht. Erst als ich mir eine kleine Pause gönne, sehe ich die Erinnerung in meinem aufgeschlagenen Journal neben mir. Nach wenigen Sekunden stelle ich außerdem fest, dass ich den Briefkasten am heutigen Tag noch gar nicht gelehrt habe.
Mein Puls schnellt in die Höhe und ich schieße vom Sofa auf. Ohne weiteres stürze ich zur Tür hinaus und sprinte die Treppen hinunter zu den Briefkästen. Beinahe haut es mich wegen meiner Pantoffeln am Treppenende noch der Länge nach hin, aber das Geländer zu meiner Linken gibt mir den nötigen Halt.

Um Atem ringend und mit den Schlüsseln kämpfend stehe ich nun vor meinem Briefkasten und versuche den kleinsten der fünf silber-farbenen Türöffnern in das Schlüsselloch zu bringen, was sich aufgrund meiner zitternden Hände um einiges schwieriger gestaltet als sonst. Dennoch gelingt es nach wenigen Sekunden und ich reiße den Stapel an Post aus dem Fach und renne schließlich wieder in meine Wohnung im vierten Stock zurück.
Vollkommen außer Atem lasse ich den Stapel auf den Tisch knallen und durchsuche ihn nach dem einen entscheidenden Umschlag. Und da sehe ich ihn – den roten Stempel mit den Worten 'Scientia et Conscientia' unter dem Logo.

Als ich mich jedoch nach dem Brieföffner umsehe, kommt plötzlich der eine Gedanke, der mir ein mulmiges Gefühl in der Magengegend verschafft. Was, wenn ich nicht bestanden habe? Was, wenn ich zu den fünf Prozent der Studenten gehöre, die den Master nicht schaffen? Was mache ich dann? Wie soll es dann weitergehen?

Ein lautes Klopfen an der Tür reißt mich aus den negativen Gedanken und ich höre die Stimme meiner Freundin: „Wehe, du hast den Brief ohne mich geöffnet."

Marina's Direktheit lässt mich trotz allem grinsen und ich öffne ihr die Tür. Mit skeptischem Blick tritt sie ein und sieht auf den Esstisch und den Salontisch worauf ich abwehrend die Hände hebe. Diese Bewegung lenkt ihre Aufmerksamkeit auf den ungeöffneten Umschlag in meiner Hand und sie sieht mich zufrieden an.

„Gut", sagt sie bloß und lässt sich auf das Sofa fallen, auf dem ich bis vor kurzem noch gesessen habe. „Hast du von Harry und Liam schon was gehört?"

Ich schüttle den Kopf und setze mich etwas steif neben sie. Marina's lebhafte Art ist der Gegenpol zu meiner durchstrukturierten und durchgeplanten Art. Genau diesen Ausgleich schätze ich meist sehr, aber heute weiß ich nicht, ob ich nicht lieber selber mit dem Gedankenchaos in meinem Kopf fertiggeworden wäre.

„Lass mich raten, du hast dein Handy ausgeschaltet, um den eintrudelnden Nachrichten im Gruppenchat zu entkommen, und du hast den Brief bisher noch nicht geöffnet, weil du Angst davor hast, dass er eine negative Botschaft für dich hat. Stimmt's, oder hab' ich recht?", fragte sie und sieht mich herausfordernd an.

Manchmal frage ich mich, ob sie mit ihrer direkten und unverblümten Art nicht auch manchmal aneckt, denn, obwohl sie mit ihrer Vermutung voll ins Schwarze getroffen hat, so kann ich den feinen Stich, den ihre Worte verursachen, nicht ganz ignorieren. Ich merke, dass sie meine Art, alles zu analysieren und zu Tode zu denken, nicht wirklich nachvollziehen kann.
Dennoch, sie kennt mich gut. Sie weiß, dass ich mir damit meist keinen Gefallen tue, und schafft es jedes Mal, dass ich mich selbst reflektiere und mich frage, ob das denn nun tatsächlich vorschnell reagiert oder geurteilt ist.

„Wenn du es nicht gepackt hast, Shay, dann hat keiner von uns eine Chance auf den Master. Keiner hat so viel in das Studium investiert wie du. Außerdem, erinnerst du dich noch an den Bachelor? Da hast du dich zwei Tage nicht getraut, den Brief zu öffnen, aus Angst, du hättest es verhauen. Und wo standst du danach? An der Spitze der Klasse.
Ich sage also", lässt sie verlauten, während sie sich von der ultraweichen Couch hochquält, „dass ich schon mal den Moscato hole, den ich vorgestern im Kühlschrank kühl gestellt habe und du besorgst den Brieföffner."

Das Grinsen kann ich mir nicht verkneifen. Meine Selbstzweifel interessieren Marina gerade so weit wie sie weiß, dass sie berechtigt sind – in diesem Falle also gar nicht – und ich liebe sie dafür, dass sie mich in solchen Situationen wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt.
Ja, ich hab den Bachelor mit Bestnoten abgeschlossen und ich hab mir den Allerwertesten aufgerissen, um auch den Master mit einer lobenden Erwähnung zu erhalten, also warum kann ich nicht davon ausgehen, dass ich bestimmt bestanden habe?

Mit klirrenden Proseccogläsern in der einen und dem süßen Weißwein in der anderen Hand setzt sich die Rothaarige wieder neben mich.

„Bereit?", fragt sie und füllt währenddessen die Gläser.

Zur Antwort hebe ich den Brieföffner, meiner Stimme traue ich nicht.
Marina zieht ihren Umschlag aus der Hosentasche und entfaltet ihn. Ihrem auffordernden Blick nach zu urteilen, möchte sie, dass ich erst meinen öffne, was meinen Mund schlagartig austrocknet. Ich kann mir noch so einreden, ich hätte bestanden oder eben auch nicht. Dies alles bedeutet nichts, bevor ich nicht die Worte schwarz auf weiß vor mir sehe.
Mit klammen Fingern versuche ich den Brieföffner unter die Lasche zu schieben, was mir jedoch erst nach ein paar Versuchen gelingt. Ohne jedoch noch weiter zu zögern schneide ich das Papier durch und ziehe den Brief hinaus.

Sehr geehrte Frau Smith
Mit diesem Schreiben teilen wir Ihnen mit, dass Sie den Master of Arts (M.A.) – Historische Wissenschaften erfolgreich absolviert haben.

(...) Sie befinden sich ebenfalls unter den besten fünf Absolventen und werden an der Diplomübergabe vom 15. Juni 2018 ehrenhaft erwähnt.
Weitere Informationen zur Diplomfeier werden Sie spätestens zwei Wochen zuvor per Post erhalten.
Bis dahin wünschen wir Ihnen alles Gute und herzliche Gratulation.

Und?", höre ich die Stimme meiner besten Freundin.

Erst jetzt bemerke ich, dass ich das Geschriebene bereits zum dritten Mal durchlese.

„Ich hab's geschafft. Ich hab's geschafft!", rufe ich aus und halte ihr das Blatt hin.

Mit dem kleinen sarkastischen Kommentar, der darauf folgt, habe ich gerechnet und somit strahle ich sie einfach an. Ich fühle mich mindestens zehn Kilo leichter und könnte direkt einen Freudentanz vorführen.
Doch den spare ich mir für nachher, wenn auch Marina Gewissheit hat.

„Jetzt du", fordere ich sie daher auf.

Auch sie hat Mühe, den Umschlag aufzukriegen, was bei ihr aber vor allem daran liegt, dass er ziemlich verknittert ist. Sobald sie es jedoch geschafft hat, reißt sie den Brief raus und hüpft wenige Sekunden später durch unser Wohnzimmer. Ohne weiteres springe ich zu ihr und umarme sie.

„Gratuliere dir! Das ist der Hammer! Wir haben beide bestanden. Ich fasse es nicht, unsere Ausbildung ist nun ganz offiziell beendet."

„Für mich ja, du hast noch deinen Russisch-Unterricht, meine Liebe", entgegnet sie mit einem spitzbübischen Grinsen und pickst mich in die Seite.

„Kannst du mir die fünf Minuten Freude bitte nicht vermiesen, vielen Dank", kontere ich, lache sie jedoch ungetrübt an.

„Dann lass uns mal schauen, wie's den Jungs geht", meint Marina und holt ihr Handy hervor.

Just in dem Moment klingelt es und ich sehe gerade noch Liam's Namen ehe die Rothaarige auf den grünen Hörer tippt und sofort auf Lautsprecher stellt.

„Hey Liam. Shay hört mit, nur damit du informiert bist. Und? Wie sieht's aus?"

„Hey Marina, hey Shay. Gut sieht's aus. Hab bestanden. Und so wie du dich anhörst, muss ich dich wohl ab jetzt Frau Dr. Teier nennen, oder?"

Marina bejaht und bevor er einen dummen Spruch machen kann, gebe ich auch meinen Abschluss an.

„Lass mich raten, mit Bestnoten?", kommt es neckisch von der anderen Seite der Leitung.

„Jep, und stolz drauf."

„Na dann, ich gratuliere auch dir. Hat jemand was von Harry gehört?"

Wir verneinen beide, ich merke jedoch an, dass er heute früh losmusste, um ein Interview mit einem Deutschen Fernsehsender, der auf unser bevorstehendes Abenteuer aufmerksam geworden ist, zu vereinbaren.

„Er wird sich melden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er es nicht gepackt haben sollte", meint Marina.

Wir verabschieden uns, nachdem wir vereinbart haben, dass wir uns am Freitag auf einen Drink treffen.
Danach hole ich die Gläser und strecke meiner Freundin eines hin.

„Auf uns. Wir haben's geschafft!", rufe ich aus und die Gläser stoßen klirrend zusammen.

Nach ein paar weiteren Stunden der Vorbereitung und Abgleichungen mit Marina's erledigten Aufgaben beende ich die Arbeit für die Reise und setze mich mit dem Laptop an den Küchentisch.
Marina hat sich soeben zu ihrer Nachtschicht im Restaurant Traube verabschiedet, was heißt, dass ich entspannt und ungestört mit meiner Familie skypen kann.
Hier in Deutschland haben wir sechs Uhr abends, was bedeutet, dass in Winchester zurzeit Mittagspause herrscht. Es sollten bis auf meine zwei älteren Schwestern also alle zuhause sein.
Mit meinen Eltern ist abgemacht, dass ich um diese Zeit einmal versuchen sollte, sie per Skype anzurufen und so klicke ich auch ohne zu zögern auf den blauen Knopf neben dem Bild meiner Mom. Nur fünf Sekunden später steht eine Verbindung und ich sehe ein flimmerndes Bild vor mir. 

Dazu vernehme ich ein Rascheln und Mom's Stimme, die die Familie zusammenruft: „Shayleen ruft an! Alle ins Wohnzimmer!"

„Mom? Hallo?", versuche ich auf mich aufmerksam zu machen.

„Sonnenschein!", sagt sie und ihr Gesicht erscheint zur Hälfte und viel zu nah auf dem Bildschirm. „Wie schön, dich zu sehen. Ich bin gerade auf dem Weg ins ... uups, das war der Teppich, der bringt mich jedes Mal ins Stolpern. Jedenfalls bin ich auf dem Weg ins Wohnzimmer, damit wir dich alle sehen können."

Lachend warte ich darauf, dass sie den Laptop auf den Salontisch gestellt hat und sich in die Mitte des Sofas und somit in die Mitte des Bildes setzt. Winkend und laut durcheinander schnatternd trudelt der Rest ein, sodass schlussendlich alle durch die Webcam zu sehen sind – wenngleich von Sam, meinem jüngsten Bruder, nur gerade der Kopf sichtbar ist, da er sich vor Mom auf den Boden gesetzt hat.
Immer noch sprechen alle durcheinander, sodass ich nicht genau weiß, wem ich denn nun zuerst zuhören soll, was meinen Dad dazu bringt einmal laut 'Hey' zu rufen. Wie immer funktioniert es, wenn er mit seiner tiefen, durchdringenden und autoritären Stimme nach Aufmerksamkeit verlangt.

„Lasst unsere Shayleen doch mal erst anständig hallo sagen", fügt er noch an und lächelt mich dann zufrieden an.

Amüsiert über das Chaos, das vor fünf Jahren noch meinem Alltag entsprach und schon bald wieder wird, begrüße ich alle lachend: „Hi Mom, hi Dad. Hallo Nana, hallo Sia. Hey Simon, hey Seth, hey Sarah und hi Sam. Wie schön, euch alle miteinander zu sehen."

Jeder von ihnen antwortet mir und sie erzählen mir, wie es ihnen gerade so geht und woran sie gerade so sind. Dass meine Großmutter auch hier ist, freut mich ganz speziell. Sie war bis vor einem Monat noch im Krankenhaus wegen einer sehr starken Erkältung, die sich hartnäckig hielt. Sie nun wieder lächeln zu sehen freut mich besonders.

„Nana, sag mal, gehst du heute noch aus? Du siehst so schick aus", necke ich sie.

Heiser lachend erwidert sie gerade so laut, wie ihre Stimme noch kann: „Heute Nachmittag ist Bingo-Nachmittag in der Kirche."

Das ist den älteren Generationen voll im Blut, da geht man nicht in der Alltagskleidung zur Kirche, sondern gibt sich Mühe und macht sich schick. Ich finde es immer wieder niedlich, wenn ich sie mit ihrer Perlenkette und den glänzenden weißen Schuhen sehe.

„Na dann drücke ich dir die Daumen, dass du gewinnst. Der Aufzug soll sich ja auch lohnen", entgegne ich zwinkernd. „Und wie geht's auf der Farm Dad? Ist das Fohlen schon da?"

„Gestern Nacht zur Welt gekommen, ja. War nicht ganz einfach, aber Seth und Simon waren super. Sie haben alles richtig gemacht und jetzt steht die kleine Martha putzmunter im Stall bei ihrer Mutter."

„Aww", entweicht es mir. Jetzt wäre ich am liebsten dort, und würde mich um das Kleine kümmern. Die Pferde sind immer schon meine Aufgabe gewesen. Dad hat mich mit fünf Jahren schon beim Ausmisten und Füttern helfen lassen und ich hab' es vom ersten Moment an geliebt. So war es für ihn auch klar gewesen, dass er diesen Teil der Arbeit auf der Farm an mich übergeben würde, sobald ich alt genug war.
Neben meiner Familie und meinen Freunden zuhause sind es also auch die Pferde, die ich immer wieder sehr vermisse.

„Deine Sadie ist übrigens auch trächtig. In ein paar Wochen gibt es somit bereits wieder Nachwuchs", informiert mich mein zwei Jahre älterer Bruder Seth.

„Aber nun genug von den Pferden", wirft meine Mutter ungeduldig dazwischen. „Sonnenschein, wir wollen doch wissen, wie du abgeschlossen hast."

Alle stimmen ihr kreuz und quer durcheinanderredend zu und es tut gut zu hören, dass sie alle der festen Überzeugung sind, dass ich bestehen würde. Klar, während der Ausbildung setzte mich dieses Vertrauen zuweilen auch etwas unter Druck, aber ich hab' immer gewusst, dass sie es nicht so meinen. Deswegen freut es mich jetzt umso mehr, ihnen mitteilen zu können, dass ich unter den fünf besten Absolventen bin.

Im Wohnzimmer der 'Flawless-Farm' bricht Jubel aus und ich höre immer wieder Wortfetzen wie 'gratuliere', 'wusste es' oder 'meine Tochter'. Ihre Freude über meinen Abschluss treibt mir die Tränen in die Augen. Ich versuche, mich zusammenzureißen, aber als es dann Zeit ist, mich von ihnen zu verabschieden, kullern die kleinen salzigen Perlen dennoch über meine Wangen.
Mit einem innigen 'ich liebe euch' beende ich den Anruf und nehme mir vor, jedem Einzelnen von ihnen noch eine kleine Nachricht zu schicken, bevor ich zu Bett gehe.

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Hier bin ich wieder!

Ich wünsche jedem Einzelnen von euch ein gutes neues Jahr! Seid ihr alle gut gerutscht? Und wie waren eure Festtage?

Ich hab die Zeit mit Familie und Freunden genossen und bin jetzt – am Ende meiner Weihnachtsferien – doch noch dazu gekommen, hier weiterzuschreiben.

Was sagt ihr?

Was ist euer erster Eindruck von Shayleen's Familie?

Ich freue mich auf eure Rückmeldungen – in welcher Form auch immer – und wünsche euch morgen einen guten Start in die Arbeit oder Schule, falls es bei euch wie bei mir auch wieder losgeht :-)

Glg
Eure StephVi

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