Kapitel 9
Borkum 2013 - Erster Sonntag
Morgens
Heute, wo ich zurückblicken kann, sehe ich das tiefe Durchatmen, das mich begleitete, als ich mir am Sonntagmorgen beim Lesen seiner Nachricht eingestand, dass es so nicht weitergeht. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie sich mein Rücken langsam aus der Krümmung emporhob, meine Schultern sich strafften. Ich sehe mich, wie ich mir mit längst vergessen geglaubter Energie meine Tränen, die seit geraumer Zeit meine Wangen hinunterrannen, aus dem Gesicht wischte.
*****
Während ich noch im Bett lag und das erste Morgenlicht genoss, das in meinen Raum fiel, erklang Sein Ton aus meinem Handy. Voller freudiger Erwartung stand ich auf, nahm das Gerät von der Fensterbank, wo ich es am Abend vorher liegen gelassen hatte, und öffnete Seine Nachricht:
Hallo Schatz, das hat mich jetzt überrascht. Ich habe gedacht, du bist noch zu schwach für so etwas. Aber das ist toll, dann brauchst du ja vielleicht gar nicht die ganzen drei Wochen wegzubleiben. Ich habe extra einmal gegoogelt. Es kommt auch vor, dass eine Reha verkürzt werden kann. Das kannst du gleich morgen einmal mit deinem Arzt durchsprechen. Ich freue mich, dass es dir schon wieder so gut geht und du schneller, als erwartet, deinen Beitrag zu unserem gemeinsamen Leben leisten kannst.
Fassungslos ließ ich mich auf mein Bett sinken und starrte minutenlang auf den Text. In mir stritten sich die unterschiedlichsten Gefühle und Reaktionen, die alle zur Oberfläche strebten. Ein Teil von mir wollte das Handy in die nächste Ecke werfen und ein anderer Teil von mir wollte Ihn anrufen. Ich wollte Ihn anbrüllen und beschimpfen, wollte Ihm meine Liebe vor die Füße werfen und ... Ja, in Gedanken wollte ich all das tun. In Wahrheit kauerte ich zusammengesunken auf meinem Bett, obwohl in diesem Moment alles in mir einfach nur noch NEIN schrie.
Ich wollte und ich konnte nicht mehr. Auf der einen Seite fühlte ich mich hilflos, auf der anderen Seite wusste ich, dass eine Grenze des Erträglichen erreicht war.
So ging es nicht weiter. Ich musste etwas unternehmen. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht was das sein sollte, was ich unternehmen konnte, aber irgendetwas musste geschehen.
Ich wollte nicht mehr dieses unglückliche Häufchen Elend sein, dessen Spiegelbild mir jeden Morgen aufs Neue im Badezimmerspiegel entgegensah. Ich wollte endlich einmal im Leben glücklich sein. Ich erinnerte mich an Olivias Worte vom Vortag: „Du bist stärker, als du glaubst!", und daran, wie sie sagte: „Wenn du über irgendetwas mit uns reden möchtest, dann sind wir alle für dich da, wann immer du willst!". Während ich an den vergangenen Samstagnachmittag mit Olivia zurückdachte, fasste ich einen Entschluss.
*****
Als „Miss Elli" und ich später über diese - Seine Nachricht - sprachen, fragte sie mich, was in mir vorging, was ich gefühlt und gedacht habe und wie es mir heute damit geht, wo wir darüber sprechen.
In diesen Sitzungen bei „Miss Elli" bin ich immer wieder erstaunt darüber, wie tief die Erinnerungen sitzen und wie stark die Gefühle in mir noch vorhanden sind - damals genauso, wie auch heute noch.
Dennoch ist es nicht mehr dasselbe. Damals stand ich meinen Gefühlen hilflos gegenüber, wusste keinen Weg heraus, aus dem Chaos meiner Gefühlswelt. Heute habe ich in meinem Kopf einen Schrank mit vielen Schubladen eingerichtet. In jeder Schublade ist Platz für eine Erinnerung. Diesen „Apothekerschrank der Erinnerungen" habe ich Olivia zu verdanken.
Noch heute bin ich dankbar dafür, dass Inge, Orla, Harald und Olivia bereits am Tag zuvor für mich da waren und ich mich ihnen anvertrauen konnte.
*****
Nachdem auch alle anderen die Nachricht gelesen hatten und ihrer Empörung darüber Ausdruck verliehen, wie wenig Verständnis mir von zuhause entgegengebracht wurde, war es Orla, die einen energiegeladenen Blick in unsere kleine Runde warf. Mit den Worten: „So ihr Lieben, ich denke, es ist Zeit für ein ordentliches Frühstück und dann lasst uns mal einen Plan schmieden, wie wir den Tag verbringen.", gab sie für mich den Startschuss zu einem anderen - besseren - Tagesbeginn, als Seine Nachricht es mir am Morgen noch möglich erschienen ließ.
So war Orla! Ärmel aufkrempeln und los - das war ihre Devise - wo auch immer es galt ein Problem anzupacken. Nichts ist unmöglich und für jedes Problem gibt es eine Lösung.
Während sie mich mit einem liebevollen Blick streifte, als ihre Hand schon zu einem Brötchen griff, sagte Olivia: „Na komm schon Rebecca, niemandem ist geholfen, wenn du ohne Grundlage in den Tag gehst und am Ende dein Kreislauf zusammenbricht. Was möchtest du draufhaben?" Während sie mich noch fragend anschaute, trötete Inge: „Tu ihr mal was Süßes drauf, süßes hilft immer und so weiß wie sie ist, kann Zucker nur gut tun", bevor sie selber herzhaft in ihr Marmeladenbrötchen biss. Zustimmend nickend, begann Olivia das Brötchen mit Erdbeermarmelade zu bestreichen. „Ich glaube, die mag sie ganz gerne", murmelte sie vor sich hin, während Haralds Grinsen im Gesicht immer breiter wurde, als er kopfschüttelnd eine nach der anderen betrachtete und meinte: „So Mädels, ich glaube, nun ist es denn auch mal gut. Rebecca, du isst bitte einfach das Brötchen, damit hier nicht alle vor Sorge in Ohnmacht fallen und dann schlage ich vor, dass wir uns nach dem Frühstück Fahrräder leihen, uns zum Mittagessen abmelden und durch die Dünen zur Strandsauna fahren.
Dort gibt es eine kleine Terrasse, die in der letzten Woche immer so gut wie leer war; einen Kiosk, an dem wir Kleinigkeiten zu essen bekommen und Getränke. Eine Toilette ist auch dort und wenn wir nicht mehr sitzen wollen, gehen wir an die Brandungszone."
Tatkräftig rieb er sich die Hände und schaute uns erwartungsvoll und Beifall heischend an.
In diesem Moment, als alle beifällig nickten und mich anschauten, wurde mir bewusst, wieviel Wärme diese Menschen mir entgegenbrachten. Obwohl sie mir gerade für nichts eine wirkliche Wahl ließen, fühlte es sich gut und richtig an. In mir machte sich ein warmes Gefühl breit. Mit einem Lächeln auf den Lippen schaute ich sie der Reihe nach an und sagte: "Danke, ich glaube, so würde ich den Tag sehr gerne mit euch verbringen."
*****
Nach dem Frühstück, in der Zeit auf meinem Zimmer, bevor wir uns auf den Weg machen wollten, schrieb ich ihm eine Nachricht zurück:
Hallo Schatz, ich glaube nicht!
Danach verließ ich mein Zimmer - das Handy ließ ich zurück.
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