Kapitel 8
Borkum 2013 - Erstes Wochenende Samstagnachmittag
An der Brandungszone
Nachdem das Training an den Geräten für Inge, Orla und Harald am Morgen ausgefallen war und wir unsere Termine für die Inhalation verpasst hatten, beschlossen wir beim Mittagessen, dass wir wenigsten den Rest des Tages so verbringen wollten, wie geplant. Während Inge, Orla und Harald ihre Fahrräder sattelten und zu der Fahrradtour über die Insel aufbrachen, wollte ich mir einen Strandkorb mieten und den Rest des Tages mit einem Buch am Strand verbringen. Zur Brandungszone wollte ich nicht mehr - nicht nach seinen Nachrichten und dem Asthmaanfall - ich traute es mir nicht mehr zu.
Eine halbe Stunde lief ich von einer Strandkorbvermietung zur nächsten und versuchte einen Strandkorb zu mieten. Egal, an welcher Treppe hinunter an den Strand ich es ausprobierte, überall war es das gleiche. Entweder war die Strandkorbvermietung nicht mehr besetzt oder ich hörte mir an, dass es ihnen leidtäte, aber es sind bereits alle Strandkörbe vergeben.
Was hatte ich auch erwartet? - Es war Hochsaison für die Insel und wir erlebten den schönsten Sommer seit Jahren. Wie konnte ich auch glauben, dass alle Strandkorbvermieter nur auf mich warteten. Jetzt stand ich hier vor der letzten Möglichkeit, am Nordstrand vor der Treppe und schüttelte über mich selber den Kopf.
„Dumme Nuss" unterhielt ich mich in Gedanken mit mir selbst, während ich umkehrte und Richtung DLRG Station zur Badebucht und der Promenade zurücklief. Zunehmend merkte ich wie sich der Ärger über mich selber in mir breit machte, über meine eigene Unfähigkeit auch nur einmal über den Tellerrand hinauszudenken. Auch ärgerte ich mich, dass er schon wieder Recht behalten sollte.
Auf meine Nachricht von vorhin erhielt ich eine Antwort von ihm, in der stand:
Schatz, es ist toll, dass Du zum Strand gehen willst. Ich hoffe nur, dass Du so schlau warst und Dir in der Woche bereits einen Strandkorb gemietet hast. Bei dem Wetter und der Ferienzeit sind die bestimmt begehrt und Du weißt ja, dass Du nicht so widerstandsfähig gegen die Sonne bist. Wie ich Dich kenne, legst Du Dich so in die Sonne und verkokelst am Ende doch noch.
Wie ich es hasste, dass er schon wieder recht behalten sollte.
Und wie er mich eben doch nicht kannte - so etwas hatte ich noch nie getan!
Ein Gefühl der Hilflosigkeit breitete sich in mir aus - aber nicht nur - auch ein Gefühl der Wut schlich sich langsam in meine Gedankengänge.
*****
"Miss Elli" fragte mich später einmal, zu welchem Zeitpunkt ich glaube es mir bewusst gemacht zu haben, dass mich an meiner Beziehung mit ihm etwas stört. Rückblickend habe ich ihr von diesem Moment erzählt. Auch wenn ich heute weiß, dass es viele Anzeichen vorher gab, die dieses Bewusstsein hätten erreichen müssen, so erinnerte ich mich überdeutlich an meine Wut, die ich in diesem Moment empfand.
Nicht die Wut auf mich selber, sondern die Wut darauf, dass er immer wieder Recht behalten musste. Auch auf seine Art war ich wütend. Wenn ich doch einmal den Mut aufbrachte gegen diese - seine Art - aufzubegehren, erhielt ich nur Unverständnis zurück. Immer hörte ich mir an, dass er es doch nur gut mit mir meint.
Neben dem Asthmaanfall am Vormittag, war dieses „Er hat schon wieder recht", der Tropfen, der mein Fass zum Überlaufen brachte.
"Miss Elli" meinte, dass diese Wut und auch der Trotz, den ich im Verlauf dieses Samstagnachmittags noch entwickeln sollte, wichtig für mich waren. Meine Wut und mein Trotz dieses Tages, waren meine Wegbereiter - heraus aus dieser Beziehung - die mir so gar nicht bekam.
*****
Ohne Olivia wäre dieser Tag für mich anders zu Ende gegangen.
In Gedanken vor mich hin schimpfend und in mein Schicksal ergeben, dass ich mich wieder in den Schutz der Klinik zurückziehen oder mir einen Schattenplatz im Ort suchen musste, ging ich frustriert und mit gesenktem Kopf den Weg zurück zur Promenade. Vorbei an den Treppen die den Weg zum Strand säumten. So gerne hätte ich ein paar Stunden hier verbracht - an diesem Strand - der mir in diesem Moment unerreichbar weit entfernt schien.
Die vielen Menschen, die mir am Rande der Promenade auf dem Weg zu den Geschäften und ihren Strandkörben begegneten, nahm ich gar nicht wahr. Immer weiter mit gesenktem Kopf ging ich meines Weges - bis ein roter Ball mich zwang den Blick von meinen Füßen auf den Weg vor mir zu richten.
Plötzlich lag er vor mir - ein zwei Männerhände großer Gummiball. Knallrot lachte er mir entgegen. Unsicher blieb ich stehen und schaute mich um, woher er so plötzlich über meinen Weg rollte - und dann sah ich sie!
Von einem Ohr zum anderen grinsend stand Olivia an einem der Geschäfte vor einem Korb, nahm noch mehr Bälle heraus und rollte sie in meine Richtung. Am Ende lagen fünf verschiedenfarbige Bälle vor meinen Füßen und lachten mich an.
Während ich noch nicht wusste, wie mir geschah, lachte Olivia zu mir herüber und bat mich auf die Bälle aufzupassen, während sie dem Verkäufer, der sich köstlich über sie amüsierte, das Geld in die Hand zählte.
Vorsichtig nahm ich den grünen Ball in meine Hände und betrachtete ihn von allen Seiten. Entgegen meiner Annahme, er sei aus Gummi, bestand er aus Schaumsoff. Überzogen war er mit einem Plastikmantel, der sich so weich wie angenehmes Leder anfühlte. Egal, von welcher Seite ich ihn betrachtete, erblickte ich zwei schwarze nebeneinander angelegte Punkte. Unterhalb der Punkte befand sich eine Linie, deren Ende sich nach oben bogen.
Den Ball betrachtend erhielt die Wortwendung „Im Kreis zu lachen" eine ganz neue Bedeutung für mich.
Während ich auf Olivia wartete, die Sonne mir den Rücken wärmte und ich auf den Ball blickte, musste ich an einen Spruch auf einem Kalenderblatt denken, den ich im Krankenhaus zu lesen bekam.
Dort stand: Ein Lächeln ist eine gebogene Linie, die vieles im Leben geraderückt.
Lächelnd schaute ich erst auf den Ball in meiner Hand und anschließend auf Olivia, als sie immer noch mit ihrem Grinsen im Gesicht auf mich zukam. Lachend erzählte sie mir, dass sie spontan die Idee hatte für jeden von uns fünfen einen Ball mitzunehmen, als sie mich so traurig den Weg hochkommen sah, nachdem ich sie fragte, was es mit den Bällen auf sich hat.
„Weißt Du Rebecca, die Bälle haben mich schon die letzten Tage im wahrsten Sinne des Wortes "angelacht" und nun bot sich mir endlich die Gelegenheit sie zu kaufen. Auf einer Firmenveranstaltung wurde mir mal so ein Ball in klein - ein sogenannter "Wut Ball" in die Hand gedrückt. Der hatte einen total sauren Gesichtsausdruck, passte in die Jackentasche und ich konnte ihn immer und überall dabeihaben. Das Material war anders, den konnte ich so richtig knautschen.
Tatsächlich habe ich den Ball in meinem Büro in der Schublade liegen gehabt und wenn ich mal nicht wusste, wohin ich meinen Ärger schlucken sollte, der mich an manchen Tagen überkam, da habe ich diesen Ball geknautscht und gedrückt. Das tat gut."
Jetzt strahlte sie mich an und sprach weiter: „Guck, jetzt lächelst Du! Es klappt also auch andersherum!"
*****
Fragend schaute sie mich damals an und wollte wissen, ob es mir gut geht.
Nicht mehr ganz so deprimiert, wie kurz vorher, erzählte ich ihr davon, dass ich mein Vorhaben zur Brandungszone zu laufen wegen der Ereignisse am Vormittag zwar aufgegeben habe, aber mir zumindest einen Strandkorb mieten wollte. Als sie erfuhr, dass es keine freien Strandkörbe mehr gab, lud sie mich ein mit zu ihrem Strandkorb zu kommen.
Erst wollte ich das Angebot nicht annehmen, weil ich mich nicht aufdrängen wollte. Meine Einwände hatten aber keinen Bestand. Olivia sagte mir schlicht und einfach, dass die Einladung nicht rhetorischer Natur gewesen sei.
„Ich meine es ernst - Rebecca. Wenn ich keine Zeit mit dir verbringen wollte, hätte ich es nicht angeboten." Sprach sie - und ich glaubte ihr.
*****
Wir machten es uns in dem Strandkorb gemütlich und die Mittagshitze schläferte uns ein. Jede von uns verkroch sich ganz an eine Seite vom Korb und eingelullt in meine Gedanken schlief ich ein.
Rebecca ... Rebecca! - Langsam wachte ich auf, als Olivia sich aufmerksam in meine Richtung neigte und ich bemerkte, dass sie vorsichtig an meinem Arm rüttelte.
„Entschuldige, dass ich dich wecke, aber du schläfst seit zwei Stunden und ich habe die Befürchtung, dass dir die Hitze zu Kopfe steigt, wenn du nicht langsam mal einen Schluck Wasser trinkst. Geht es Dir gut?"
Tatsächlich ging es mir sogar so gut, wie schon lange nicht mehr. Die Wärme, der Schlaf und Olivias Art streichelten meine Seele. Sie ließen mich wohlig, wie eine sich räkelnde Katze auf der sonnengewärmten Fensterbank, im Strandkorb erwachen.
„So!", begann Olivia energisch, als ich endgültig wach war und etwas getrunken hatte, „Was war noch mal der Grund, weswegen Du heute nicht mehr zur Brandungszone laufen wolltest?", fragte sie.
„Oh je! - Dein Ernst?", jammerte ich.
„Jawohl, mein Ernst!", sprach Olivia weiter. „Du hast vorhin gesagt, dass du deinen Hut, die Sonnencreme, ein Handtuch, Musik und etwas zu trinken dabeihast. - Hast du doch?"
Mein Nicken war ihr Bestätigung genug.
„Fein, dann steht einem Spaziergang ja jetzt nichts mehr im Wege. Es muss ja nicht bis zur Brandungszone sein. Wir können auch einfach in die Richtung laufen und umkehren, wann immer du magst", grinste sie mich verschmitzt an.
„Selbstverständlich bist du frei in deiner Entscheidung. Fühle dich wie zu Hause im Strandkorb und genieße die Zeit. Ich muss mich auf jeden Fall noch bewegen. Da die Sonne jetzt nicht mehr ganz so heiß vom Himmel scheint, wie in der Mittagshitze, habe ich Lust mir die Füße zu vertreten. Schön meine Musik in den Ohren und ab in die Bewegung.", fuhr sie fort. Wobei mir ihr siegessichere Grinsen, das von einem Ohr zum anderen verlief bereits sagte, dass sie wusste, ich würde mitkommen.
Als Olivia sagte „Fühl dich wie zu Hause", regte sich Widerstand in mir. Denn zu Hause saß er und wartete nur darauf, dass ich ihm heute Abend schreiben würde, wie recht er doch mit allem hatte. Dieser Trotz, der sich auf meinem Gesicht widerspiegelte war es, der Olivia die Gewissheit vermittelte, dass ich mitkomme.
*****
Mit Olivia auf dem Weg zur Brandungszone, habe ich einen Frieden in mir gespürt, den ich längst verloren glaubte. Es ist nicht so, dass es mir bewusst war, dass mir diese innere Ruhe fehlte. Eher ist es so, dass es mir bewusst wurde, als wir, fast im Gleichschritt, die Badebucht umrundeten und in Richtung der Sandbank weiterliefen, auf der die Robben ruhten.
Eingecremt, mit meiner Sonnenbrille auf der Nase, meiner Lieblingsschirmmütze in Türkis auf dem Kopf, einer Flasche Wasser und meinem Handtuch in der Hand, schritt ich - neben einer ausgesprochen gut gelaunten Olivia - den Strand entlang.
Jede von uns hatte ihre Kopfhörer in den Ohren und lauschte der eigenen Musik. In diesem Zustand - ganz bei mir zu sein - mit meiner Musik in den Ohren, erreichten wir die Sandbank. Mit Erstaunen nahm ich zur Kenntnis, dass der Weg mir nur halb so weit vorkam, wie die Tage zuvor.
Aufmunternd schaute Olivia mich von der Seite an und deutete fragend in Richtung der Brandungszone. Während ich noch spürte, wie ein Lächeln in meinen Augen begann und sich langsam über mein Gesicht ausbreitete, nickte mein Kopf schon zustimmend.
Ich atmete noch einmal tief durch und gemeinsam schritten wir weiter voran - der Brandungszone entgegen.
Bereits kurz bevor wir mit den Augen am Ende des Strandes den Übergang zum Wasser erkennen konnten, entledigte ich mich der Musik in meinen Ohren. Je näher wir dem Wasser kamen, umso dröhnender nahm ich das Heranrollen der Wellen wahr. Dieses Geräusch jagte mir einen wohligen Schauer über den Rücken. Überwältigt von meinen Gefühlen, ließ ich mich auf meine Knie, in den sonnenheißen Sand sinken, und schaute auf die Nordsee. Jetzt konnte ich die Brandung nicht nur hören, jetzt konnte ich sie auch sehen. Ich konnte erkennen, wo die ankommenden Wellen sich an den Sandbänken brachen, die der Insel vorgelagert waren, um dahinter seicht am Strand auszurollen, bevor der Sog sie zurückzog - zurück ins Meer - zurück zum Ursprung.
Ich hatte es geschafft, die Brandungszone war erreicht. Dieses Mal bin ich den Weg bis zum Ende gelaufen, von dem ich mir die letzten Tage eingeredet habe, dass er zu schwer für mich ist. Obwohl mein Sehnen nach diesem Anblick mit jedem Tag wuchs, schien mir das Erreichen dieses Ziels in unerreichbare Ferne gerückt.
Hier auf den Knien im Sand, mit dem Blick auf die Brandung, fühlte ich etwas, von dem ich nie glaubte, dass ich dieses Gefühl jemals mit etwas in Verbindung bringen würde, was mich betraf. Ich fühlte Stolz in mir - Stolz auf mich! Wieder einmal liefen mir Tränen über die Wangen, wie so oft in der letzten Zeit, doch diesmal waren es Tränen, die ich vor Freude weinte.
Olivia ließ sich neben mir nieder und minutenlang sprachen wir kein Wort. Nur langsam konnte ich glauben, dass ich es wirklich geschafft hatte.
Irgendwann nahm Olivia meine Hand und drückte sie, als ich mich dafür bedankte, dass sie mich mitgenommen hat.
„Rebecca", erwiderte sie, während sie mich mit einem warmen Glanz in den Augen betrachtete, „du musst dich nicht bedanken. Ich habe ja nicht einmal viel Mühe darauf verwenden müssen, dich aus dem Strandkorb zu locken. Wenn du es nicht selbst gewollt hättest, tief in dir drin, dann hätte ich einen Kopfstand vorm Strandkorb machen oder nackt im Kreis über den Strand tanzen können, du wärst nicht mitgekommen. Du bist ganz alleine hierhergelaufen.
Du bist stärker als du glaubst und ich bin überzeugt davon, dass du deinen Weg gehen wirst. Wann auch immer jemand versucht dir das Gegenteil zu beweisen, denke daran, dass du heute aus eigener Kraft hierhergelaufen bist. Du warst nur ein wenig kurzatmig, als wir hier ankamen und das ist auch in Ordnung. Du hattest keinen Anfall und du bist nicht in Ohnmacht gefallen. Wer weiß, vielleicht - irgendwann - kannst du ja doch zulassen, dass dir jemand hilft. Heute gibt es in dieser Hinsicht viel mehr Unterstützung, die wir in Anspruch nehmen können, als das in meinen jungen Jahren noch der Fall war."
Auf meinen erstaunten Blick reagierte sie mit einem Schmunzeln und sprach weiter: „Du vergisst gerade, dass wir einen Altersunterschied von zwanzig Jahren haben. Ich bin älter, als ich aussehe." Während sie ihren Blick wieder von mir nahm und auf das bewegte Wasser vor uns richtete, fuhr sie auf entrückte Weise fort zu sprechen: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass dein behandelnder Arzt dir bei der Erstuntersuchung nicht das Angebot unterbreitet hat, dass du einen Termin mit einer psychologisch geschulten Fachkraft aus der Klinik erhalten kannst. Das ist in dieser Klinik ein Standardangebot, weil sie beide Fachrichtungen bedienen." Dabei wendet sie sich mit einem fragenden Blick wieder mir zu. Ich nickte und lange Zeit verfielen wir in Schweigen, in dem wir auf das Wasser sahen und unseren Gedanken nachhingen.
Ich fühlte mich wie gestrandet auf einer Insel, auf der es nur uns zwei gab. Aber das war nur ein Gefühl. In Wahrheit liefen die Strandspaziergänger um uns herum. Sie liefen vor und hinter uns am Strand entlang, immer weiter ihren Weg, der sie direkt an die Wasserkannte führte. Erstaunlicherweise, konnte ich all das aber ausblenden.
Selbst heute, in meinen Erinnerungen, ist dieses Gefühl von „Gestrandet auf einer Insel" vordergründig vorhanden.
Irgendwann, als ich gar nicht damit rechnete, sprach Olivia weiter. Mit ihrem in die Ferne gerichteten Blick, fast so, als ob sie sich selbst an etwas aus vergangener Zeit erinnern wollte, sprach sie die Worte aus, die ich bis heute nicht vergessen habe. Sie sagte: „Es gibt Entscheidungen, die muss jeder für sich ganz alleine treffen. Niemand nimmt uns unser Leben ab. Wir können mal einen Tritt in den Hintern erhalten, der uns in Schwung bringt, aber leben müssen wir unser Leben alleine. Irgendwann müssen wir entscheiden, wer wir sein wollen und wie wir leben wollen."
Und obwohl ich nicht das Gefühl hatte, dass sie mich direkt ansprach, stellte ich ihr sehr leise die Frage, fast flüsterte ich: „Wie hast du es geschafft? Bei dir klingt es so einfach, so taff und so, als ob du all das schon erreicht hast.", woraufhin sie mich wieder direkt ansah und antwortete: „Noch gar nicht Rebecca. Auch das ist etwas, an dem ich täglich arbeite. Mein Leben ändert sich ständig. Es gibt Fixpunkte. Ich bin glücklich verheiratet und habe ein Zuhause, in dem ich mich wohl fühle. Das sind meine Mittelpunkte. Darüber hinaus lerne ich neue Menschen kennen, mein Berufsleben wandelt sich. Von dem, was ich einmal erlernt habe, bin ich heute meilenweit entfernt. Ständig habe ich mich neu orientiert.
Immer wieder habe ich mir die Frage gestellt, ob ich das kann und will, was da an Veränderung auf mich zukam. Am Ende habe ich mich oft für die Veränderung entschieden. Wenn ich heute auf diese ganzen Kreuzungen in meinem Leben zurückblicke, dann habe ich meine Entscheidungen nicht bereut. Aber, wie gesagt, das weiß ich heute. Bei jeder Entscheidung, vor der ich stand, begleitete mich auch die Angst. Am größten war dabei meine Angst, dass ich das, was mir lieb und teuer war verlieren könnte, wenn ich mich für die Veränderung entscheide."
Ihr Blick, der inzwischen wieder auf mir ruhte, nahm einen fragenden Ausdruck an, als sie weitersprach: „Erinnerst du dich daran, als ich Harald bestätigte, dass ich mich die ersten Tage versteckt habe?"
Aber das war nur eine rhetorische Frage, sie erwartete, gar keine Antwort von mir, denn im selben Moment fuhr sie fort zu sprechen. Dabei wirkte es so, als ob es ihr schwerfiel auszusprechen, was sie mir erzählen wollte. Es kostete sie Überwindung weiterzusprechen, das konnte ich an ihrem tiefen Atemzug erkennen und dem Flackern, das plötzlich in ihrem Blick sichtbar wurde.
„Ich war nicht immer glücklich und zufrieden!", fuhr sie mit einem traurigen Ausdruck im Gesicht fort. „Meine Jugendzeit war nicht unbeschwert und unbelastet. Bereits als fünfzehnjährige habe ich Entscheidungen getroffen, von denen ich heute noch nicht weiß, woher ich den Mut nahm sie zu treffen. Vielleicht war die Verzweiflung groß genug, ich weiß es nicht. Was ich weiß ist, dass ich mich traute mich zu öffnen, als jemand darauf aufmerksam wurde, dass es mir nicht gut ging.
Inzwischen lebe ich mein Leben an der Seite meines Mannes. Gemeinsam haben wir uns unsere Welt geschaffen, in der wir uns wohl fühlen. Wir sind füreinander da und stehen füreinander ein. Wir achten aufeinander. Beide liebe ich, meinen Mann und unsere gemeinsame kleine Welt.
An diesem Glück, das ich jetzt erlebe, arbeiten wir täglich. Es sind die vielen Kleinigkeiten im Alltag, die dieses Glück ausmachen. Ich glaube immer, dass ich die „schlechten" Zeiten in meinem Leben verarbeitet habe, weil ich auch erleben durfte, wie es sich anfühlt glücklich zu sein. Dennoch passiert es mir zu Zeiten, so wie jetzt in der Reha, dass mich einige dieser Erinnerungen wieder einholen. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich aus meinem Alltagstrott herausgerissen bin und viel mehr Zeit als üblich habe, die ich mit mir selbst verbringe.
Immer wieder aufs Neue bin ich überrascht, wenn mich solche Erinnerungen überrollen, wie frisch sich auf der einen Seite alles anfühlt und wie distanziert ich es inzwischen betrachten kann. Es ist fast so, als ob ein Film an meinem inneren Auge vorüberzieht, mit mir als Hauptdarstellerin. Aber es ist kein Film. Es sind meine Erinnerungen, es sind Teile meines Lebens. Situationen, die ich erlebt habe.
Früher war es ein riesiger Berg, vor dem ich stand. Da lagen alle meine offenen Fragen, Probleme und nicht getroffenen Entscheidungen auf einem Haufen. Dabei konnte ich diesem Berg beim Wachsen zusehen.
Heute ist es schon viel besser.
In meinem Kopf habe ich mir inzwischen meinen „Apothekerschrank" für meine Erinnerungen eingerichtet. Solche Schränke haben den Vorteil, dass sie aus vielen Schubladen bestehen. Bei mir hat jetzt jedes Problem und jede Erinnerung eine eigene Schublade. Bevor ich sie dort verstaute, habe ich sie mir einzeln betrachte, abgewogen und verpackt. Alle die, die sich nicht schon von alleine erledigt haben. Was übrig blieb, gehörte zu mir. Davor konnte und wollte ich nicht wegrennen. Sie gehören zu mir und machen einen Teil meines heutigen Wesens aus.
Wenn ich dann plötzlich viel Zeit für mich habe, springen ein paar dieser Schubladen wieder auf und werfen mir ihren Inhalt vor die Füße.
Es dauert ungefähr drei bis vier Tage, die ich benötige um den Inhalt dieser Schubladen aufzusammeln, neu zu überdenken, zu bewerten und so zu verpacken, dass ich diese Päckchen wieder in ihren Schubladen verschließen kann.
Diese Zeit habe ich hier und diese Zeit gestehe ich mir auch zu. Deshalb habt ihr mich die ersten drei Tage nicht zu Gesicht bekommen. Mir fehlt dann die Bereitschaft mich in einem größeren Maß auf andere Menschen einzulassen, als es die gemeinsamen Anwendungen und Therapiezeiten in den Gruppen von mir fordern."
Während sie mir all das erzählte, verlor sich ihr Blick immer weiter über das Wasser, dem Horizont entgegen, und ich konnte den Schmerz in ihren Augen erkennen, der ihre Worte begleitete.
„Es gibt hier auf Borkum zwei Plätze, an denen ich mich am wohlsten fühle um die Schubladen aufzuräumen. Hier an der Brandungszone und in der Nähe von der heimlichen Liebe. Dort, wenn ich am Ende des Deichs am Geländer sitze und mich im Sonnenuntergang verliere."
Langsam fand ihr entrückter Blick seinen Weg zurück zum Strand und zu mir. Mit festem Blick schaute sie mich schließlich an und sagte abschließend: „Rebecca, ich weiß, dass wir dir das schon einmal sagten, aber trotzdem ..., wenn du über irgendetwas mit uns reden möchtest, dann sind wir alle für dich da, wann immer du willst!"
*****
Ich hatte viele Fragen und viele Themen, über die ich gerne gesprochen hätte, aber diese Fragen auch zu stellen oder auch über mich und ihn zu reden - so weit war ich noch nicht. Auch wollte ich am liebsten alles über Olivia und ihr Leben erfahren. Noch aber fehlte mir der Mut, es auch auszusprechen.
Mein Zeitgefühl war verloren, aber wir wussten beide, dass es Zeit wurde zurückzugehen.
Am Strandkorb erwartete uns bereits das restliche Kleeblatt. Als wir sie sahen, schauten wir uns breit grinsend an. Vor dem Strandkorb standen sie und lachten fröhlich durcheinander, weil sie zu dritt versuchten fünf lachende Bälle in der Luft zu halten.
„Kinder!", prustete Olivia. Ertappt schauten sie in unsere Richtung und alle Bälle landeten im Sand zu ihren Füßen. Gemeinsam beschlossen wir den Abend, mit einem Bier und Bratwurst von der nächstgelegenen Bude, am Strandkorb zu verbringen. Diese Freiheit hatten wir. Es gab keinen Zwang für uns zum Abendbrot in der Klinik zu erscheinen.
Bis in den Abend hinein verbrachten wir unbeschwerte Stunden am Strand. In diesen paar Stunden vergaß ich für eine Weile, dass es mir nicht gut ging. Ich vergaß die Last meiner Sorgen und fühlte mich leicht und frei, wie eine Feder bei ihrem Tanz mit dem Wind.
*****
Am Ende des Tages, als ich zufrieden, wie schon lange nicht mehr am Fenster in meinem Zimmer stand, las ich noch einmal meine Nachricht an ihn, die ich nach dem Abendbrot versandte.
Hallo Schatz! Es war heute so schön am Strand. Ich habe es so genossen im Strandkorb zu sitzen, zu lesen und das Leben um mich herum einzuatmen. Sommer auf der Insel - Genuss pur. Und stell Dir mal vor, heute habe ich das erste Mal den ganzen Weg bis zur Brandungszone geschafft!!!
Am Sonntagmorgen erhielt ich eine Antwort von ihm.
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