Kapitel 5

Borkum 2013 - Am Ende des dritten Tages

Die nächsten drei Tage vergingen wie im Flug. Fühlte ich mich am Tag meiner Anreise erschöpft vom Leben, so war ich am Ende dieser drei Tage zusätzlich erschöpft von der neuen Umgebung, den neuen Eindrücken, den Anforderungen des Klinikalltags, den vielen Menschen um mich herum und den kurzen Nachrichten, die zwischen ihm und mir hin und her gingen.

Irgendwann in der Nacht legte ich mich zurück in mein Bett und schlief wieder ein. Nachdem ich meinen Koffer ausgepackt, mein kleines Bad eingerichtet und ihm die Nachricht über meine Ankunft versendet habe.

Am nächsten Morgen fand ich eine kurze Nachricht von ihm vor, in der stand:
Es tut mir leid".

An Details dieser drei Tage erinnere ich mich heute nicht mehr, sie verschwimmen miteinander und wenn ich versuche einzelne von ihnen in Gedanken zu greifen, dann purzeln sie übereinander, so als ob sie hoch in die Luft geworfen wurden und jetzt langsam wieder zur Erde hinabsinken. Auf ihrem Weg zurück schaue ich ihnen zu und warte darauf, welcher dieser Gedanken sich mir zuwendet und hängen bleibt. Am Ende fliegen sie alle an mir vorbei.

Was bleibt ist die Erinnerung, dass die Tage in der Klinik früh begannen. Zu den Laboruntersuchungen ging ich vor der Frühstückszeit, während danach die Anwendungen und Kurse stattfanden. Entgegen der allgemeinen Stimmung wegen des frühen Tagesbeginns, begrüßte ich es, dass ich bereits in den frühen Morgenstunden beschäftigt war.

Die Tage mit ihm, meine Angst nicht zu genügen und die immerwährende Sorge wieder etwas nicht seinen Ansprüchen entsprechend erfüllt zu haben oder erfüllen zu können, haben mich in den Nächten genauso achtsam werden lassen wie an den Tagen. Dieser frühe Start in den Tag passte nicht nur zu mir, er passte auch zu dem Leben auf der Insel.

Befürchtete ich anfangs noch, dass ein Aufenthalt in dieser Klinik, durch ihre Lage an der Promenade und dem Leben, das diese Lage mit sich brachte, mir nicht die erhoffte Ruhe bescheren konnte, so fand ich diese Befürchtung am Ende nicht bestätigt. Um Mitternacht war immer alles vorbei.

Der Beginn der Nachtruhe auf der Insel wurde mit dem Ende der Musik eingeläutet. Die letzten Gäste in den Restaurants tranken in Ruhe ihre Gläser leer, während die letzten Nachtschwärmer noch einmal ihre Kreise über den Strand zogen. Manche aus der Klinik standen auf eine letzte Zigarette und einem Gespräch vor der Mauer zusammen, bevor sie endgültig für die Nacht in das Klinikgebäude zurück mussten. Andere schauten von dort zu, wie die Nacht über die Nordsee hereinbrach.

Während die Badebucht an ihrem Anfang noch von den Lichtern der Promenade beschienen wurde, waren die Silhouetten der Strandläufer nur noch zu erahnen. In diesem sich brechenden Licht mit der Schwärze der aufziehenden Nacht, erschien die Badebucht so still und dunkel wie ein großer See, der sich zur Ruhe begab.

Weit draußen, wo die Lichter der Promenade den Strand nicht mehr erreichten - an der Brandungszone - wo das Auge die Nacht nicht mehr durchdringen konnte, war alles nur noch Geräusch.

Wir hörten das regelmäßige Rauschen der Brandung, wenn das Wasser der offenen See langsam durch die beginnende Nacht rollte und sich mit wiederkehrendem Grollen dem Strand näherte, um sich endlich rauschend an seinem Sand zu brechen, bevor der Sog es zurück in die See zog.

Diesem Gesang der See hörten wir zu, bevor unser Tag endete und wir dieses Idyll bis zum nächsten Tag hinter uns lassen mussten.

*****

Jeden Abend suchte ich mir für die letzte halbe Stunde des Tages einen Platz außerhalb des Zentrums. Weg von den Geräuschen der Promenade und ihrem überbordenden Lebensgefühl. Diesem Lärm, Licht und Gelächter - der Fröhlichkeit und Freude, die ich selber nicht empfinden konnte, entfloh ich an diesen ersten Abenden auf der Insel.

An einem Ende der Promenade, rechts entlang - in Richtung der Dünen, in deren weiteren Verlauf sich der FKK-Strand und die Strandsauna befanden - verlief ein befestigter Weg. An diesem Weg, der in den Dünen über Holzbohlen weiter in die Schutzgebiete der Insel führte, fand ich immer eine Bank zum Ausruhen.

Gegenüber lag die Nordsee mit ihrem Strand, der mit den kleinen Buden und seinen Strandkörben ein buntes Bild boten - in dieser abendlichen Ruhe. Hier konnte mein unruhiger Geist einen Ort zum Abschalten finden.

Die Betriebsamkeit in den meisten dieser kleinen Buden fand ein jähes Ende, wenn die Geschäftigkeit des Strandtages nachließ.

Während die Kurgäste am frühen Abend in den Speisesälen erwartet wurden, zogen sich die meisten Urlauber in ihre Unterkünfte zurück. Sie befreiten sich von den Spuren eines Strandtages und bereiteten sich darauf vor, die letzten Stunden des Tages in dieser sommerlichen Atmosphäre zu verbringen.

Am Abend erwachte die Promenade - unter dem Schein der Laternen und dem Glanz der Sterne - in neuem Licht zum Leben.

In entgegengesetzter Richtung, am anderen Ende der Promenade veränderte sich dieses Strandbild.

Hier am Übergang zum Schwarzen Deich, kam das Wasser bei Flut bis hinauf an das Inselland. Nur zu Zeiten der Ebbe zog sich das Wasser ein Stück vom Deich zurück. Mit jedem Schwall des Wassers, das mit seiner ganzen Macht auf die Insel traf, machte sich die gewaltige See bei jedem Rückzug ein kleines Stück von ihrem Land zu Eigen. Sandkorn für Sandkorn und Erdkrumen für Erdkrumen holte sich die See ein Stück von der Insel.

Ließ ich meinen Blick über die Nordsee auf seinem Weg bis zur Deichkrone schweifen, durchbrachen Buhnen in regelmäßigen Abständen das Bild der wogenden See.

Diese aus großen Steinen bestehenden, mit Teer befestigten und dem Deich verbundenen Ausläufer, an denen sich das Wasser brechen konnte, ragten wie die Finger einer Hand von der Insel in die Nordsee. Hier endete auch vorerst das Gebiet der Strandkorbvermietungen.

Betrat ich diesen Weg, konnte mein Blick auf der Landseite ein Stückchen weiter vorne die Rutsche des Freizeitbades einfangen. Hoch erhoben ragte sie über den Deich hinaus. Begleitet wurden diese Spaziergänge von dem stetigen Wind, der von der Seeseite über die Insel wehte.

Dort am Ende der Promenade, am Übergang zum Schwarzen Deich, traf ich am Ende des Tages nur noch auf eine Handvoll Menschen, die wie ich den Tag mit ruhigen Momenten beenden wollten. Am Ende dieser Deichstrecke konnte mein Blick gerade noch die "Heimliche Liebe" erkennen, bevor der Durchlass durch die Dünen zum Südstrand den Weg vor den Augen des Betrachters verbarg.

In den ersten drei Tagen auf der Insel wählte ich am Abend den Weg rechts herum. Bot er mir doch mehr Schutz vor dem Wind, als die Strecke über den Deich. Sobald der Promenadenbereich hinter mir lag, legte sich die Geschäftigkeit um mich herum. Ein Buch hatte ich immer dabei, gelesen habe ich nie. Oft saß ich einfach nur auf einer Bank und sah über das Stück des Weges, weiter über die Buden, die Strandkörbe und den Strand hinweg in Richtung Nordsee. Ließ die Ereignisse des jeweiligen Tages an mir vorbeiziehen, so lange, bis ich an nichts mehr dachte.

*****

Früher hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass ich einmal nicht an irgendetwas denken könnte. Heute weiß ich, wie das geht - nicht zu denken.

Wenn Lars mich am Anfang unserer Freundschaft so sah - irgendwo sitzend und in die Gegend starrend, weit von der Welt entfernt - fragte er mich oft: „Rebecca? - Ist alles in Ordnung?" Meistens fiel es mir schwer mich von mir zu lösen und ihm zu antworten. Es war immer dieselbe Antwort: „Ja Lars, es geht mir gut. Ich schaue ein paar Löcher in die Luft."

Heute fragt er nicht mehr, heute nimmt er einfach meine Hand. So oft er das tut, versendet er Signale an mich, dass er für mich da ist - hat Angst, dass ich mich in den Luftlöchern verirre und den Weg zurück zu mir nicht mehr finden kann. Seine Angst berührt mich jedes Mal aufs Neue, deshalb erhält er immer einen leichten Druck meiner Hand zurück - immer - er soll wissen, dass ich noch da bin.

Mit ihm konnte ich so etwas nie. Bei ihm war ich immer wachsam. Nie wusste ich, wann ich in seinen Augen wieder einen Fehler begann, für den ich später viel Zeit aufwenden musste um ihn wiedergutzumachen. Die Zeit zwischen den Fehlern, die ich in seinen Augen vollbrachte, wurde immer kürzer. Jede Wiedergutmachung zehrte an meinen Nerven und entzog mir Lebenskraft.

Heute weiß ich nicht mehr, wie ich es überhaupt aushalten konnte.

"Miss Elli" hat dazu eine Meinung. Sie glaubt, dass ich es aushielt, weil es ein schleichender Prozess in unserer Beziehung war. Unser beider Verhalten hat sich entwickelt.

Früher, ganz am Anfang unserer Beziehung gab es sie, die kleinen Gesten der Zuneigung. Je mehr ich seinem Charakter der Kontrolle und der Schuldzuweisungen nachgab, in der trügerischen Annahme damit den Frieden in unserer Beziehung zu erhalten, umso mehr Oberhand gewann er. Hätte ich damals schon gewusst wie das geht - seinen eigenen Standpunkt zu vertreten, eine Meinung zu haben und sie auch zu vertreten, ihm die Stirn zu bieten - wer weiß?

"Miss Elli" glaubt, dass es unsere Beziehung nicht gerettet hätte. Vielleicht wäre sie nur früher durch einen von uns beendet worden. Sie glaubt, dass Menschen wie er, die Gefangene ihrer eigenen Persönlichkeit sind, weil sie glauben mit allem im Recht zu sein, was sie tun und denken - also diejenigen, die gar nicht erst zulassen darüber nachzudenken, ob sie etwas falsch machen, weil sie ja Recht haben - sich schwer bis gar nicht ändern können.

Das können sie aus dem Grunde nicht, weil diese Menschen, wenn sie nicht ein kleines Bisschen Selbsterkenntnis besitzen, keinen Punkt haben, an dem jemand anderes ansetzen kann um sie dafür zu sensibilisieren, dass etwas in falschen Bahnen läuft. Diese Menschen fühlen sich gut so wie sie sind. Der Partner ist es, der fehlerhaft ist und sich ändern muss.

Deshalb sagt "Miss Elli" auch, dass bei diesen Menschen Hopfen und Malz verloren sind.

Sehr selten erlebt sie Partner, wo dieses Quäntchen Selbsterkenntnis vorhanden ist - Menschen bei denen es diese Ansatzpunkte gibt. Bei ihnen gibt es Möglichkeiten für Veränderungen - manchmal.

Dieses Quäntchen gab es bei ihm nicht. Seine Entschuldigungen waren vorgeschoben. Sie entsprangen nur seiner Angst die Kontrolle zu verlieren. Sein "manipulatives Ich" hatte sich schon eine Strategie überlegt, wie er mich zurück in die alten Formen und Strukturen bringen konnte.

*****

Selbst am Tage gelang es mir, die Geräusche und den Trubel von draußen auszusperren, wenn sie mir zu viel wurden.

Wie Schwester Ingelore es mir auf dem Weg zu meinem Zimmer prophezeite, bot der Strandkorb auf der Station mir die Möglichkeit des Rückzugs. Während das Leben auf der Promenade und am Strand wie ein Stummfilm an meinen Augen vorüberzog, fand ich - mit den Alltagsgeräuschen der Station im Hintergrund - innerlich zur Ruhe.

Das Klinikpersonal übte sanften Druck auf mich aus, damit ich mich an den zusätzlichen Angeboten für die Freizeitaktivitäten beteiligte. Durch die Teilnahme an diesen Kursen, wenn mein Geist abgelenkt war durch die Konzentration auf die Übungen, gelang es ihnen langsam mich aus meiner Gedankenwelt hervorzulocken. Was mir in dieser Hinsicht guttat, empfanden andere als hinderlich.

Dort, wo es mir guttat, dass jemand sanft meinen Alltag bestimmte - durch Pläne und Hinweise auf Kurse - fühlten andere sich gegängelt und eingeschränkt.

*****

Rückblickend betrachte, war es sicherlich so, dass die Terminpläne der ersten drei Tage noch entzerrt waren gegenüber den Plänen der kommenden Wochen - dennoch fühlte auch ich mich in den ersten drei Tagen restlos überfordert.

Wenn ich an die Zeit in der Klinik denke, dann denke ich an "Meine Zeit in der Klinik". Spreche ich gegenüber Dritten von dieser Zeit, erzähle ich von „Wir" und „Uns" - Inge, Orla, Harald und ich.

Was auf dem Weg zum Fahrstuhl begann und drei Wochen später mit dem Weg zurück zur Fähre ein vorläufiges Ende fand, entwickelte sich über die letzten vier Jahre zu einer Freundschaft, für die ich jeden Tag dankbar bin.

*****

An unserem ersten Abend fanden wir uns wie selbstverständlich im Speisesaal zusammen. Genauso selbstverständlich wurde ich ein Teil dieser kleinen Gruppe Menschen. Alle hatten wir mit denselben Problemen eines ungewohnten Alltags in einer Klinik auf einer Insel zu kämpfen.

Gemeinsam erkundeten wir die Wege und tauschten unsere Erfahrungen zum Klinikalltag aus.

Über ihn sprach ich in dieser Anfangszeit nie - auch nicht mit meinem Arzt.

Dieser Arzt entpuppte sich als zugänglicher, mir zugewandter Mensch. Während unseres Eingangsgespräches und der ersten Untersuchung, erhielt ich von diesem Arzt das Angebot an einem Gesprächskreis teilzunehmen - ein psychologischer Gesprächskreis.

Die Teilnahme an diesen Gesprächen war freiwillig. In dieser Hinsicht wurde kein Druck auf mich ausgeübt. Obwohl ich dieses Angebot sofort ausschlug, klingen mir die Worte des Arztes heute noch im Ohr.

„Frau Fröhlich!", sprach er, während der mich weiter untersuchte, „Mir ist es wichtig, dass sie verstehen, welche Möglichkeiten wir ihnen bieten können. Sollten Sie es sich überlegen, sprechen Sie mich an. Sie können sich auch jederzeit einen Termin außerhalb des Terminplans besorgen, dabei unterstützen Sie unsere Damen in der Terminplanung."

*****

Von ihm erhielt ich ab und zu eine Nachricht mit einem Herzchen, ein Bild oder ein paar liebe Worte, die ich genauso beantwortete. Meine kleine Welt, die sich um ihn drehte, geriet in ruhigere Bahnen, sodass ich etwas aufatmen konnte. Es war alles wieder gut.

Wenn ich in neunzehn Tagen nach Hause fuhr, hatte ich meinen Platz in seinem Herzen und unserer Wohnung nicht verloren.

*****

Jeden Abend, wenn ich mir meinen Platz rechts herum - weg von der Promenade - suchte, begegnete mir die Frau aus der Kleinbahn. Immer kam sie mir mit federleichten Schritten entgegen. Immer trug sie die Kapuzenjacke über dem Arm, um die Schulter geschlungen hing ihr die farbenfrohe Tasche über den Rücken.

Bereits beim ersten Mal begegnete sie mir mit einem Blick des Erkennens. Begleitet wurde ihr freundlicher Blick von einem Lächeln und einem Gruß in meine Richtung, den sie durch das Nicken mit ihrem Kopf zu mir schickte. Jedes Mal beneidete ich sie um ihre Leichtigkeit, mit der sie dem Leben entgegentrat.

So gerne wollte ich diese, von allen Sorgen des Alltags befreite Person sein. Wie gut musste es sich anfühlen keine Lebensängste haben zu müssen. Ich machte mir ein Bild von ihr, das mir gefiel. So wie sie durch das Leben ging, konnte es ihr nur gut gehen. Wie gerne wäre ich dieser Mensch auf der Sonnenseite des Lebens gewesen.

*****

Auch wenn ich spürte, dass ich noch einen Platz bei ihm hatte, wollte sich nicht das Glücksgefühl einstellen wie sonst. Was uns in diesen Tagen verband fühlte sich nicht nach Frieden an. Bestenfalls handelte es sich um einen Waffenstillstand.

Was damals als Ahnung durch meine Gedanken streifte, sollte sich kurze Zeit nach meinem Aufenthalt auf Borkum bewahrheiten.

"Miss Elli" glaubt, dass mein Unterbewusstsein bereits im Krankenhaus die Zeichen der Zeit erkannt hat.

Weil ich die Rebecca, die ich gerne gewesen wäre gut vor mir selber versteckt habe, hat es noch eine ganze Zeit gebraucht, bis mein Unterbewusstsein mit seinen Ahnungen an die Oberfläche dringen - zu mir durchdringen - konnte.

*****

Am Ende dieser drei Tage, kaum wahrnehmbar, dennoch zart vorhanden, sah ich beim Blick in den Spiegel, wie sich ein goldener Abglanz der Sonne in einer feinen Bräunung über mein sonst von ständiger Blässe gezeichnetes Gesicht zog.

Zaghaft lächelte ich meinem Spiegelbild entgegen, bevor ich mich wie immer an mein Fenster stellte, um der Nordsee einen letzten Blick zuzuwerfen.

An diesem Abend versank ich in einen traumlosen und erholsamen Schlaf.

*****

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