Kapitel 4

Borkum 2013 - Die Klinik

Täglich bin ich dieses Jahr in meinem Urlaub an der Klinik vorbeigekommen, in der ich damals unterkam. Aufgrund ihrer Lage an der Promenade, ist das fast unumgänglich. Jeden Tag habe ich im Stillen das Wort "Danke" ausgesprochen.

Die Klinik bot Platz für 190 Betten. Die meisten Patienten kamen in Einzelzimmern unter. Es gab aber auch Doppelzimmer und sogenannte Appartements. Um diese konnte man sich bewerben, wenn der jeweilige "gesunde" Partner mit anreisen wollte - wenige - aber es gab sie. Für manche Patienten ist es wichtig für den Genesungsprozess, wenn sie nicht alleine sind oder der Partner über das Wochenende zu Besuch kommt. Für manche bedeutet es eine unglaubliche Überwindung sich aus ihrer gewohnten Umgebung zu lösen. Das Gefühl kannte ich - heute bin ich dankbar, dass es für ihn nicht infrage kam mich auf die Insel zu begleiten.

Am Empfang erhielt ich meinen Zimmerschlüssel, eine Wegbeschreibung, Informationen über den Klinikablauf und die Essenszeiten. Es war ein Dienstag an dem ich anreiste, genau wie so viele andere. Haupt An - und Abreisetage waren Dienstage und Donnerstage. An diesen Tagen fand für alle bis dahin angereisten Patienten am späteren Abend eine Begrüßung durch den Klinikchef statt. Ein Pflichtprogramm, wie man mir sagte.

Auf meinem Zimmer angekommen, sollte ich mich mit allen Informationen vertraut machen, die mir mit dem Zimmerschlüssel ausgehändigt wurden. Dabei hatte ich eben am Empfang bereits so viele Informationen erhalten, dass ich schon gar nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand.

In einer Art und Weise, die klar machte, dass es für sie einer Routine entsprach, informierte mich die Dame vom Empfang über alles, was für den ersten Abend und für den Klinikablauf wichtig war:
„Das Abendbrot nehmen Sie um 18:00 Uhr ein. Anschließend erfolgt die Begrüßung durch den Chefarzt der Klinik - um 19:00 Uhr - für alle neu angereisten Patienten, im großen Sitzungssaal. Den großen Sitzungssaal finden Sie direkt vor dem Speisesaal. Gleich hier, hinter dem Aufenthaltsraum, welchen sie den Gang hinauf auf der linken Seite bereits sehen können. Hier an der linken Seite vom Empfang sehen Sie die Postfächer. Zu jeder Zimmernummer gehört ein Postfach. Der Schlüssel hierzu befindet sich mit an Ihrem Schlüsselbund für das Zimmer. In dem Postfach werden Sie heute Abend Ihren ersten Plan finden. Auf diesem stehen dann Ihre Termine für die ersten Untersuchungen. Nach diesen Untersuchungen erhalten Sie ihren Terminplan. Jeden Samstagabend erhalten Sie die den Plan für die Woche. Es kann aber auch immer zu Abweichungen kommen, deshalb sollten Sie immer nach den Mahlzeiten in Ihr Postfach sehen. Neben den Postfächern befindet sich eine Cafeteria, dort erhalten Sie auch ... Morgen Früh finden Sie sich bitte eine Viertelstunde vor Ihrer Frühstückszeit vor dem Eingang zum Speisesaal ein, dort erhalten Sie eine Einweisung in den Apparat, mit dem Sie sich ihr Essen vorbestellen können ..."

„Das glaube ich jetzt nicht!", unterbrach in diesem Moment eine helle Stimme neben mir den Monolog der Frau. „Das kann sich doch im Leben keiner merken", quietschte sie weiter in Richtung des Empfangs.

Inzwischen standen wir zu viert vor dem Tresen und hörten der Dame bei ihren Ausführungen zu.

Das aufgeregte Quietschen kam von einer kleinen und zierlich wirkenden, blonden Frau, die ungefähr in meinem Alter sein musste. Neben ihr standen eine ältere, mittelkräftige Frau, deren einstmals braune Haare von grauen Strähnen durchzogen wurden und ein Herr, der ebenfalls nicht mehr jung wirkte.

Freundlich lächelte die Dame vom Empfang uns an und sagte: „Keine Sorge, das müssen Sie auch nicht. Hier habe ich Unterlagen für Sie, in denen Sie alles nachlesen können und wenn Sie noch Fragen haben, sind wir heute noch bis 20:00 Uhr für Sie da. Wenn Sie jetzt auf die Station gehen, melden Sie sich bitte zuerst im Stationszimmer bei der Schwester an."

Sie drückte jedem eine Mappe in die Hand, wünschte uns einen angenehmen Aufenthalt und wandte sich der nächsten Gruppe zu.

Völlig erschlagen nahm unser kleines Grüppchen die Koffer hoch. „Wie war das noch gleich?", fragte die ältere Frau, „links der Speisesaal, dann der große Sitzungssaal, auf der rechten Seite davon die Fahrstühle ... oder andersherum?"

Die blonde junge Frau wackelte mit dem Kopf, ich zuckte die Schultern und der Herr sagte: „Nun, auf jeden Fall habe ich es auch so verstanden, dass es hier den Gang hochgehen sollte. Ich denke doch, dass wir es gemeinsam schaffen werden den Fahrstuhl zu finden." Dabei schaute er uns verschmitzt lächelnd an und ging voraus.

Die beiden Frauen stiegen in der zweiten Etage aus, ich in der Dritten und der Herr fuhr weiter bis in die vierte Etage.

*****

Auf dem Weg zum Stationszimmer fielen mir mehrere Dinge auf. Zum einen wirkte der Flur, von dem die Zimmer abgingen, sehr hell und freundlich. An den Wänden hingen Bilder mit Strandmotiven. In einer Ecke stand eine, liebevoll mit Strandgut dekorierte, Vitrine und es gab viele bodentiefe Fenster, die den Flur mit Licht fluteten. Zum anderen war von der Unruhe, die mich draußen noch umgab, nichts mehr zu spüren. Vor einem der großen Fenster stand ein weißer Strandkorb mit blau-weiß gestreiftem Innenleben und einem kleinen Tisch mit Zeitschriften davor. Der direkte Blick von hier aus auf den Strand und die Nordsee rundete das Bild einer Urlaubsidylle ab.


Meine Augen streiften über die Szenen, die sich dort unten meinem ruhelosen Geist boten. Rastlos huschten sie über das Wasser der Nordsee, in dem sich immer noch die Nachmittagssonne spiegelte, bevor sie langsam zur Ruhe kamen, je länger ich auf das Wasser starrte. Von hier oben aus konnte mein Blick das Strandleben hinter sich lassen und sich ganz in der Weite bis hinter den Horizont verlieren.

Eine sanfte Stimme sprach mich an: „Frau Fröhlich?", freundlich aber drängend - so als ob sie mich nicht das erste Mal bei meinem Namen rief. Langsam wandte ich ihr mein Gesicht zu und sah in strahlende Augen, die aus tausend Sommersprossen hervorstachen. Mehr sah ich nicht, Augen und Sommersprossen. „Ich bin Schwester Ingelore, die Stationsschwester", stellte sie sich vor. „Schön, dass sie da sind!"

Während sie mit mir sprach, stellte sie sich neben mich und ließ ebenfalls ihren Blick schweifen - über den Strandkorb, an dessen Seite ich stand und aus dem Fenster hinaus. Mit einem warmherzigen Blick sah sie mich an und bemerkte: „Ein schöner Platz, nicht wahr? Hierhin können sie sich jederzeit zurückziehen, wenn es ihnen da draußen mal zu bunt wird oder sie einfach nur einen Kaffee trinken möchten. Da vorne haben wir eine Teeküche, die können Sie bis auf die Reinigungszeiten und die Zeiten der Nachtruhe nutzen. Manche Patienten treffen sich in dem kleinen Vorraum auch zum Spielen, aber in aller Regel ist es hier ruhig.

Jetzt müssen Sie aber bitte erst einmal mit ins Stationszimmer kommen, bevor Sie sich mit allem vertraut machen können, damit ich Sie formal aufnehmen kann. Auch wenn wir kein Krankenhaus sind, so sind wir eben doch eine medizinische Einrichtung, als Rehaklinik. Bis um 20:00 Uhr erreichen Sie mich hier - im Stationszimmer. Wenn in der Nacht irgendetwas sein sollte, scheuen Sie sich nicht zu kommen. Philipp wird heute Nachtdienst haben. Im Notfall benutzen Sie den roten Knopf neben ihrem Bett, es hat immer ein Arzt Rufbereitschaft.

Zwar versuchen wir unseren Patienten den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten, aber trotzdem ist es erforderlich, dass Untersuchungen stattfinden und Belastungstests, Visiten, Vorträge, Anwendungen, Sport und Entspannungsangebote durchgeführt und wahrgenommen werden. Darüber hinaus sind wir aber auch darum bemüht, dass sie genügend Zeit haben die herrliche Natur der Insel und die gute Luft zu genießen. Wir können hier gemeinsam einiges für Sie tun."

Etwas später, auf dem Weg zu meinem Zimmer, kamen wir wieder an dem Strandkorb vorbei. Dieses Mal blieb Schwester Ingelore stehen, sah zum Fenster hinaus und sprach: „Dort hinten, ganz am Ende, wo der Strand aussieht, als ob er in das Wasser läuft, dort befindet sich die Brandungszone. Bessere Luft als in diesem Bereich werden Sie nirgends finden. Wir empfehlen unseren Patienten einmal täglich dorthin zu gehen und ein bisschen zu verweilen. Insgesamt sollten Sie etwa eine Stunde einplanen - falls Sie mal zwischen den Terminen dorthin wollen. Wenn Sie hier ein Stückchen weiter links schauen, können Sie eine Sandbank sehen. Dort hat sich eine Robbenkolonie angesiedelt. An klaren Tagen können sie die Tiere mit dem bloßen Auge von hier aus erkennen."

Während sie sprach, wies sie mir mit ihrer Hand den Weg - über den DLRG Stand hinweg, der sich links in meinem Sichtfeld am Badestrand befand - bis auch mein Blick den Sandstreifen hinter der Badebucht erkennen konnte.

Lange konnten wir nicht verweilen.

Schwester Ingelore brachte mich zu meinem Zimmer. In diesen hellen und funktionellen Raum mit einem Bett, einem Schrank, einer kleinen Schreibablage und einem Sessel. Vorgelagert gab es ein Badezimmer und diesem gegenüber eine Garderobe. An den Wänden hing ein Bild, das - wie die Bilder auf den Fluren - eine Strandlandschaft als Motiv darstellte. Auch wenn es nicht viel war, es waren für die nächsten drei Wochen meine vier Wände.

Während ich mich umsah und jedes noch so kleine Detail in mich aufnahm, bereitete Schwester Ingelore mich in ihrer freundlichen, fürsorglichen aber auch bestimmten Art darauf vor, dass ich gleich auf mich alleine gestellt wäre.

„Kommen Sie in Ruhe an Frau Fröhlich.", sprach sie mit mir, während sie mir zeigte, wie ich das Fenster richtig bediente. Auf Grund der Nähe zum Meer handelte es sich um sogenannte "Sturmfenster" mit einem besonderen Schließmechanismus. „Am Empfang haben Sie ja bereits die Informationen erhalten, die für Sie heute Abend und morgen früh wichtig sind, nicht wahr?", fuhr sie fort. Automatisch nickte ich. „Frau Fröhlich", setze sie ihre Ausführungen fort, „trotzdem ist es wichtig, dass Sie die Informationen in der Mappe auch noch einmal lesen. Gerade am Anfang stürmen so viele Informationen auf Sie ein. Aber - und das sage ich ganz bewusst, es muss nicht heute sein!

Morgen früh benötigen wir nur eine Eingangsuntersuchung und Sie haben Ihr erstes Arztgespräch. Meistens findet auch noch eine Teilnahme an einem Vortrag statt. Gerade in den ersten Tagen tun sich unsere Patienten manchmal schwer mit der Klimaumstellung, deshalb sind die ersten drei Tage nicht so stark gefüllt mit Terminen. Sie werden morgen Zeit haben sich mit allem vertraut zu machen, und das Umfeld zu erkunden. Jetzt lasse ich Sie erst einmal alleine. Sollte etwas sein, finden Sie mich im Schwesternzimmer."

Nachdem sie sich mit einem Blick vergewissert hatte, dass ich alles aufnahm, was sie zu mir sprach, nickte sie mir noch einmal aufmunternd zu, bevor sie leise die Tür hinter sich ins Schloss zog.

*****

Meinen Koffer ließ ich einfach dort stehen, wo ich ihn abgestellt hatte und ging zum Fenster. Es bot mir einen seitlichen Blick auf die Nordsee. Von hier aus konnte ich einen Teil der Mauer überblicken, welche die Promenade mit ihren Zugängen zum Strand abgrenzte.

Hier stand ich auch, als ich mitten in der Nacht wach wurde und mir die zweiunddreißig Nachrichten von ihm erneut durchlas. Dreißigmal Beschimpfungen, zweimal Gerede von Entschuldigung und Wiedergutmachung - immer noch - Tränen hatte ich keine mehr übrig.

Ich schrieb ihm eine Nachricht.

Bin angekommen!

Danach packte ich meinen Koffer aus.

*****

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