Kapitel 3
Borkum 2013 - Tag der Anreise
Wenn ich heute an die ersten Tage in der Klinik zurückdenke, weiß ich gar nicht mehr, wie genau ich sie überstanden habe. Sie gingen unter in der Fülle neuer Eindrücke, die alles andere überlagerten. Einzig und alleine der Tag meiner Anreise steht mir vor meinem inneren Auge, als wäre es gestern gewesen.
Als ich meine Tasche aufnahm und meinen Weg zur Klinik fortsetzte, mit all meinen Ängsten vor der Zukunft im Gepäck, ahnte ich nicht, wie sehr sich mein Leben nach diesen drei Wochen auf der Insel verändern sollte.
Heute weiß ich - es war einer der ersten Schritte in mein Leben.
*****
Am Morgen haben er und ich uns wortlos voneinander verabschiedet. Beim Frühstück kaute er schweigend auf seinem Brötchen herum und musterte mich immer wieder von oben bis unten, begleitet von einem ständigen Kopfschütteln - vorwurfsvoll!
In den vergangenen zwei Tagen hatte er mir immer wieder vorgehalten, ich sei egoistisch, nicht fähig und in der Lage auch nur einmal an jemand anderen zu denken, als an mich selbst.
Seine Worte brannten sich in mein Hirn und in mein Herz - bis heute habe ich sie nicht vergessen.
„Nur einmal Rebecca!", hat er gesagt. „Kannst du auch nur einmal in deinem verdammten Leben an jemand anderen denken, als an dich? Erst ruhst du dich tagelang im Krankenhaus aus und lässt mich hier alleine, und jetzt machst du auch noch Urlaub. Ich bin derjenige, der jeden Tag in das beschissene Büro fährt und das Geld nach Hause bringt. Ohne mich wärst du doch überhaupt nichts. Oder glaubst du, von deinen paar Kröten, die du als Verkäuferin nach Hause bringst, könntest du auch nur die Wohnung bezahlen. Aber nein, du musst ja jetzt auf deine Gesundheit achten. Dass ich nicht lache.
Ein Urlaub auf Kosten der Krankenkasse wird das. Aber mach mal, du wirst schon sehen, was du davon hast. Von mir wirst du nichts hören - gar nichts! Ich muss nämlich das Geld verdienen, dass meine ach so kranke Freundin ausgeben will. Dann kannst du ja mal sehen, ob das alles so toll ist.
Du bist ja nicht einmal in der Lage eine Unterschrift unter ein einfaches Formular zu setzten.
Das sage ich dir! Wenn du wiederkommst, dann sei dir nicht so sicher, dass du hier noch einen Platz hast. Ich bin schließlich derjenige der hier alles tut und macht. Du kannst doch gar nichts alleine. Immer brauchst du jemanden, der dir sagt, wo es langgeht. Alleine bist du gar nicht lebensfähig. Kannst in deinem Urlaub ja mal drüber nachdenken." Im sarkastischen Ton spie er mir noch: „Einen schönen Urlaub wünsche ich dir!" entgegen, bevor er in Schweigen verfiel.
Unter seinen Worten wurde ich immer kleiner. Tränen rannen aus meinen Augen und wollten gar nicht mehr aufhören zu fließen.
*****
Schon lange hatte ich es aufgegeben, mich mit Worten zu wehren. Wenn ich sprach, wurde seine Wut auf mich nur noch mehr befeuert. Meine Tränen sah er nicht in solchen Momenten.
Egal wann er seine Monologe in den letzten Jahren hinsichtlich meiner Unfähigkeit abhielt, stiefelte er durch die ganze Wohnung und brüllte seine Wut lauthals heraus, während ich auf dem Sofa saß, in mir selbst versank und darauf wartete, dass er damit aufhört.
Führte sein Weg während dieser Tiraden doch einmal in das Wohnzimmer - zu meiner Sofaecke - versuchte ich mich unsichtbar zu machen. Sein vom Gebrüll roter Kopf und die Ader an seinem Hals, die immer mehr anschwoll, je mehr er sich in Rage redete, machten mir Angst. Jedes Mal aufs Neue wartete ich darauf, dass er die Schwelle zur Handgreiflichkeit überschreitet. Er tat es nie. Dennoch fühlte ich mich hinterher zerschunden und geschlagen - wie ein Boxer im Ring, der zwölf Runden gekämpft hat. Die Kraft war entschwunden. Was übrig blieb, war das Gefühl purer Hilflosigkeit und eine Kraftlosigkeit, die an grenzenlose Erschöpfung erinnert.
Zuletzt gestern Abend. Seitdem - nichts mehr - kein Wort, so wie immer.
Wenn ich ihn in Zorn versetzt habe, werde ich mit Nichtachtung gestraft. Immer! So lange, bis ich meine Verfehlungen einsehe und mich bei ihm entschuldige. Besiegelt wird meine Entschuldigung im Schlafzimmer. Danach gehe ich duschen - immer!
Gestern nicht.
Ich habe mich nicht entschuldigt!
*****
Am Frühstückstisch habe ich mich ganz klein gemacht hinter meinem großen Kaffeepott mit den vielen Herzen, den ich von ihm vor sieben Jahren geschenkt bekam, als wir gemeinsam in diese Wohnung zogen. Ich machte mich so unsichtbar, wie es mir möglich war.
Während der ganzen Zeit sah ich ihm nicht direkt in die Augen. Ich funktionierte und hatte Angst, dass er von vorne anfing, mit den Beschuldigungen und Beleidigungen.
Selbst heute weiß ich nicht, was schlimmer für mich war. Sein Geschrei des vorangegangenen Abends oder die stumme Nichtachtung und Missbilligung des Morgens danach. Die Spannung, die während der Mahlzeit in der Luft lag, empfand ich als unerträglich und das Gefühl meiner eigenen Hilflosigkeit führte mich an den Rand der Verzweiflung.
Heute frage ich mich noch manchmal, wo all die Herzen vom Anfang unserer Beziehung abgeblieben sind. Es gab sie! Ein paar in Wirklichkeit und ein paar als Schatten ihrer selbst in meinem Wunschdenken.
Ich schaute nicht mehr hin zu seinem Kopf, der immer und immer wieder nur verständnislos wackelte. Hin- und hergerissen zwischen meinen Empfindungen und Gefühlen, wusste ich, versteckt hinter meinem Kaffeepott, einfach nicht, was ich jetzt tun sollte.
Nach dem Frühstück war ich so weit. Ich wollte in der Klinik anrufen um Bescheid zu geben, dass ich nicht anreise. Wollte meinen Koffer auspacken.
Zu groß war die Angst, dass ich hier, in dieser Wohnung, die ich mein zu Hause nannte, keinen Platz mehr habe, wenn ich wiederkomme. Am liebsten wollte ich mich an ihn schmeißen und mich entschuldigen, mein ganzes Gefühl zog mich zu ihm hin.
*****
"Miss Elli" und ich haben viel über diesen Moment gesprochen. Durch diese Gespräche mit ihr und ihren Fragen, die sie mir immer stellte - sie hinterfragte alles - konnte ich erkennen, dass dieses Gefühl ausschließlich meiner Angst entsprang. Denn, obwohl meine Angst alles zu verlieren übergroß war, hatte sich bereits in den Tagen im Krankenhaus etwas in mir verändert.
Nie gab "Miss Elli" mir Lösungen vor. Jede kleine Erkenntnis musste ich mir selbst erarbeiten.
Damals fand ich es zuweilen anstrengend, dieses "Immer über alles nachdenken", heute weiß ich, dass es für mich genau der richtige Weg war. Durch ihre Fragen versetzte sie mich in die Lage, eine andere Rolle einzunehmen - mein Leben gewissermaßen von oben zu betrachten.
*****
Er ging heute Morgen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Zog die Tür hinter sich ins Schloss und ließ mich mit mir und meiner Angst alleine. Und er wusste, dass ich Angst hatte. Er kannte sie besser als ich selbst. Er kannte all die Knöpfe, die er drücken musste, damit ich alles tat wie erwartet.
Er wusste genau, dass ich heute Abend zu Hause sein werde, dass das Essen auf dem Tisch steht, wenn er nachhause kommt, dass ich mich entschuldigen werde, dass meine Entschuldigung im Schlafzimmer besiegelt wird und dass ich dann duschen gehe - so wie immer.
Ich griff zum Telefonhörer und wählte ...
Im Krankenhaus wurde mir gesagt, dass viermal zwei Hub von dem Notfallspray die höchste Dosis wäre, die ich nehmen dürfte. Ich darf und soll es immer nehmen, wenn ich spüre, dass der Druck auf der Brust zunimmt, wenn ich merke, dass die alte und verbrauchte Luft ihren Weg nicht mehr herausfindet aus meinem Körper, weil die Bronchien sich zusammenziehen. Aber was macht man, wenn der Druck nicht aufhört, wenn die Last den ganzen Tag andauert, wenn vier Mal zwei Hübe am Tage nicht genug sind?
... es tutete und beim dritten Klingeln wurde abgenommen. „Hausärztliche Gemeinschaftspraxis Sorgenfrei, sie sprechen mit Annefried, was kann ich für sie tun?", meldete sich die Helferin. Weinend brach ich zusammen und nur Augenblicke später war meine Hausärztin am Apparat.
Auch ihre Worte werde ich nie vergessen: „Frau Fröhlich, in einer Stunde kann ich bei Ihnen sein, ich muss hier noch etwas umorganisieren, damit die Sprechstunde weitergehen kann und dann bin ich da!". Es dauerte eine Weile, bis ich registrierte, was sie da gerade sagte - nicht etwa: „Beruhigen Sie sich und kommen her", sondern "Ich bin da!", das war sie dann auch.
Meine Hausärztin war diejenige, die vor ein paar Tagen dafür Sorge trug, dass ich ins Krankenhaus kam. Jetzt war sie wieder da und sorgte sich um mich und für mich. Das erste Mal in meinem Leben, dass jemand etwas für mich tat. Nicht nur, weil er mein Handeln zur Bestätigung seiner selbst brauchte, sondern weil er sich um mich sorgte. Sie war auch der Meinung, dass ich psychologische Unterstützung benötige, die Ärzte im Krankenhaus auch - diesen Weg konnte ich aber nicht gehen.
Immer wieder muss ich an ihre Worte denken: „Sie haben Glück, dass ihr Körper Ihnen diese Warnsignale jetzt sendet. Ich weiß, das Asthma ist nicht leicht zu ertragen, aber mit Asthma kann man leben. Sie können lernen die Anzeichen eines Anfalls zu erkennen und auslösende Situationen zu vermeiden. Sie sind erst fünfundzwanzig, Sie sind jung! Treten Sie ihr Glück nicht mit Füßen. Nutzen Sie die Anschlussheilbehandlung um ein bisschen Abstand zu gewinnen. Gönnen Sie sich ein bisschen Erholung. Es ist eine Chance. Jetzt können Sie es vielleicht nicht glauben, aber später - vielleicht, ich hoffe es! Es wird Ihnen guttun und ihrem Freund auch. Manchmal hilft es, wenn ein Partner etwas anderes tut, als erwartet wird. Geben Sie sich diese Chance!"
Sie gab mir ein leichtes Mittel zur Beruhigung: „Nur ein leichtes, Frau Fröhlich, sie wollen heute ja noch verreisen - oder?"
Zwei Stunden später zog auch ich die Tür hinter mir zu.
*****
Anhand der mitleidigen Blicke, die mir meine Nachbarinnen zuwarfen, als sie mir auf der Straße begegneten, erkannte ich, dass sie es wussten. Sie wussten, was er von mir hielt. Sein Brüllen dringt nicht nur in mein Hirn und in mein Herz, es dringt auch in die Küchen, Schlafzimmer und Wohnräume unserer Nachbarn. Schnell nickte ich ihnen einen kurzen Gruß zu und eilte, mit vor Scham gerötetem Gesicht, hastig an ihnen vorbei. Im Schlepptau meinen Koffer, der mit seinen Rollen ein Geräusch von Munterkeit auf dem Asphalt hinterließ, die ich selber nicht zu empfinden vermochte.
Auf der gesamten Zugfahrt gingen mir seine Worte: "Wenn du wiederkommst, dann sei dir nicht so sicher, dass du hier noch einen Platz hast. Ich bin schließlich derjenige der hier alles tut und macht. Du kannst doch gar nichts alleine. Immer brauchst du jemanden, der dir sagt, wo es langgeht. Alleine bist du gar nicht lebensfähig. Kannst in deinem Urlaub ja mal drüber nachdenken.", nicht mehr aus dem Sinn.
Sie überlagerten sich mit den Worten meiner Ärztin: "Manchmal hilft es, wenn ein Partner etwas anderes tut als erwartet wird. Geben sie sich diese Chance."
Wie das ständige Tschita, Tschita, Tschita der Räder auf den Gleisen von der Bahn, die mich der Insel näherbrachte, kreisten diese Gedanken immer und immer wieder in meinem Kopf. Fünf Stunden, in denen ich immer wieder auf mein Handy sah, ob nicht doch noch ein Anruf oder eine kleine Nachricht von ihm kam. Eine kleine Geste. Fünf Stunden - meine Gedanken kreisten und mein Handy schwieg.
*****
Obwohl draußen noch die Sonne schien und die letzten Urlauber gerade erst den Strand verließen, stand ich schon im Pyjama an dem Fenster meines Zimmers und schaute über die Promenade. An einem Stück der Mauer, die den oberen Bereich der Straße zu den Zugängen zur Promenade abgrenzte, blieb mein Blick an einer sportlichen, fast knabenhaften Figur mit kurzen braunen Haaren hängen. Obwohl ich sie heute zum ersten Mal sah, erschien sie mir in ihrer überdimensionierten Kapuzenjacke merkwürdig vertraut.
Bis heute habe ich keine Ahnung, wie lange ich wirklich am Fenster stand und ihr zusah, wie sie auf die Nordsee schaute. Ich weiß nur noch, dass es mich ruhiger werden ließ, dass mein Blick nicht mehr umherirrte und, dass ich auch innerlich ruhiger wurde. Ich erinnere mich auch, dass mein Handy in dieser Zeit ununterbrochen klingelte und mir mitteilte, dass eine Nachricht für mich eingegangen war.
Ich ließ es klingeln.
All meine Kraft und Energie des Tages waren aufgebraucht. War im ständigen Tschita, Tschita, Tschita der Bahn hängengeblieben und fokussierte sich jetzt auf eine übergroße Kapuzenjacke. Als mein Handy irgendwann aufhörte Geräusche zu machen und ich meinen Blick endlich von der Kapuzenjacke lösen konnte, war die Sonne bereits ins Wasser gefallen. In meiner Erinnerung stand die Frau die ganze Zeit da und sah auf die Nordsee - aber, das konnte nicht sein - oder?
Mit einem Seufzen wandte ich mich vom Fenster ab und meinem Handy zu. Gerne hätte ich in diesem Moment mit der Frau in der Kapuzenjacke getauscht.
Ein Blick auf mein Handy zeigte mir zweiunddreißig entgangene Nachrichten - alle von ihm. Dreißigmal Beschimpfungen, zweimal Gerede von Entschuldigung und Wiedergutmachung. Auch das war ein wiederkehrendes Muster in den seltenen Fällen dieser sieben gemeinsam verbrachten Jahre, in denen ich nicht das tat, was er erwartete.
Zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag kamen mir die Tränen hoch. Müde legte ich mein Handy zur Seite, krümmte mich wie unter Schmerzen unter meiner Decke zusammen und weinte mich in den Schlaf, an meinem ersten Tag auf Borkum.
Selbst heute, an meinem Platz am Geländer steigen mir Tränen des Mitleids für die junge Frau, die ich einst war, in die Augen. Gleichzeitig muss ich lächeln, denn das war damals - vor vier Jahren. Heute ist nicht damals - heute ist heute! Heute ist noch nicht alles besser, aber Vieles ist anders, und manches von dem Anderen fühlt sich schon gut an.
*****
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