Kapitel 2

Borkum 2013 - Olivia

Das erste Mal sah ich Olivia im Juni vor vier Jahren - am Bahnsteig der „Kleinbahn" - auf der Insel. Mit diesem alten Zug, der mit seinen bunten Waggons und der Lokomotive wie ein Relikt aus früheren Zeiten erschien und am Fähranleger auf uns wartete, erreichten wir nach kurzer Fahrt den kleinen Ort Borkum.

Auf der Fähre verloren sich die paar Menschen, die auf die Insel wollten. Bei dieser kleinen Bahn fanden wir uns alle wieder. Plötzlich wimmelte es wie in einem Bienenstock. Der Bahnsteig war erfüllt von Stimmengewirr und der Aufregung wegen der Ankunft am Urlaubs- oder Kurort. Die Luft schwirrte vom Schreien und Lachen der Kinder, die sich auf die Ferien an der See freuten. Hier wurde nach einer Schaufel gegriffen, dort stand ein Kinderwagen im Weg. Jeder war darauf bedacht, dass sein Gepäck auch bei ihm blieb und alles und jeder einen Platz in der Bahn fand.

Mitten in diesem Gewusel stand sie. Ohne großes Gepäck. Um ihre Schulter hing eine Tasche, in Farben die das Meer trägt, wenn es in der Sonne badet. Sie stand einfach da, mit ihren kurzen braunen Haaren und ihrer sportlichen, fast knabenhaften Figur. Mit geschlossenen Augen reckte sie ihre Nase in die Sonne. Einfach so - als ob um sie herum die Welt still stehen würde. Ihr Körper verlor sich in einer überdimensionierten Kapuzenjacke, die sie zu einer Jeans trug. Fast wirkte es, als ob diese Jacke einem Menschen gehörte, der zwei Köpfe größer war als sie. Die Lok tutete! Ein Zeichen, dass die Fahrt in den Ort gleich beginnen sollte. Schweren Herzens löste ich meinen Blick von ihr - dieser Oase der Ruhe auf dem quirligen Bahnsteig.

Mit dem letzten Tuten stieg ich in die Bahn, welche mich zu dem Ort bringen sollte, an dem ich in einer Klinik für Menschen wie mich erwartet wurde. Asthmatiker und Menschen mit psychischen Erkrankungen.

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Am Ende setzte sich meine Hausärztin gegen ihn durch, als meine Asthmaanfälle so stark wurden, dass ich im Krankenhaus behandelt werden musste. Noch vom Krankenhaus aus wurde über den Sozialmedizinischen Dienst eine Anschlussheilbehandlung für mich beantragt. Zwei Tage war ich noch zu Hause. Zwei Tage, in denen es ihm fast gelungen wäre, dass ich bleibe. Dass ich meine Tasche wieder auspacke und mein Ticket für die Insel zurückgebe. Eine kleine Flamme aber war in mir entzündet, so dass ich mich in meiner größten Not an meine Hausärztin wandte.

Ihrem Ohr und Zuspruch verdanke ich es, dass ich jetzt hier in dieser kleinen Bahn auf dem Weg zur Klinik saß.

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Immer drifte ich ab mit meinen Gedanken, schaue aus dem Fenster. Lasse die Dünen und die Insellandschaft an mir vorbeiziehen, während sich dieses nostalgische Gefährt mit erstaunlichem Krach beständig seinen Weg über die Insel sucht - seinem Ziel entgegen. Ich sehe nichts wirklich. Als sich meine Augen endlich von dem Dahinstreifen lösen können und mein Blick durch den Waggon wandert, sehe ich sie wieder. Sie sitzt auf einem der Plätze, die an der Längsseite des Waggons befestigt sind. Die Bänke sind an der Seite so angeordnet, dass jeder, der dort sitzt, quer auf die Passagiere schaut, die wie ich in Fahrtrichtung sitzen.

Dieses Mal kann ich ihr feines Profil erkennen. Eine schmale gerade Nase, Augenbrauen die leicht schräg zueinanderstehen und ihre Augen, die jetzt geöffnet sind - schokoladenbraun.

Sie schaut nicht so verloren wie ich aus dem Fenster. Freundlich und offen lässt sie ihren Blick über alles und jeden in diesem Wagon gleiten. Es wirkt, als ob sie ihren Radar kreisen lässt und alles aufnimmt, was um sie herum passiert. Dabei erscheint sie keineswegs neugierig oder aufdringlich. Obwohl überall Menschen um sie herumsitzen, die sich unterhalten, spricht sie mit niemandem - aber das tue ich auch nicht. Ich schaue sie an. Als sie meinen Blick bemerkt, erhellt ein Lächeln ihr Gesicht. So ein Lächeln, das einem das Gefühl vermittelt gestreichelt zu werden.

Ich bin fasziniert von dieser, mir völlig fremden, Person - kann gar nicht sagen warum. Vielleicht, weil sie eine solche Ruhe und Präsenz ausstrahlt, die mir das Gefühl gibt auf einen Menschen zu schauen, der ganz bei sich ist. Sie wirkt so gesund und zufrieden. In Gedanken wünsche ich ihr einen schönen Urlaub auf der Insel, bevor ich die Bahn verlasse, die inzwischen ihr Ziel erreicht hat.

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Vom Bahnhof zur Klinik führt mein Weg an einem alten Leuchtturm vorbei - die Straße hoch, an deren Ende man die Nordsee schon erahnen kann. Und dann sehe ich sie - die Nordsee - eingetaucht in eine noch gleißende Nachmittagssonne. Vor ihr liegt ein gut besuchter Badestrand, verbunden mit einer breiten Promenade, auf der sich eine Konzertmuschel, Geschäfte und Restaurants befinden. Eine Band spielt und das Leben tobt. An dieser Promenade, mit den vielen Menschen, dem lauten Geschrei vom Strand und dem ganzen Durcheinander, das eine solche Atmosphäre in sich trägt, liegt sie - die Klinik - in der ich die nächsten drei Wochen verbringen soll.

Ich will hier weg!

Will nicht bleiben bei dieser Menschenansammlung mit all ihren Gerüchen und ihren Stimmen, mit der Unruhe, die sie verbreiten. Ich will zurück in die Bahn, zurück auf die Fähre, zurück in meine vier Wände. Will zurück in meine Sofaecke, zurück ... Nein! Zurück will ich auch nicht, denn - zurück wartet er auf mich.

Langsam nehme ich meine Tasche auf, die mir bei dem Anblick der Szenen von Strandurlaubern aus der Hand gefallen ist, und setze meinen Weg in Richtung Klinik fort.

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