Kapitel 14

Borkum 2013 - Sonntag

An der Strandsauna - Teil 5 - Orla 

So wie sich heute der frühe Abend über die Nordsee legt, auf seinem Weg über den Sonnenuntergang in die Nacht hinein, so schoben sich damals die Wolken vor die Sonne, die uns ankündigten, dass der Tag von der Mittagszeit zum Nachmittag hin wechselte.

Ich ertappe mich dabei, wie ein Lächeln über mein Gesicht zieht, als ich daran denke, wie Orla die Stille durchbrach, die sich einstellte, nachdem feststand, dass ich nicht geschlagen wurde. 

*****

„Papperlapapp! Das ist gehupft, wie gesprungen. Menschen, die körperliche Gewalt erleben sind genauso gestraft wie diejenigen, die psychische Gewalt erleben und umgekehrt. Gewalt ist Gewalt. Sie unterscheidet sich in Form und Stärke, aber die Schäden können bei beiden Formen ähnlich und gleichermaßen hoch sein.

Ich habe mir das lange genug mit angesehen, in den Familien, die ich betreute, um das sagen zu können."

Bei diesen Worten redete sie sich derart in Rage, wie ich Orla die letzten Tage noch nicht erlebt hatte. Harald bemerkte es ebenfalls und versuchte sie mit seiner warmen Tonart zu beruhigen: „Bitte Orla", wandte er sich ihr mit Sorge im Blick zu, „rege dich nicht so auf, du bist schon knallrot im Gesicht, da müssen wir es ja mit der Angst bekommen, dass du uns bei der Wärme gleich auch noch umkippst."

Was ansonsten immer funktionierte, ging hier grandios nach hinten los. Wenn möglich, noch roter im Gesicht, sprang Orla auf und stütze sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab, als sie Harald entgegenspie: „Wie soll ich mich denn da bitte nicht aufregen? Verdammt noch mal, ich will mich aber aufregen. Das habe ich schon viel zu lange nicht mehr getan."

Schwer atmend blickte sie sich jetzt wieder in der Runde um und fragte: „Glaubt ihr denn wirklich, dass Menschen wie Rebecca weniger leiden als Menschen wie Olivias Bruder nur, weil sie nicht geschlagen wurden?"

Olivia war es, die ihr postwendend eine Antwort dazu gab. Immer noch in gewohnter Ruhe, aber auch mit einer leichten Schärfe im Ton, die ich an ihr die Tage zuvor nicht wahrnehmen konnte. Leise aber bestimmt erwiderte sie: „Orla, das denkt hier keiner! Und wenn du dich nachher ein bisschen beruhigt hast und in Ruhe darüber nachdenkst, wirst du das auch selber einsehen. Wir haben offensichtlich alle die eine oder andere Erfahrung mit häuslicher Gewalt und Gewalt im sozialen Umfeld gesammelt und gehen auf verschieden Art und Weise damit um."

„Während sie sprach, schob sie mit bestimmter Geste Orlas Wasserglas näher zu Orla, gerade so, als ob sie sagen wollte „Trinke erst einmal einen Schluck Wasser und beruhige dich, bevor du weitersprichst".

So weit war Orla aber noch nicht. Immer noch rot im Gesicht und jetzt schon etwas weniger, aber immer noch schwer atmend, sprach sie weiter in die Runde: „Schaut euch doch nur mal um auf der Welt, was da alles los ist!"

„Aha!", kam es trocken aus Inges Richtung, als sie mit ihren Blicken Orlas inzwischen ausgestreckten Armen über die Weite des fast menschenleeren Strandes folgte.

Olivia folgte ebenfalls mit ihrem Blick der ausschweifenden Bewegung und murmelte leise, aber klar verständlich: „Stimmt Orla, sieht gerade mächtig gefährlich hier aus".

Harald und ich tauschten ob der Gesamtsituation gegenseitige Blicke und während Harald ein Lachen nur schwer unterdrücken konnte, spürte ich, wie sich ein heimliches Lächeln über meine Lippen stahl, das meine Augenwinkel in fast unmerkliche zuckende Bewegungen versetzte.

An diesem Punkt, als Orla das alles mit einem kurzen Blick erfasste, sank sie ergeben auf ihren Stuhl zurück, lächelte und flüsterte: „Ihr habt ja Recht, ich soll mich nicht so aufregen, aber genau das sind die Gründe, die irgendwann dazu geführt haben, dass ich meinen Beruf nicht mehr ausüben konnte."

„Inge und Olivia, ich meinte das natürlich nur sinnbildlich."

„Wissen wir!" entgegnete Inge und drehte dabei fast belustigt eine ihrer Löckchen um ihren Zeigefinger. „Aber Orla, wenn ich ehrlich bin, interessiert mich die Welt da draußen gerade gar nicht so sehr. Besonders heute fühle ich mich so, dass die Zeit hier mit euch auf der Insel stehen bleiben dürfte. Die Zeit hier dürfte ewig dauern."

Auch Olivia setzte zum Sprechen an, schüttelte aber schlussendlich nur kurz ihren Kopf und blieb schweigsam. Orla sah es und fragte nach: „Olivia, was wolltest du gerade sagen?"

„Lass mal Orla!"

Aber Orla ließ nicht, Orla bohrte nach. „Olivia, ich weiß, wir kennen uns noch nicht lange, aber ich würde wirklich gerne wissen, was dir gerade auf der Zunge lag."

Tief einatmend und die Luft durch aufgeblähte Wangen wieder entweichen lassend, saß Olivia auf ihrem Platz und rang mit sich, sichtbar für uns alle, ob sie antworten sollte, oder nicht.

„Okay!", nickte sie Orla entgegen. „Ich denke wirklich, dass es mir nicht zusteht das zu sagen, gerade, weil wir uns noch gar nicht lange kennen. – Geht es euch eigentlich genauso wie mir, dass es einem gar nicht so vorkommt?", ließ sie ihren Blick in die Runde schweifen. „Gerade heute fühle ich mich, als ob ich euch schon ein Leben lang kennen würde."

„Geht mir genauso!", erscholl es fast gleichzeitig von uns anderen, was uns schon wieder als Gruppe zum Lachen brachte.

„Ist doch ein guter Grund, dass du es ausspuckst, was dir auf der Seele brannte", erwiderte Orla, während ihr eine Träne aus dem Augenwinkel rann.

Abwägend bewegte Olivia ihren Kopf von einer auf die andere Seite, verzog den Mund überlegend auf eine Art, dass er wie ein gerader Strich wirkte, bevor sie mit verschmitztem Blick auf die Träne zeigte und fragte: „Sicher Orla?"

„Sicher Olivia!", erwiderte Orla und lächelte jetzt ebenso verschmitzt zurück.

Olivia schaute noch einmal prüfend zu Orla, bevor sie antwortete: „Okay Orla, ich denke, dass es zu viel ist, wenn du die Welt retten willst. Vielmehr glaube ich, dass es darauf ankommt, viele kleine Schritte in die richtige Richtung zu gehen. Auch denke ich, dass gerade Menschen, wie du, die gerne helfen, irgendwann vor die Hunde gehen, wenn sie es nicht mehr schaffen, sich abzugrenzen."

„Was meinst du denn damit Olivia?", wollte Inge wissen. „Ich meine, wie soll das denn gehen, mit dem Abgrenzen, wenn man tagtäglich so einen Scheiß erlebt, wie Orla?"

Mit den Schultern zuckend lehnte Olivia sich auf ihrem Stuhl zurück und erwiderte: „So, wie ich es sagte. Ich glaube, dass es Berufe gibt, die für manche Menschen mehr als nur ein Beruf sind. Gerade in den Bereichen wo man es mit Kranken, Gefährdeten oder mit Opfern von Gewalt zu tun hat.

In vielen anderen Lebensbereichen auch, aber dort glaube ich eben, kommt es besonders oft vor, dass Menschen wie Orla, eher eine Berufung in ihrer Tätigkeit sehen, als einen bloßen Job.

Wenn es Menschen, die diese Berufe ausüben beizeiten nicht gelingt, sich ein dickes Fell anzuschaffen, dann glaube ich, wird es irgendwann schwer, Phasen zu finden, in denen man sich erholen kann, weil man seine Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes mit nach Hause nimmt.

Gute Frage Inge, wie man sich am besten abgrenzt! Kann ich dir aber ehrlicherweise nicht sagen. Ich kann mir nur vorstellen, dass das auch immer eine Frage der individuellen Gesamtsituation ist, in der sich derjenige befindet. Ich bin ja keine Psychologin."

In diesem Moment schauten Harald und ich uns mit einem verdatterten Ausdruck im Blick an und verstanden die Welt nicht mehr. Gerade fing Orla aus voller Kehle an zu lachen, sodass wir Angst haben mussten, dass sie vom Stuhl fällt.

So recht, konnte wohl keiner von uns die Situation einschätzen, denn auch Olivia und Inge zeigten für ihre Verhältnisse eher schweigsame Reaktionen. Inge nur in dem Maße, was ihr möglich war. Stakkato mäßig trabten ihre Beine unter dem Tisch davon, während sie unbeholfen die Hand über den Tisch ausstreckte und fragte: „Eh Orla, ist alles klar bei dir?"

Immer noch bebend, ob vor Lachen oder auch ein bisschen vor Weinen, konnte ich nicht erkennen, denn jetzt liefen Orla auch die Tränen über das Gesicht.

Als sie ihre Hand auf Inges legte, um glucksend und hicksend auszustoßen: „Ja Inge Kind, es ist alles gut, so weit etwas gut sein kann, ich beruhige mich gleich wieder."

Weil wir alle nicht so recht wussten, wie wir jetzt mit der Situation umgehen sollten, und Inge offensichtlich Bewegung brauchte, sprang sie auch schon auf und lief Richtung Kiosk, indem sie uns noch kurz zuwarf: „Ich besorge mal 'ne Runde frisches Wasser für alle, die Sonne scheint langsam Wirkung hier zu zeigen", was Harald, Olivia und mir wieder ein Lachen ins Gesicht zauberte.

Als sie mit frischem Wasser für uns an den Tisch zurückkam, hatte Orla sich soweit gefasst, dass sie wieder sprechen konnte. „Entschuldigt bitte, aber Olivia, du hättest eine gute Psychologin werden können. Alles was du gerade gesagt hast, ist absolut richtig und schlechter als die Notfall Psychologin, die von meinem Vorgesetzten nach meinem Zusammenbruch hinzugezogen wurde, bist du auf gar keinen Fall."

Auf unsere verständnislosen Blicke hin sammelte Orla sich endgültig. „Na, das erzähle ich jetzt lieber der Reihe nach. Wisst ihr, es passierte so oft, dass ich in meinem Beruf mit Aussagen konfrontiert wurde, dass dieser oder jener sich nicht so anstellen soll. Alles ist immer gar nicht so gemeint und die Krönung war, wenn ich mir anhörte „ich meine es doch nur gut".

Diese gesammelte Pseudofreundlichkeit derer, die ganz genau wissen, was sie mit ihren Manipulationen erreichen, die dazu führt, dass Betroffene von ihrem Umfeld nicht ernst genommen werden. Im schlimmsten Fall habe ich erlebt, dass eine Ehefrau neben ihrem Mann stand, von der wir sicher wussten, dass sie ihn schlug und psychisch mürbe machte; ihm auf die Schulter klopfte und fragte, ob er heute etwas dünnhäutig wäre, nachdem er kurz zuvor wegen diverser Rippenbrüche im Krankenhaus behandelt wurde und aufschrie, als sie ihn vermeidlich liebevoll im Rippenbereich umarmen wollte."

„Bitte was?", quiekte Inge dazwischen. Bestätigend nickend fuhr Orl1a fort: „Ja Inge, du hast schon richtig gehört. Es gibt genauso Frauen wie Männer, die Gewalt gegen ihre Kinder und Partner verüben. Sowohl körperliche, als auch psychische Gewalt. Immer noch ein Tabuthema, aber vorhanden. Ich wünschte mir mal eine Studie, die darüber Aufschluss gäbe, wie der Verteilungsmaßstab tatsächlich aussieht."

Orla langte nach ihrem Wasserglas und trank einen Schluck, bevor sie fortfuhr: „Zum Ende meiner Laufbahn als Sozialarbeiterin und Gemeindeschwester, kam ich mir vor, wie in einem Hamsterrad. Ich bewegte mich in einem ewigen Kreislauf von immer wiederkehrenden Erlebnissen in immer anderen Familien, bis ich zum Schluss nicht mehr wusste, wo oben und unten ist.

Meinen persönlichen Super Gau erlebte ich an einem Morgen, als ich im Büro einer Frau gegenübersaß und mir ihre Leidensgeschichte anhörte.

Könnt ihr euch vorstellen, dass ich einfach nur dasaß, mir die Tränen aus den Augen liefen und ich immer nur dachte, dass ich ihr nicht helfen kann. Die Worte „Du kannst ihr nicht helfen", spielten sich in Dauerschleife in meinem Kopf ab, während ich durch die Frau hindurchschaute, die vor mir saß und Hilfe von mir erwartete."

Fragend schaute sie uns dabei an und ich glaube, es gab niemanden von uns, der sich das vorstellen konnte. Nicht bei Orla. Nicht bei dieser patenten, liebenswerten und zupackenden Frau, die in den letzten Tagen immer genau wusste, wann es gut war etwas zu sagen oder leise zu sein.

Betroffen fragte Inge: „Orla, was hast du dann gemacht?"

„Ihren Blick jetzt auf die Tischplatte geheftet und mit dem Fingernagel an einem Fleck kratzend, der daran haftete, antwortete Orla: „Ich habe die Frau angesehen und gesagt, dass ich ihr nicht helfen kann. Danach habe ich den Raum verlassen und bin ohne anzuklopfen in das Büro meines Vorgesetzten getaumelt. Mit meinem Erscheinen habe ich eine Besprechung beendet, in der es sich gerade befand, als ich unaufgefordert dort erschien und herausschrie, dass ich nicht mehr kann. Als das raus war bin ich vollends zusammengebrochen.

Daraufhin rief er einen Arzt und forderte eine Notfallpsychologin an. Die war noch vor dem Arzt da. Das Letzte, woran ich mich erinnere ist, dass sie hereinkam, mich gar nicht ansah und zu meinem Chef gewandt sagte: „Wo haben wir denn die Kümmerin mit übergroßen Helfersyndrom?"

Danach weiß ich nur noch, dass ich mich komplett in mich zurückzog und erst zwei Tage später im Krankenhaus das erste Mal bewusst wieder mein Umfeld wahrnahm."

Keiner von uns war in der Lage etwas darauf zu erwidern. 

Als Orla bemerkte, dass niemand die Stille durchbrechen würde, straffte sie die Schultern, setzte sich gerade hin und sprach: „Danke, dass ihr mir zugehört habt, das hat gutgetan, ist aber heute kein Grund mehr, um jetzt noch Trübsal zu blasen."

*****

Als ich bei „Miss Elli" mit meiner Erzählung an diesem Punkt der Geschichte anlangte, wo die Notfall Psychologin nach der Kümmerin mit dem übergroßen Helfersyndrom fragte, schnaubte sie unwillig „unprofessionell". Mit hochgezogenen Schultern berichtete ich davon, dass Orla später erfuhr, dass die Psychologin dachte, sie wäre nicht im Raum.

Mit Resignation im Blick bemerkte „Miss Elli", dass es leider oftmals zu beobachten ist, dass Menschen, die in Berufen mit hohen Druckpotenzial arbeiten, sich eine raue Schale zulegen, um das Leid nicht an sich heranzulassen. Hätte Orla eine solche Schale besessen, wäre sie vielleicht nicht so zusammengebrochen. Orla hatte damals eine ähnliche Meinung geäußert, aber ein Fazit gezogen, für das ich sie bewunderte.

*****

Harald räusperte sich und fragte: „Orla, wie lange ist es her, dass dir das passiert ist?", begegnete sie offen seinem Blick und antwortete mit zartem Lächeln auf den Lippen: „Dem Gefühl nach zu urteilen gerade so, als ob es gestern gewesen wäre. Aber nein! Es liegt tatsächlich drei Jahre zurück. In den letzten drei Jahren habe ich viel darüber nachgedacht, an welcher Stelle ich hätte etwas anders machen können. Hätte ich mir über die Jahre ein dickes Fell anschaffen können, wie die Notfallpsychologin? Ich glaube nicht und ich weiß auch nicht, ob ich die Familien dann so hätte erreichen können, wie ich es tat."

Olivia fragte mit zusammengezogenen Brauen und Skepsis im Blick: „Bereust du es, dass du nicht wieder angefangen hast zu arbeiten?"

Mit abwägender Mimik, antwortete Orla mit leichtem Schütteln ihres Kopfes: „Nein Olivia, ich bereue es nicht die Konsequenz gezogen zu haben, meinen Beruf aufzugeben. Es war an der Zeit und seitdem ich das Häuschen mit dem Garten im Grünen habe, werde ich ruhiger. Mit jedem Tag, den ich dem Plätschern des Baches hinter dem Haus lausche, wenn das Wasser durch sein Steinbett vor sich hinmurmelt, werde ich langsam wieder zu dem Menschen, der ich war und den ich mochte.

*****

In meiner Sitzung bei „Miss Elli" verlor sich an dieser Stelle meiner Erzählung mein Blick wieder in dem Bild mit dem Klatschmohn. Mit ihrem feinen Gespür für mich und meine Stimmungsschwankungen fragte sie leise nach, ob dies jetzt das Ende des Nachmittags war? Stumm schüttelte ich mit dem Kopf. Nein, das war nicht das Ende des Nachmittags, auch Harald erzählte uns noch Auszüge aus seiner Geschichte. Aber bevor er das tat, gab es einen Punkt, der mir auf der Seele brannte und eine Frage, die ich unbedingt stellen wollte.

An diesem Nachmittag neigte sich die Therapiezeit ihrem Ende entgegen. Wie immer, wenn wir in solchen Phasen unsere Sitzung beenden mussten, ehe das Thema abschließend beleuchtet wurde, zog „Miss Elli" ihren Block und den Schreiber zu sich heran um die Stelle zu notieren, an der wir das nächste Mal anknüpfen wollten.

Auf ihre Frage, ob ich mir auch Notizen machen wollte, schüttelte ich erneut mit dem Kopf. Für das, was noch kam, brauchte ich keine Notizen. Es wurde mir so wichtig, dass ich es für immer in meinem Kopf und in meinem Herzen bewahrte.

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