Kapitel 13
Borkum 2013 - Erster Sonntag
An der Strandsauna - Teil 4 - Olivia
Heute, wie damals, hallt mir Olivias Frage nach meinem persönlichen Super Gau in den Ohren. Wie oft ich mir diese Frage in den unterschiedlichsten Situationen in den vergangenen vier Jahren noch gestellt habe, ist nicht mehr an meinen zwei Händen abzuzählen. Immer wenn meine Ängste drohten übermächtig zu werden, stellte ich mir die Frage, was mir im schlimmsten Fall passieren konnte. In diesen Momenten nahm ich mir meinen Schreiber und ein Stück Papier und begann meine Gedanken aufzuschreiben. Bereits mit jedem Wort, das ich schrieb, spürte ich, wie mein Körper zur Ruhe kam, weil mein Geist bereits damit beschäftigt war nach Lösungen zu suchen.
Am Ende dieses Tages, den ich gemeinsam mit Inge, Orla, Harald und Olivia an der Strandsauna verbrachte - eingebettet in die Ruhe meines Zimmers - waren es ein Zettel, seine Nachrichten und viele Fragen, die an diesem Tage aufgeworfen wurden, die am Ende dazu führten, dass ich Ihm schrieb: „Hallo Benjamin, ich rufe dich morgen an."
*****
Kein Zuhause mehr zu haben und alleine zu sein, wenn ich von der Reha zurückkomme.
Das waren die Worte, die mir den ganzen Abend entgegenstrahlten, so oft ich auf den Zettel schaute, dem ich an diesem Nachmittag meine Angst anvertraute.
Zuhause
Was bedeutet Zuhause für dich?
Geborgenheit!
Einen sicheren Hafen, in dem ich zur Ruhe kommen kann.
Ein Ort, an dem ich mich wohl fühle.
Rückzugsort!
Der Ort, wo ich sein kann, wie ich bin.
Ein Ort zum Träumen.
Ein Ort, an dem ich keine Angst haben muss.
Ein Ort, an dem ich die Mühen des Alltags vergessen kann.
In meinem Kopf spulte ich die Bemerkungen der anderen und ihre Fragen, die sie mir im Laufe des Tages stellten, in einer Endlosschleife ab. Während ich auf meinem Bett versuchte, umgeben von den Zetteln und mit meinen Erinnerungen dieses Tages im Kopf, einen Weg aus meinem Gedankenchaos zu finden, flog mein Stift immer weiter über das Papier. Immer in dem Bemühen, meine, in fliegender Hast gedachten, Gedanken einzufangen.
Ich hörte Inges empörtes Schnauben, mit dem sie: „Na herzlichen Glückwunsch, das was du jetzt hast, klingt für mich auch nicht nach einem Zuhause.", sagte. Hörte Orlas ermutigenden Worte: „Mäuschen, dafür gibt es Lösungen.", genauso wie Harald seine, mich mit der Gruppe verbindenden Worte: „Rebecca, diese Angst davor alleine zu sein, kennen wir glaube ich alle."
All diese Fragen, die an diesem Nachmittag noch gestellt wurden, versammelten sich zu einem Stelldichein in meinem Kopf.
*****
Wenn ich heute diesen Zettel betrachte, fallen mir noch viel mehr Punkte ein. Damals nicht - damals spiegelten diese Punkte mein Grundgefühl wieder - die Mindestanforderungen - die ich an dieses Wort stellte.
Als ich „Miss Elli" von diesem Tag an der Strandsauna berichtete und sie mich fragte, ob dieser Zettel und die Reaktionen von Inge, Orla, Harald und Olivia alles gewesen waren, die dazu führten, dass ich „Ihm" dieses Mal eine Nachricht schrieb, die so wenig meinem sonstigen Verhaltensmuster entsprach, konnte ich nur mit dem Kopf schütteln.
Immer, wenn ich über „Miss Ellis" Fragen nachdachte und sie nicht zu ihrer vollen Zufriedenheit beantwortete, wurde sie direkter in ihrer Ansprache. Weiterhin feinfühlig und mit einem Lächeln im Gesicht, das mich aufmunternd anzustupsen schien, brachte sie mich dazu weiter zu denken, weiter zu reden. Sie brachte mich dazu weiter zu gehen, als ich es mir jemals hätte vorstellen können.
Mit ihrem warmen Blick, den ich so oft auf mir spüren durfte, betrachtete sie mich und stellte mehr fest, als dass sie fragte: „Es gab noch mehr Fragen, die Ihre Freunde Ihnen gestellt hatten - oder Rebecca?"
Ja, diese Fragen gab es und so erzählte ich „Miss Elli" auch von dem restlichen Verlauf des Tages.
*****
In dem Moment, als Inge aussprach: „Fertig, der Nächste bitte", war es Olivia, die sich straffte und sprach: „Dann bin ich jetzt wohl doch an der Reihe.", woraufhin Harald bestätigend nickte. Über den Tisch griff er ihre sonnengebräunten Hände und sprach mit ermunterndem Tonfall: „Ja Olivia, ich glaube, das wäre gut."
*****
Noch heute in meinen Erinnerungen, kann ich die Wärme in Olivias Blick erkennen, mit dem sie Harald bedachte, bevor sie ihm ihre Hände entzog und sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte.
*****
Olivia schloss kurz die Augen und reckte das Gesicht der Sonne entgegen. Geradeso, als müsste sie noch einmal Kraft tanken für das, was nun kommen sollte, bevor sie entschlossen die Augen wieder öffnete und mit ihrer melodischen Stimme zu erzählen begann: „Mit meiner Kindheit und Jugend geht es mir ähnlich, wie Inge, wenn auch aus anderen Gründen. Damit habe ich aber eigentlich abgeschlossen." Ein kleines Lächeln auf ihren Lippen begleitete die folgenden Worte. „Wenn ich heute daran zurückdenke, wie es sich für mich als Schülerin anfühlte, nicht dazuzugehören, komme ich mir steinalt vor. Auf der einen Seite kann ich mich an einzelne Begebenheiten erinnern, als wären sie gestern erst geschehen, auf der anderen Seite verschwimmen die Jahre zu einer grauen Masse und verlieren sich in der Zeit meines Erwachsenseins.
Mein Vater war das, was ich als Quartalstrinker bezeichne. Er war nicht konfliktfähig und wenn es Probleme gab, war es sein Weg, sich in den Alkohol zu flüchten. So etwas lässt sich nicht auf ewig verstecken. Es gab Vorfälle, die sich rumsprachen, in unserem Ort. Hinter vorgehaltener Hand wurde getuschelt und wenn andere sich über meinen Bruder und mich unterhielten, bekamen wir nicht selten genug mit, wie es hieß ... „Na du weißt schon, die Kinder von dem, den wir neulich nachmittags mit der Flasche am Hals gesehen haben!"
In der Schule führte es dazu, dass ich nirgendwo dazugehörte, was nicht unbedingt nur an meinen Mitschülern lag. Zum Teil waren es deren Eltern, die den Umgang mit mir verboten. Es gehörte sich nicht, mit jemandem Umgang zu pflegen, der so einen Vater hatte."
„Aber du konntest doch nichts dafür, Olivia! Du warst doch noch ein Kind", warf ich leise ein.
„Stimmt Rebecca, ich war noch ein Kind - aber - ich war das Kind eines Alkoholikers", fuhr Olivia ohne Bitterkeit in der Stimme fort, wofür ich sie in diesem Moment bewunderte. „Die Menschen haben Angst davor, dass dieses „asoziale" Verhalten irgendwie ansteckend ist. Das Vorurteil, dass aus Kindern mit solchen Eltern nichts werden kann, hielt sich hartnäckig und wenn ich ehrlich bin, haben mein Bruder und ich das über viele Jahre auch selbst geglaubt. Irgendwie hatten wir uns an diesen Zustand gewöhnt."
Empört schnaubte Inge dazwischen und fragte ungläubig: „Wie bitte? Ich glaube, ich habe mich gerade verhört Olivia. Wie kann man sich an einen solchen Zustand gewöhnen?", was Olivia mit einem Schulterzucken quittierte. Ein Schatten zog über ihr Gesicht. Ihr Blick verlor sich im Anblick des Dünengrases und des Strandes, als sie mit Traurigkeit in der Stimme fortfuhr zu erzählen.
„Ach Inge! Kinder sind glaube ich eigentlich pragmatisch veranlagt und in der Lage sich den größten Widrigkeiten im Leben anzupassen. Es muss eine ganze Menge passieren, bevor das nicht mehr möglich ist. Solange mein Vater „nur" getrunken hatte, war das fast kein Problem für uns. Mein Bruder war vier Jahre älter als ich. Wenn ich zurückdenke und mich als Siebenjährige betrachte, dann glaube ich inzwischen zu wissen, dass wir so etwas wie ein Barometer für die Stimmungen meines Vaters für uns errichtet hatten.
Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, lugten wir nur vorsichtig aus unseren Zimmertüren heraus um einen Blick auf seinen Gesichtsausdruck zu erhaschen. Wir konnten sozusagen an seiner Nasenspitze erkennen, ob wir herauskommen und ihm in die Arme fliegen konnten, oder ob wir still und heimlich unsere Türen wieder schlossen und so taten, als hätten wir nicht mitbekommen, dass er anwesend ist. Mein Vater musste es bemerkt haben, wenn wir uns so verhielten. Dieses Spiel beherrschten wir alle gleichermaßen gut. Solange wir als Familie so taten, als wäre nichts geschehen, war alles gut.
Irgendwann konnten wir an der Anzahl der von ihm getrunkenen Bierflaschen erkennen, ob wir ihn ansprechen konnten oder nicht. Es gab Phasen, in denen ich darauf wartete, dass er endlich seine sechste Flasche Bier trank, damit ich mit ihm über Dinge sprechen konnte, die für meinen jugendlichen Alltag wichtig waren. In diesen Momenten verhielt er sich so rational und „normal", wie jeder andere Mensch auch. Er war einschätzbar. In diesen Momenten war er auch ein liebevoller Vater, der mit uns kuschelte, scherzte und spielte."
In der Atempause, die Olivia einlegte, betrachtete Harald nachdenklich seine kleine Flasche Bier, die er sich zum Mittagessen gegönnt hatte. Die Hälfte der Flüssigkeit war noch vorhanden und wurde in der Wärme des Nachmittags langsam schal in der Flasche. Kopfschüttelnd bemerkte er: „Ich kann mir nicht einmal annähernd vorstellen, sechs davon zu trinken", wobei er das Wort "annähernd" betonte, als sei es unvorstellbar. Aber das war es für ihn offensichtlich auch.
Olivia zog ihre Augenbrauen leicht in die Höhe, als sie erwiderte: „Harald, ich spreche nicht von so kleinen Flaschen. Damals wie heute wurde viel Wert darauf gelegt, für sein Geld so viel wie möglich an Gegenleistung zu erhalten. Mein Vater kaufte sich grundsätzlich nur die 0,5 Liter Flaschen Bier."
Inges Augen wurden groß, als sie ausrief: „Oh Gott, Olivia!" und ich beobachten konnte, wie ihre Beine wieder ihren üblichen Rhythmus verließen, vor lauter Mitgefühl.
Orla durchbrach die Stille, die unser kleines Grüppchen an dem runden Tisch in der Nachmittagssonne nach Olivias Worten erfasste. Mit offenem Blick, der tausend Fragen in sich trug, wandte sie sich direkt an Olivia: „Olivia, was ist dann passiert?
*****
Noch als ich „Miss Elli" von diesem Teil der Geschichte berichtete, spürte ich den Unglauben, den ich damals empfand, als Orla diese so unschuldig wirkende Frage stellte. Die Aufregung ergriff von mir Besitz, als sie hinterfragte, ob ich eine Ahnung hätte, warum ich so ungläubig reagiert hatte - damals - an der Strandsauna. Mit fast derselben Empörung, die ich seinerzeit empfand, sprang ich von meinem Stuhl auf.
Wie ein Tiger im Käfig, lief ich die drei Meter von Wand zu Wand, auf und ab, während ich mich ereiferte: „Was sollte denn noch mehr passiert sein?
Reicht es nicht, dass ein Kind sein Leben lang auf der Lauer liegen muss, um die Stimmungen seiner Eltern einzufangen?
Reicht es nicht, stets und ständig Gefahr zu laufen, dass eine Nichtigkeit ausreicht, um das Fass zum Überlaufen zu bringen?
Reicht es nicht, wenn ein Kind der stets unerreichbaren Liebe seiner Eltern hinterherrennt?
Reicht es nicht, wenn ein Kind sich jede Nacht in den Schlaf weint, weil es nicht die Anerkennung erhält, die es verdient?
Reicht es nicht, wenn ein Kind nicht einmal geschlagen werden muss um sich trotzdem so zu fühlen, als ob es verprügelt wurde?
Reicht es nicht, wenn ein Kind sich in diesem Hamsterrad dreht und jeden Morgen versucht ihm zu entfliehen?
Reicht es nicht, wenn ein Kind aus dem Nest fliehen möchte, in das es geboren wurde und in dem es lebt?"
Anklagend und mit tränenverschleiertem Blick blieb ich vor dem Schreibtisch, der mich von „Miss Elli" trennte, stehen. Nie werde ich vergessen, wie jede Spannung aus meinem Körper wich und ich mich völlig entkräftet zurück auf meinen Stuhl fallen ließ, als sie fragte: „Rebecca - unterhalten wir uns gerade noch über Olivia?"
Nein - das taten wir nicht. Wir redeten darüber, dass mich, nach nunmehr fast drei Monaten mit „Miss Elli", die Erkenntnis wie ein Vorschlaghammer traf. Hier saß ich nun und musste mir eingestehen, dass ich nichts in meinem Leben veränderte, als ich von Zuhause auszog. Mit „Ihm" in meinem Leben, hatte sich nichts zum Positiven verändert. Weder in der Zeit vor noch nach der Reha auf Borkum. Ich hatte meinen Vater nur gegen „Ihn" ausgetauscht. Er wollte sich gar nicht ändern und unserem Leben eine Chance geben. In dieser Sitzung bei „Miss Elli" wurde mir bewusst, dass es nicht nur die kindlichen Erinnerungen waren, die meinem Gefühl Bahn brachen. Es war die Erkenntnis, dass alles, was ich auch tat, niemals dazu führen würde, dass „Er" und ich ein Leben führen, in dem ich ruhig und glücklich werden könnte.
Mit einem schlichten „Nein!", beantwortete ich damals die Frage von „Miss Elli".
*****
Olivia fuhr fort: „Gute Frage, Orla! Was veränderte sich? Mein Bruder kam in die Pubertät und je älter er wurde, umso ähnlicher sah er meinem Vater. Die Ähnlichkeit war nicht nur äußerlich. Auch von seinem Wesen her wurde er ihm ähnlicher. Er hasste sich selbst dafür, so oft er in den Spiegel sah und konnte doch nicht davor weglaufen. So oft ich ihm sagte, dass er nicht wie unser Vater werden musste, so oft schob er mich beiseite und verschwand. Manchmal kam er nach ein paar Stunden wieder nach Hause, manchmal stahl er sich nächtelang davon. Ich habe nie herausgefunden, was er tat, oder wo er gewesen war. Er zog sich zurück. Nicht nur von mir, auch von seinen Freunden. Er provozierte, wo er nur konnte - und mein Vater ließ sich provozieren. Leichter als ein Pulverfass mit kurzer Lunte.
Er versuchte meinem Bruder seine „Flausen", wie er es nannte, aus dem Leib herauszuprügeln. Meistens mit den bloßen Händen, manchmal mit dem Gürtel. Während er das tat, war er rasend vor Wut."
Ein leiser Aufschrei von Inge und das scharfe Zischen, dass Orlas Lippen entwich, ließen mich aus meiner fassungslosen Starre, in die ich während der Erzählung verfallen war, erwachen. Bis hierhin hatte ich die Luft angehalten, die mir jetzt geräuschvoll entwich, als ich endlich wieder anfing zu atmen.
Mit einem klaren Blick und fester Stimme, sprach Olivia weiter, als sie sich aufrichtete: „Wie gesagt, das ist lange her und eigentlich habe ich meinen Frieden damit geschlossen. Heute leben mein Mann und ich unsere Leben, wie ich es mir immer erträumt habe. Wir haben uns unsere eigene kleine Insel eingerichtet; haben einen kleinen aber feinen Freundeskreis und sind zufrieden. Die größte Angst, die ich mit mir herumtrage ist, dass ein Unwetter unser Leben erschüttern könnte und unsere kleine Insel mit sich fortreißt.
Auf Inges leise Fragen die darauf stakkatomäßig, in ihrer ihr üblichen Aufgeregtheit folgten: „Und dein Bruder, Olivia? Konnte er auch seinen Frieden finden? Und wie hast du es geschafft?", entgegnete sie halb belustigt und halb traurig, „Er ist leider gestorben, als ich gerade siebzehn Jahre alt war."
Mit vor Entsetzen geweiteten Augen schaute Inge sie an, als sie atemlos hervorstieß: „Um Himmels Willen, Olivia, das ist entsetzlich!" und es Orla war, die mit Trauer im Blick antwortete: „Ja Inge, das ist es. Aber es ist auch das Leben, das ich kennengelernt habe, bei meiner täglichen Arbeit. Leider ist das, was Olivia gerade erzählt hat kein Einzelfall - und", wandte sie sich jetzt an Olivia, „ich freue mich immer, wenn ich Menschen wie dir auf meinem Weg begegne, die es irgendwie geschafft haben, ihren Frieden zu schließen und trotzdem glücklich zu werden. - Darf ich fragen, wie du es geschafft hast?"
Mit einer Bewegung, die uns ihre plötzliche Erschöpfung offenbarte, fuhr Olivia sich mit ihren Händen über das Gesicht, bevor sie fortfuhr. Als ich fünfzehn Jahre alt war, ging ich, wie fast alle aus meiner Klasse zum Konfirmandenunterricht. Damals war das größte Problem auf den Schulhöfen, dass es sogenannte Raucherecken gab, in denen sich die älteren Schüler trafen. Durch bestimmte Maßnahmen wollte man die jüngeren Schüler dafür sensibilisieren, dass Rauchen süchtig machen kann. In allen Lebensbereichen wurden hierfür Plattformen gesucht, auf denen man die betroffene Generation, die es zu erreichen galt, ansprechen konnte. So auch im Konfirmandenunterricht.
„Wir zwischen Genuss und Abhängigkeit", lautete damals die Überschrift, unter der sich ein Sozialarbeiter mit uns und dem Stellenwert, den das Thema in unserem Alltag einnahm, auseinandersetzen sollte."
„Welche Ironie!", entwich es mir leise.
„Ironie, aber auch Segen", fuhr Olivia mit ihrer Erzählung fort. „Unser Kursleiter war hauptberuflich beim Sozialamt tätig und bemerkte sehr schnell, dass ich in meinem Leben mit ganz anderen Problemen zu kämpfen hatte und ich fasste Vertrauen zu ihm. Im Nachhinein denke ich, dass das der alles entscheidende Punkt war. Er nahm mich ernst mit meinen Sorgen und Nöten. Er erkannte hinter meiner spröden und ätzenden Art, in der ich damals auf fast jeden Kommentar in diesem Kurs reagierte, dass sich hinter diesem Verhalten eine Not verbarg."
An unserem Tisch war es mucksmäuschenstill. Niemand von uns wagte einen Einwand um den Redefluss, in den Olivia verfiel, nicht zu unterbrechen. Sooft sie uns die letzten Tage Impulse gab und uns mit ihrer ruhigen Art persönlich voranbrachte, so selten ließ sie es zu, dass wir ihr zu nahekamen. Trotz aller Offenheit, war sie immer umgeben von einem Schleier der Distanz. Immer schimmerte etwas durch und sobald man zu nahe kam, verdichtete er sich.
„Nach und nach kitzelte er meine Probleme, die ich Zuhause hatte, aus mir heraus. Er erkannte, dass ich mich bereits damit beschäftigte fortzulaufen. Er organisierte etwas, was damals noch einmalig war. Im wöchentlichen Abstand durfte ich an vier Abenden an Treffen der Anonymen Alkoholiker teilnehmen. Ausschließlich als Zuhörerin. Diesem kleinen Kreis an Menschen, die ich alle persönlich kannte und die mir das Vertrauen entgegenbrachten, dass ich alles, was ich an diesen Abenden sah und erfuhr, für mich behielt, verdanke ich es, dass ich nicht weggelaufen bin. Ich verstand, dass Alkoholiker nicht nur Täter sind. Sie sind auch Opfer ihrer Sucht und der daraus resultierenden Handlungen."
„Aber" quietschte Inge jetzt doch mit vor Aufregung ganz hoher Stimme dazwischen „hast du denn nicht Megastress mit deinem Vater bekommen, als du dorthin gegangen bist?"
Mit einem Aufflackern von Belustigung im Blick schaute Olivia zu Inge, bevor sie ernst fortfuhr zu erzählen. „Oh doch, Inge! Das habe ich. Sogar jede Menge. Wie gesagt, damals war es nicht üblich „Nichtbetroffene" an diesen Treffen teilhaben zu lassen. Ist es heute auch noch nicht. Aber inzwischen gibt es die gesellschaftlich und organisatorisch anerkannte Erkenntnis, dass es Auswirkungen auf Angehörige hat, wenn es einen „Suchtkranken" oder ein Familienmitglied mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung innerhalb des Familienverbunds gibt. Inzwischen gibt es für viele Bereiche nicht nur Selbsthilfegruppen für Betroffene, es gibt sie auch für deren Angehörige; und das ist gut so, wie ich finde.
Unter dem Deckmantel, dass er mir ein Buch zurückgeben wollte, verschaffte sich der Sozialarbeiter damals einen Eindruck von unseren Wohnverältnissen. Das war das einzige Mal, dass ich im etwas übel genommen hatte. Es war nicht mit mir abgestimmt. Als er weg war tobte ein Orkan in Gestalt meines Vaters durch das Haus und ich musste befürchten, dass ich gar nicht mehr die Möglichkeit hatte fortzulaufen, weil ich kurz davor stand, rausgeschmissen zu werden."
„Hat er dich geschlagen?", fragte ich, woraufhin sie mit einem Kopfschütteln entgegnete, „Nein, geschlagen hat er mich nicht, das tat er nie. Stattdessen ließ er seine Wut an meiner Mutter aus."
„Und dann?" Hakte Harald nach.
„Bin ich zu dem Sozialarbeiter gegangen und habe ihn aufgefordert die Scheiße auszubügeln, die er uns eingebrockt hatte."
„Und hat er?", fragte ich schüchtern nach. „Ja, hat er und fragt mich jetzt bitte nicht wie", erwiderte Olivia mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. „Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, was er gemacht hat, ich war ein verzweifeltes, fünfzehnjähriges Mädchen. Das „Wie" war mir egal. Entscheidend war, er hörte auf meine Mutter und meinen Bruder zu schlagen."
„Gut so!", warf Orla dazwischen, „es ist so wichtig, dass man in solchen Situationen Menschen an seiner Seite hat, die einen ernst nehmen und zu denen man Vertrauen aufbauen kann.
„So, wie ich zu euch!", brach es aus mir heraus.
„Ja, Rebecca! So wie du zu uns", sprach Inge mit ungewohnter Zärtlichkeit in der Stimme „und wenn wir schon mal bei dem Thema Vertrauen sind Rebecca, hat „Er" eigentlich auch einen Namen?"
Mit gesenktem Kopf hauchte ich ihr entgegen: „Ja, hat er." ... „Ja und?" fragte sie nun ungeduldig nach, „wie heißt er?" Auf mein Kopfschütteln hin, warf Orla schnell ein: „Inge, nun lass sie mal, sie wird uns das schon sagen, wenn sie es irgendwann erzählen will."
Olivia fragte vorsichtig in meine Richtung: „Hast du heute überhaupt noch einmal eine Nachricht von ihm bekommen?" Mit den Schultern zuckend nuschelte ich: „Keine Ahnung, ich habe das Handy im Zimmer liegen gelassen." Während ich spürte, wie die Röte von meinem Gesicht Besitz ergriff, sah Orla mich mit sorgenvollem Blick an, während sie sprach: „Es tut mir leid Rebecca, ich muss das jetzt einmal fragen, danach hören wir auch auf, versprochen! Hat Er dich jemals geschlagen?"
Mit erwartungsvollen Blicken sahen mich alle an und die Erleichterung, die sich breit machte, als ich wiederum den Kopf schüttelte, war zum Greifen nahe.
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