Kapitel 12

Borkum 2013 - Erster Sonntag

An der Strandsauna - Teil 3 - Inge

Wenn ich heute an diesen ersten Sonntag auf Borkum an der Strandsauna zurückdenke, dann weiß ich, dass dies der Tag war, der eine grundlegende Wende in meinem Leben einleitete. An diesem Nachmittag erfuhr ich, dass ich nicht alleine war mit meinen Lebensängsten und der Angst vor dem Alleinsein. Diese intensive Nähe zu anderen Menschen - weg von ihm - war für mich eine gänzlich neue Erfahrung. Am Ende dieses Tages fühlte ich mich erschöpft, von den vielen Gesprächen und Gedanken. Erschöpft von dem Tag an der frischen Luft und dem Weinen. Erschöpft vom Fahrradfahren und erschöpft von seinen Nachrichten, die mich erwarteten, als ich mein Zimmer betrat und das Handy in die Hand nahm, das ich am Morgen liegen gelassen hatte.

Ich sehe mich, wie ich mich mit den Zetteln auf mein Bett setzte, und sie mir immer wieder betrachtete. Sehe, wie ich mir einen Stift nahm, mich an die Wand lehnte und anfing, sie mit meinen Notizen zu befüllen. Sehe mich, wie ich am Ende alles zur Seite legte und mich ans Fenster stellte, den Blick zu der Mauer gerichtet, hinter der sich der Strand und das Meer durch die Dunkelheit, die inzwischen eingetreten war, meinem Blick entzog. Sehe mich, wie ich mir mein Handy nahm, als meine nackten Füße die Kälte des Bodens nicht mehr aushielten. Sie waren so kalt, wie mein Herz sich von innen anfühlte.

In dieser Nacht, im Schutze meines Zimmers, umgeben von den befüllten Zetteln auf meinem Bett sitzend, schrieb ich Ihm eine Nachricht.

*****

Als „Miss Elli" mich später fragte, ob ich eine Ahnung davon habe, warum ich in dieser Nacht den Mut aufbrachte, ihm diese Nachricht zu schreiben, erzählte ich ihr von diesem Tag an der Strandsauna. So erschöpft ich auch gewesen sein mochte am Ende dieses Tages, so aufgewühlt war ich auch - von den Gesprächen und den aufgeworfenen Fragen. Und noch etwas, was sich zaghaft in mir breitmachte, hatte ich an diesem Tag mit zurückgenommen in die Klinik. Es war die Ahnung eines Gefühls, dass zwischen uns fünf Menschen, so verschieden wir auch sein mochten, die Saat aufgegangen war für ein zartes Pflänzchen, namens Freundschaft. Dieses wärmeverbreitende Gefühl war es auch, das mich begleitete, als ich „Miss Elli" von diesem Tag berichtete.

*****

Tatsächlich sprachen wir während des Essens fast kein Wort miteinander. Jeder von uns hing seinen eigenen Gedanken nach, während wir in der Mittagssonne saßen und unsere Kleinigkeiten verzehrten. Wer uns zu dieser Zeit auf der Terrasse der Strandsauna sah, hätte meinen müssen, dass die fünf Menschen, die dort saßen, eine traurige Gemeinschaft bildeten, die sich nichts zu erzählen hatte. So war es aber nicht. Noch heute spüre ich das Einvernehmen, in dem wir dasaßen und schwiegen. Dem Gefühl der Wohltat nachzugeben nicht alleine zu sein; einfach in der Sonne zu sitzen, die mir mit sanfter Wärme auf das Gesicht schien und mich auf das Essen zu konzentrieren, ließen mich meine Sorgen für einen Augenblick vergessen. Nur gelegentlich unterbrach das leise Klingen des Bestecks auf den Tellern oder das dumpfe Geräusch des Abstellens eines Glases auf dem Holztisch diese Ruhe.

Nach der Mittagspause war es ausgerechnet Inge, die begann uns von ihrer größten Angst zu erzählen. Während sie davon sprach, wie einsam sie sich als Kind oft fühlte, weil sie für jedes andere Kind zu anstrengend war und dadurch oft alleine blieb, konnten wir ahnen, wie sehr sie diese Einsamkeit auch heute noch belastete. Waren ihre Beine und der Rest ihres Körpers von Haus aus schon in ständiger Bewegung, so konnte ich in diesen Minuten meinen Blick nicht von ihren Beinen abwenden die permanent marschierten, obwohl sie uns gegenübersaß. Inges sonst so vorlautes und Fröhlichkeit verbreitendes Temperament, hatte sich innerhalb von Minuten in das verzweifelte Kind von Damals zurückverwandelt.

Unter Tränen erzählte sie davon, wie ihre Schulkameraden sich auf dem Schulhof von ihr abwendeten, wie sie hinter vorgehaltener Hand tuschelten, wenn sie vorbeiging. Wie ihre Eltern hin- und hergerissen waren zwischen der Hingabe an ihre einzige Tochter und den verzweifelten Versuchen ihr zu helfen, ruhiger zu werden. Wir erfuhren, wie sie einen ständigen Wechsel von Liebe und Überforderung erlebte und bereits in ihren Kindertagen von Arzt zu Arzt geschleift wurde und die verschiedensten Therapien erhielt. Medikamentöse und psychosoziale Therapien, in denen sie lernte ihr Verhalten zu reflektieren und es bedingt zu steuern.

Am Ende ihrer Erzählung wollte ich sie nur noch in den Arm nehmen und halten, auch Orla konnte ich ansehen, dass es sie kaum auf ihrem Stuhl hielt, aber wir konnten alle erkennen, dass Inge es in diesem Moment nicht hätte ertragen können. Mit ihren Armen, die ihren Oberkörper fest umklammerten, bildete sie eine Schutzmauer um sich und strahlte es aus - dieses Signal, dass ich so gut kannte. Jede Faser ihres zusammengezogenen Körpers ließ es erkennen - dieses „Rühr mich nicht an" - als sie uns von ihrer größten Lebensangst erzählte.

„Wisst ihr, sprach sie mit tränenerstickter Stimme und sah uns dabei der Reihe nach an. „Ich wünsche mir einen Partner, der damit klarkommt, dass ich bin, wie ich jetzt bin. Nach all den Jahren in Begleitung von Psychotherapeuten und Psychologen weiß ich, dass es mit meinen Zwangshandlungen nicht mehr besser werden kann, als es bereits geworden ist. Gegenüber meiner Kindheit habe ich schon viel erreicht - besser geht nicht - das weiß ich. Ich bin, wie ich bin und die Therapien haben dazu geführt, dass ich nach meinem Wechsel zum Gymnasium so weit war, mich nicht mehr zurückzuziehen.

Es gab zwei Mädchen in meiner Stufe, die mir sofort sympathisch waren. In ihrer Nähe konnte ich es zulassen, in Gespräche eingebunden zu werden und mich in die Gruppe zu fügen. Ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich das, was ich in den Therapien gelernt habe, auch im Leben umsetzen konnte.

Ich bin dankbar, dass sie beide für mich da waren und auch heute halten wir regelmäßig Kontakt. Das ist aber nicht dasselbe, wie einen Partner an meiner Seite zu haben, der den Alltag mit mir durchsteht. Mit all meinen Verrücktheiten. Ich möchte ein Baby im Arm halten, das mich Mama nennt, wenn es sprechen kann und sich nicht für mich schämt, wenn es groß ist." Fast flüsterte sie den Rest ihrer Worte, als sie mit einem Kieksen in der Stimme, das von den Tränen herrührte, die sie inzwischen versuchte zu unterdrücken, fortfuhr: „Ich habe so eine Scheißangst davor, dass ich beides niemals erleben werde - keinen Partner, kein Baby!"

Eine Weile sprach keiner von uns. Was sollten wir auch sagen, um am Ende nicht abgedroschen zu klingen. Natürlich war Inge mit ihren siebenundzwanzig Jahren noch jung. Keiner konnte sagen, was kommen würde und heutzutage ist es nicht selten, dass Frauen erst mit weit über dreißig ihr erstes Kind bekommen. Aber all das gehörte nicht hierher - an diesen Platz auf der Terrasse, auf den immer noch die Sonne schien.

Noch heute kommt es mir vor, wie im Kino, wenn ich vor meinem inneren Auge unsere Gruppe betrachte - wie wir damals an unserem runden Tisch auf der Terrasse saßen und alles um uns herum ausblendeten. Die Hitze des Mittags war einer angenehmeren Wärme des frühen Nachmittags gewichen und von der See wehte ein leichter Wind zu uns herüber, der sich in Inges Korkenzieherlöckchen verfing und sie verspielt um ihr tränennasses Gesicht tanzen ließ. In meiner Erinnerung gibt es keine Menschen, die in der Strandsauna ein- und ausgingen. Wir nahmen sie nicht wahr - jene Menschen - die vom Strand kommend die Treppe erklommen um sich aus dem Kiosk eine Kleinigkeit herauszuholen, bevor sie ihr Weg weiterführte - über die breite Sandfläche - ihrem Ziel entgegen.

Es war Olivia, die sich als Erste von uns regte. Sie saß direkt neben Inge und legte zaghaft ihre Hand auf ihren Arm, als sie leise sagte: „Inge, es tut mir leid. Ich habe es vorhin nicht bedacht, was mein Vorschlag für euch bedeuten kann, wenn wir davon sprechen. Ich wollte nicht, dass es dir dadurch schlecht geht. Das war unbedacht und unvorsichtig!"

Während ich nicht wusste, was ich sagen und wie ich mich verhalten sollte, kam von Orla ein burschikoses „So ein Quatsch" und von Harald seinem Platz ein unwillig klingender Laut.

Schon während Olivia sprach, fing Inge an energisch ihren Kopf zu schütteln. Als sie jetzt fortfuhr zu sprechen, kam die Inge wieder zum Vorschein, die wir kannten und liebten. „Olivia, ich weiß zwar gerade selber nicht, ob ich auf dich sauer sein soll oder dich umarmen will, aber - ich bin schon groß! Die Entscheidung, dass ich euch das alles erzählen will, habe ich alleine getroffen, als wir beim Mittagessen saßen. Denn - mit einem hast Du Recht! Es kann nicht sein, dass wir von Rebecca erwarten einen Seelenstriptease hinzulegen, von dem wir nicht mal wissen, wieviel sie davon wirklich will, und wir selber verstecken uns."

Dies war der Moment, in dem ich meine Zuschauerposition aufgab. Selbst heute noch kann ich spüren, wie gut es sich anfühlte, als ich mich auf meinem Stuhl geraderückte und mit einem Lachen, dass so leise war, dass der Wind es augenblicklich forttrug, aber mit fester Stimme sprach: „Eh ihr zwei, ich bin auch noch da! - Und Inge, für mich gilt das Gleiche, wie für dich! Auch wenn ich zwei Jahre jünger bin, als du, und auch, wenn ich die letzten Tage nicht den Eindruck vermittelt habe, zu wissen, was ich will, weiß ich ganz genau, dass ich diese Zeit mit euch heute genauso will, wie sie ist.

Heute Morgen - auf meinem Bett - als ich seine Nachricht las und mich so hilflos fühlte, ward ihr die Ersten, die mir in den Sinn kamen. Mit euch wollte ich sprechen. Diese paar Tage, die wir uns kennen, fühlen sich für mich wie Jahre an. Bei euch fühle ich mich angenommen - so wie es ist, möchte ich nicht weitermachen. Ich weiß - ich habe noch viele Tränen in mir, die ich sicherlich auch vergießen werde, aber ich wünsche mir mehr vom Leben als jedes Mal taktieren zu müssen, was ich sage und wie ich etwas tue. Diese ständige Angst - ich möchte sie nicht mehr spüren müssen."

Mit einem traurigen Gefühl in mir, fiel ich wieder auf meinem Stuhl zusammen, bevor ich weitersprach: „Es muss doch eine Möglichkeit geben, wie wir das ändern können. Er war doch nicht immer so, wie er jetzt ist. Ich möchte, dass es wird, wie es am Anfang unserer Beziehung war, als es noch die kleinen Herzen gab. Ich weiß nicht, warum sie heute nicht mehr da sind, aber ich möchte sie wiederhaben."

Am Ende meines Redeflusses hatte meine Stimme ihre Festigkeit verloren und meine Augen schwammen in einem Bad aus Tränen, die ich krampfhaft versuchte, zurückzuhalten.

Selbst heute - an meinem Platz am Geländer - stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht, wenn ich an Inges Reaktion auf meinen ungewohnten Redeschwall denke.

Mit verquollenen Augen und dennoch kessem Blick, der den Schelm in ihr zum Ausdruck brachte, sah sie uns an, als es aus ihr herausbrach: „Es spricht!"

Mit großen Augen schaute ich sie daraufhin an, während alle anderen in ein mehr oder minder verhaltenes Lachen verfielen, das die Nachmittagsidylle durchbrach.

Unter einem lauten Seufzen ließ Inge die Spannung aus ihrem Körper, die sie bisher gefangen hielt, während Olivia mich fragte: „Rebecca, hast du ihm das auch schon mal so gesagt, wie uns gerade?" und Inge mit ihrer Frage dazwischen grätschte: „Hat Er eigentlich auch einen Namen?" - Wobei sie in das „Er" eine Betonung legte, als ob man sich bei dem bloßen Gedanken an ihn die Finger verbrennen könnte.

Mit einem kurzen Kopfschütteln, beantwortete ich Olivias Frage und Inges mit einer Neigung des Kopfes, das Zustimmung ausdrückte. „Und?" fragte sie weiter, „Möchtest Du ihn uns auch mitteilen?" - Nein! Das wollte ich nicht - noch nicht - und so schüttelte ich erneut den Kopf, bevor ich meinen Blick der Tischplatte zuwendete.

*****

Wenn ich bei „Miss Elli" saß und wir uns unterhielten, sah ich sie nur selten direkt an. Oftmals versank ich in dem Anblick des Bildes mit dem roten Klatschmohn, das sich hinter ihr an der Wand befand. Irgendwie fand ich etwas Tröstliches in diesem Bild und etwas - vielleicht durch die Kraft der Farben - das mir immer etwas Kraft verlieh.

Es gelang mir nicht oft, „Miss Elli" zu überraschen, aber als ich in unserem damaligen Gespräch an dieser Stelle meiner Erzählung anlange, war es so.

„Rebecca, das war - überraschend." Mit dem Klang der Überraschung, der in ihrer Stimme lag, zog sie meinen Blick von dem Bild auf sich. „Können Sie sich erklären, woher es rührte, dass sie sich so plötzlich öffneten, und warum sie seinen Namen noch nicht nennen wollten?"

Zwei Fragen, über deren Beantwortung ich oft und lange nachgedacht hatte. Eine befriedigende Antwort darauf habe ich bis heute nicht gefunden. Waren es Frieda und Egon, die ich damals noch nicht kannte, oder war es einfach nur ein tief im Unterbewusstsein verwurzeltes Gefühl des Selbstschutzes? War es das Gefühl mich in einer Wabe zu befinden, in dem ich von einem Kokon der Wärme und Freundschaft umgeben war und das erste Mal seit Jahren keine Angst verspürte, zensiert zu werden? War es dieses Übermaß an Gefühl, das ich am Morgen empfand? Ich weiß nicht, was genau es war, das den Ausschlag gab, dass ich mich so verhielt.

„Miss Elli" glaubt, dass es der Mix aus allem war. „Wissen Sie Rebecca", fasste sie es damals am Ende unseres Gespräches zusammen, „ich glaube, dass es oft im Leben so ist, dass es darauf ankommt, in welchem Maße und Verhältnis sich Begebenheiten - Positive, wie Negative - summieren und aufeinandertreffen. Wie es sich auf unser Verhalten auswirkt - wie wir ihnen begegnen und mit ihnen umgehen. Ich denke, dass Ihnen so etwas an diesem Nachmittag passiert ist und zu ihrem Verhalten führte. Zur richtigen Zeit, am richtigen Ort, in der richtigen Atmosphäre und mit den richtigen Menschen, die Ihnen zur Seite standen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass „Miss Elli" Recht hat mit ihrer Einschätzung ist groß. Heute denke ich nicht mehr darüber nach - ich muss es nicht mehr, denn es ist nicht mehr wichtig. Heute teile ich mir mein Leben mit Lars. Mit Lars ist alles anders - besser.

*****

In der kurzen Pause, die nach Olivias und Rebeccas Fragen und meinen Antworten einsetzte, beruhigte Inge sich zunehmend. Jetzt marschierten ihre Beine nicht mehr, sie fanden den Weg zurück in ihren gewohnten Rhythmus und sie lehnte sich an die Rückenlehne ihres Stuhles. Langsam löste sie ihre Arme vom Oberkörper. Ihre Hände legte sie im Schoß ab. Indem sie ihre miteinander verschränkten Finger ständig lockerte und wieder fest zusammendrückte, fuhr sie fort zu sprechen.

„Wisst ihr, eigentlich ist es ganz gut, dass ich es mal ausgesprochen habe." Immer noch war da der leichte Schluckauf in der Stimme, der verriet, dass sie gerade geweint hatte. Während sie uns jetzt aber wieder der Reihe nach anschaute, lag in den Tiefen ihrer Augen, fast versteckt, ein helles Leuchten.

„Ich habe das noch nie ausgesprochen, weil ich bereits bei dem Gedanken daran fast erstickt bin. Außerhalb meiner Familie habe ich noch niemals eine solche Zugehörigkeit erfahren, wie durch euch. Wenn ich einen Wunsch mit nachhause nehmen kann, von dieser Reha, dann wünsche ich mir, dass wir es irgendwie schaffen, in Verbindung zu bleiben. Ich will euch verdammt noch mal nicht verlieren!"

Mit diesen Worten löste sie ihre ineinander verknoteten Hände und trocknete sich energisch mit den Handballen die Augen.

Behutsam reichte Orla ihr mit den Worten: „Inge, Kind - putz dir mal die Nase", ein Taschentuch über den Tisch, was uns anderen zum Schmunzeln brachte.

Nachdem Inge sich geräuschvoll, wie ein kleiner Elefant geschnäuzt hatte, blickte sie triumphierend in die Runde, bevor sie mit einer Stimme weitersprach, in der das Glück des Mutigen mitschwang und einem breiten Grinsen im Gesicht: „Fertig, der Nächste bitte!"

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