Kapitel 11

Borkum 2013 - Erster Sonntag

An der Strandsauna - Teil 2

Heute, wo ich hier am Geländer sitze und mit auf die Nordsee gerichteten Blick den Sommerabend genieße, bin ich nicht mehr die Rebecca von damals - an der Strandsauna. Es ist nicht so, dass ich über Nacht zu einem anderen Menschen geworden bin. Meine Melancholie und meine Ängste sind nicht verschwunden aber, ich habe gelernt mit ihnen umzugehen. Sie sind ein Teil meines Wesens, den ich inzwischen akzeptieren kann. Heute, wo ich auf die Rebecca von vor vier Jahren zurückblicke, wie ich immer kleiner wurde, in mir zusammenfiel und mich meinen Tränen und Ängsten ergab, möchte ich mich bei den Schultern packen und wachrütteln.

*****

Olivias Frage nach meinem aktuellen, persönlichen Super Gau hallte mir in den Ohren. Alles in mir drängte danach ihr zu antworten und doch konnte ich es nicht. Mit jedem Wort, das zuvor gesprochen wurde, spürte ich, wie der Kloß in meinem Hals dicker wurde, wie die aufgestauten Tränen der vergangenen Jahre sich ihren Weg suchten. Ich weiß nicht, wie lange ich brauchte um mit dem Weinen aufzuhören. Auch weiß ich nicht, wie es kam, dass Olivia neben mir saß und mich mit ihrer energiespendenden, warmen Art einfach nur im Arm hielt. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass ich in ihrer Gegenwart nichts anderes tat, nahm ich am Rande wahr, wie Orla leise ausstieß: „Na endlich, das wurde langsam Zeit, dass sie den Druck mal los wird." Entgegen ihrer sonstigen Art, war es Inge, die Orla und Harald leise aber bestimmt aufforderte, Olivia und mich mal eine kleine Weile alleine zu lassen.

Später, als ich mich beruhigte und langsam wieder sprechen konnte, fanden sie ihren Weg zu uns zurück. Wortlos schob Olivia mir den Block hin. Wortlos nahm ich den Schreiber in die Hand und fasste das erste Mal im Leben einen Teil meiner Ängste in Worte.

Dort standen sie nun, die Worte - Schwarz auf weiß - für alle sichtbar.

Kein Zuhause mehr zu haben und alleine zu sein, wenn ich von der Reha zurückkomme.

Während Inge abfällig schnaubend raussplodderte: „Na herzlichen Glückwunsch, das was du jetzt hast, klingt für mich auch nicht nach einem Zuhause." Hörte ich von Orlas Platz: „Mäuschen, dafür gibt es Lösungen." Währenddessen Harald mir mit offenem Blick in die Augen schaute und sagte: „Rebecca, diese Angst davor alleine zu sein, kennen wir glaube ich alle."

Olivia griff sich erneut den Block und den Schreiber und fing an zu schreiben. Als sie mir den Block wieder zurückschob stand dort fett und unterstrichen das Wort Zuhause, darunter standen ihre Fragen. Erst noch zögerlich schrieb ich ihr meine Antworten dazu, die mir spontan einfielen. So ging das eine ganze Weile hin und her. Während wir schrieben, unterhielten sich die anderen leise miteinander. In der beständigen Ruhe des Schreibens und dem leisen Gespräch der anderen, nahm ich wahr, wie der Sturm in meinem Inneren sich langsam zu legen begann.

Für jedes Wort und die dazugehörigen Fragen benutzte Olivia ein neues Blatt Papier. Auf Inges Einwand, dass es Verschwendung wäre, reagierte sie ganz gelassen mit den Worten: „Ist es nicht! Morgen, wenn die Geschäfte wieder geöffnet sind, werde ich in meiner therapiefreien Zeit zwei Schnellhefter für Rebecca besorgen. In einen kommen die Zettel, die wir hier heute erarbeiten. Ihr könnt mir glauben, dass die meisten Fragen erst noch kommen, wenn Rebecca zur Ruhe kommt und mit sich und ihren Gedanken alleine ist. Damit will ich dir keine Angst machen Rebecca, aber ich glaube, du weißt selber nur zu gut, wie es ist, wenn die Gedanken anfange zu rattern und man nicht weiß, wohin damit. Wenn es soweit ist, hast du die Möglichkeit die Fragen und deine Antworten zu erweitern." ... Neugierig schauten wir sie alle an, in der Erwartung, dass sie noch mehr erzähle, aber das tat sie nicht.

Spitzbübisch schaute sie stattdessen in die Runde und sprach schließlich mit einem breiten Grinsen im Gesicht weiter: „Ich sehe euch eure Neugierde förmlich an, was es mit dem zweiten Schnellhefter auf sich hat, aber alles bekommt ihr auch nicht auf dem Präsentierteller. Wenn Rebecca an unser Gespräch an der Brandungszone zurückdenkt, kommt sie vielleicht drauf, ansonsten müsst ihr warten, bis es so weit ist."

Fragend waren jetzt alle Augen auf mich gerichtet. In Gedanken vollzog ich bereits unser Gespräch. Ich erinnerte mich, wusste aber nicht, ob ich es auch laut aussprechen durfte. Innerlich schimpfte ich schon wieder mit mir selber. Ich wollte doch etwas verändern und wenn Olivia nicht wollte, dass die anderen davon erfahren, dann hätte sie es doch nicht angesprochen - oder?

Zögerlich und mit der stummen Bitte um Einverständnis im Blick wandte ich mich ihr zu und vergewisserte mich leise fragend: „Apothekerschrank?" Als sie zustimmend nickte fuhr ich mit festerer Stimme als zuvor fort: „Ich glaube Olivia meint das in etwa so ... Wenn ich alle Zettel auf einen Haufen sammle, symbolisieren sie den Berg, den meine Probleme für mich darstellen." Immer noch irritiert fragte Ingrid nach: „Ja, und was bringt das, wenn du sie alle auf einen Haufen wirfst?"

Mit einem zaghaften Lächeln im Gesicht schaute ich erst Inge und dann den Zettelhaufen an, der inzwischen in unserer Mitte auf dem Tisch lag, als ich ihr antwortete: „Es wäre der erste Schritt mir einzugestehen, dass ich mehr als ein Problem habe."

„Oh!" War alles, was Inge daraufhin von sich gab. Mit ihrem rauen Lachen, das ich so sehr mochte, stand Orla auf und war mit drei Schritten an meiner Seite. Liebevoll nahm sie mich um die Schulter, als sie mich immer noch lachend drückte und sagte: „Mäuschen, ich glaube, jetzt hast du es tatsächlich auch erkannt."

Räuspernd meldete sich Harald zu Wort, während er sich mit nachdenklicher Mine mit seiner, vom Bergbau gezeichneten, Hand durch die Haare fuhr: „Trotzdem, auch auf die Gefahr hin, dass Ihr mich jetzt nicht für besonders schlau haltet, weiß ich immer noch nicht, wofür der zweite Schnellhefter sein soll."

„Ist doch klar jetzt", kam es als Antwort aus Inges Richtung. „Sieh mal Harald", fuhr sie fort, wobei sie sich den Zettelberg griff und ihn in Haralds Richtung hielt. Wenn alle Zettel zusammen den Berg symbolisieren, dann steht jeder einzelne Zettel für einen Stein, der aus dem Weg geräumt werden muss. Siehst du, so!", fuhr sie fort zu reden, während sie einen Zettel nach dem anderen Beiseite packte. „Jeder Zettel, der von Rebecca Beiseite gepackt wird, symbolisiert ein gelöstes Problem - quasi einen aus dem Weg geräumten Stein. So wird der Berg irgendwann abgetragen, bis er irgendwann verschwindet."

„Aber", wagte Harald erneut einen Einwand, „warum dann aufbewahren und nicht gleich wegwerfen?"

„Weil es manchmal wichtig sein kann, am Anfang etwas zum Vergleich vor Augen zu haben, was man schon erreicht hat, wenn man glaubt auf der Stelle zu treten oder an sich zweifelt. Außerdem wird es immer so sein, dass ein Berg nie ganz abgetragen sein wird. Meistens kommt das Leben mit seinen Veränderungen und neuen Anforderungen, die diese dann an uns stellen, dazwischen. Aber irgendwann kann aus dem Berg ein Hügel werden und wer weiß, vielleicht bleiben noch viel später nur noch ein paar Stolpersteine nach. Wir werden es hoffentlich alle irgendwann erfahren, ob das Leben im Alter wirklich gnädiger wird, wie es immer so schön heißt, oder ob es doch nur ein weiterer Spruch ist, der uns bei der Stange halten soll."

Überrascht schauten wir alle zu Olivia, von der wir diese Worte vernahmen.

„So Kind der Sonne", kam es von Harald mit seinem vollen Bariton in aufmunternden Tonfall, „jetzt sind wir neugierig, nun bitte auch die Geschichte dazu." Mit einem fröhlichen: „Nein Chef, heute nicht", schüttelte sie sich ihren Pony aus dem Gesicht. „Das ist eine andere Geschichte, die kann ich euch mal abends an der Promenade erzählen, wenn wir auf den Sonnenuntergang warten. Heute geht es um Rebecca ... und Harald", schob sie hinterher, "ich bin bestimmt kein Kind der Sonne!"

„Bist du wohl", trötete Inge in dem Moment, als ich sagte, dass ich diese Bezeichnung sehr passend für sie finde. Kopfschüttelnd schaute Olivia uns an, als sie erwiderte: „Das bin ich ganz sicher nicht, ich habe nur irgendwann beschlossen, dass es sich nicht lohnt mich über Dinge aufzuregen, die ich nicht ändern kann. Wenn es sich lohnt zu kämpfen, kann ich sogar sehr verbissen sein."

Mit einem Blick auf die Uhr sprach Orla jetzt ein Machtwort: „Kinder, es ist Mittagszeit. Ich schlage vor, dass wir uns erst einmal stärken.

Zustimmend schoben wir alle unsere Stühle zurück, als Olivia noch einmal sprach: „Nachdem Rebecca uns jetzt einen Teil ihrer Ängste offenbart hat, fände ich es nur fair, wenn wir uns dafür revanchieren. Deshalb schlage ich vor, dass wir die Essenszeit nutzen und ein bisschen von unseren eigenen Ängsten preisgeben." Während Inge grummelnd von sich gab: „Ich glaube, mir ist gerade der Appetit vergangen", knuffte Harald ihr freundschaftlich in die Rippen und sagte: "Komm schon Inge, gleiches Recht für alle." Sich ihrem Schicksal ergeben schloss sie sich uns an, auf unserem Weg zum Kiosk in der Strandsauna, an dem wir uns unser Essen besorgten.

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