Kapitel 10
Borkum 2013 - Erster Sonntag
An der Strandsauna -Teil 1
Wenn ich heute an diesen ersten Sonntag auf Borkum zurückdenke, staune ich über die vielen kleinen Schritte, die ich in den fünf Tagen seit meiner Ankunft gegangen war. Auf der einen Seite waren es nur fünf Tage, auf der anderen Seite kamen sie mir vor, wie eine Ewigkeit. Ich war kein Mensch, der sich leicht öffnete oder seine Sorgen nach außen trug - das bin ich auch heute noch nicht - und doch gab es hier vier Menschen, die es geschafft hatten meine Schale aufzubrechen, einfach, weil sie da waren und mir das Gefühl gaben, mit all meinen Tränen dazuzugehören. Dieser Tag an der Strandsauna, bedeutete einen weiteren entscheidenden Schritt in mein neues Leben.
*****
Gemeinsam fuhren wir, wie besprochen, mit dem Fahrrad zur Strandsauna. Auf Haralds sanftes Drängen hin, das ihm zu eigen war, wenn er die Führung in unserer kleinen Gruppe übernahm, fuhren wir nicht direkt durch die Dünen dorthin. Er hatte einen Weg ausgekundschaftet, der länger dauerte und uns durch das Inselinnere dorthin führte. Dieser Umweg bewirkte zweierlei bei mir. Zum einen tat mir die Bewegung gut, die ich durch das Radfahren erfuhr. Da ich die letzten Tage meine Wege ausschließlich zu Fuß bewältigt hatte und ich immer noch nicht zum Sport an die Geräte durfte, freuten sich meine Muskeln regelrecht über die Gleichmäßigkeit des Tretens der Pedale. Zum anderen erweiterte sich mein Horizont durch den größeren Radius, den wir mit dem Rad erreichten.
Hatte mir der Weg mit der kleinen Bahn von der Fähre zum Ortskern bereits einen Einblick in die Beschaffenheit des Vorlandes auf der linken Seite und der Wiesen und Felder auf der rechten Seite der Bahnstrecke gewährt, so bot sich mir jetzt ein völlig anderer Eindruck. Wir fuhren über einen verwunschen wirkenden Weg; durch blühende Heidelandschaft, vorbei an Fasanen und Kaninchen, die uns am Wegesrand begegneten, zurück durch die vorgelagerten Ortschaften auf den Weg durch die Dünen, der uns letztendlich zu unserem Ziel führte.
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Das war ein Punkt, an dem „Miss Ellie" später in unseren Sitzungen ansetze, als ich ihr von dieser Fahrradtour erzählte. Damals fragte sie mich, ob das alles war, was ich mit der Fahrradtour in Verbindung brachte. Die Wohltat durch die veränderten Bewegungen und die Freiheit durch den erweiterten Horizont. Wie immer, wenn sie mir eine ihrer Fragen stellte, schaute sie mich mit einem Blick an, der mir signalisierte, dass es noch mehr gibt, über das es sich nachzudenken lohnt. Diese Fragen wurden stets von ihrem feinen Lächeln begleitet, mit dem sie mich aufforderte, in meinem Gehirn zu forschen, was es noch mehr geben könnte und ich fing an zu denken.
Mit der Entscheidung Fahrrad zu fahren, hatte ich mich über ein bestehendes Sportverbot hinweggesetzt. Damit hatte ich eine Grenze überschritten. Nie wäre es mir vorher in den Sinn gekommen, bei dem Obrigkeitsdenken das ich besaß, mich über Verbote hinwegzusetzten. Hier durchbrach ich mein Muster.
Ob es mir damals schon bewusst war? - Nein! Das war es nicht. Morgens auf meinem Bett sitzend, hatte ich die Entscheidung getroffen, mein Kleeblatt und Olivia um Unterstützung zu bitten. Dass wir diese gemeinsame Fahrt unternahmen, fühlte sich für mich einfach nur gut und richtig an. Auf unserem Weg durch die Ortschaften nahm ich das erste Mal bewusst wahr, in welchem Kokon ich mich die letzten Tage befunden hatte. Ein Kokon, der mir durch die Nähe zur Klinik die Sicherheit gewährte jederzeit Unterstützung zu finden, sollte es mir durch das Asthma schlechter gehen. Ein Sicherheitsgefühl, das ich mit dieser Fahrradtour vertrauensvoll in die Hände dieser Menschen legte, die mich nahmen, wie ich war.
„Miss Ellie" meinte, dass das zuweilen geschieht. Gerade in Zeiten einer Reha. Es kann vorkommen, wenn man auf so intensive Art und Weise, wie unsere kleine Gruppe, viel Zeit miteinander verbringt. Manchmal ist es leichter „Fremden" gegenüber Dinge zu erzählen die einen persönlich belasten. Gerade, weil sie einen nicht gut kennen und daher nicht mit Vorurteilen oder Erwartungen belastet sind. Man kennt sich nicht und wahrscheinlich sieht man sich auch nie wieder. Diese Situation kann dazu führen, dass Verhaltensmuster durchbrochen werden.
Bei mir war es ganz bestimmt so.
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Harald hatte nicht zu viel versprochen. Nachdem wir zum Schluss über den Weg durch die Dünen so nahe an die Strandsauna herangeradelt waren, wie es ging, mussten wir den letzten Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Über einen Trampelpfad erreichten wir kurz vor der Mittagszeit unser Ziel.
Auf der Terrasse der Strandsauna, wo so gut wie kein anderer Mensch mit uns saß, weil sie entweder in der Sauna oder am anschließenden FKK-Strand weilten, erzählten wir uns ein bisschen aus unseren Leben.
Obwohl ich am Morgen noch diejenige war, die um Unterstützung bat, fiel es mir unsagbar schwer zu beginnen. Wie sollte ich auch beginnen? Bei meiner großen Angst vor den Konsequenzen, die es nach sich ziehen konnte, wenn ich einmal begann zu erzählen. Konnte ich denn wirklich sicher sein, dass ich mich am Morgen nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte, mit meiner Bitte um Unterstützung?
Als wir alle mit Getränken versorgt waren und unsere lobenden Worte in Haralds Richtung sich erschöpften, für den schönen Weg und diesen Platz, bemerkte ich, wie sich vier Paar Augen mit erwartungsvollem Blick auf mich legten. Verlegen schaute ich auf die Tischplatte, als ich leise bemerkte: „Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich wirklich möchte und ich habe auch keine Ahnung, ob und wie ihr mir weiterhelfen könnt."
Olivia war es, die das Schweigen brach, das nach meinen Worten eingetreten war. Ihre Worte vergesse ich nie, denn sie waren es, die mein Schweigen beendeten, die dazu führten, dass ich anfing zur erzählen, über das, was mich aktuell am meisten belastete.
„Rebecca", sprach sie damals mit ruhiger Stimme, „das kann ich gut verstehen. Dieser Schritt ist mit Sicherheit kein leichter." Ihre Stirn legte sich in Denkerfalten, als sie fortfuhr zu sprechen. Vielleicht hilft es ja, wenn wir mal was ausprobieren, was ich vor Jahren gelernt habe. Damals war ich ungefähr in Ingrid und deinem Alter, als mir ein Job angeboten wurde. Die Situationen sind zwar denkbar unterschiedlich, aber es könnte trotzdem eine Möglichkeit sein, die dir helfen kann, den ersten Schritt zu wagen.
Unter anderem sollte ich bei diesem Job über vier Tage eine Fortbildungsmaßnahme für eine Vielzahl von erwachsenen Menschen leiten, die zum großen Teil deutlich älter waren als ich. Um mal mit Orlas Worten zu sprechen; mir ging der Arsch damals mächtig auf Grundeis. Ähnlich also, wie du dich wahrscheinlich gerade fühlst", wandte sie sich jetzt mit direktem Blick an mich.
„Mein Mentor hat mir daraufhin den Rat gegeben, mir vorzustellen, was mein persönlicher Super Gau wäre, der eintreten könnte. Damals hatte ich Angst davor, dass mir die Stimme versagen kann, ich einen Asthmaanfall bekomme, dass ich vergesse, was ich moderieren soll, dass die Technik versagt und mir die Teilnehmer vorführen, dass ich nur geistigen Dünnschiss von mir gebe."
Während sie sprach, wühlte sie bereits in ihrer meeresblauen Tasche herum und förderte einen Block und einen Schreiber zu Tage. Indem sie den Block aufschlug, erzählte sie uns davon, dass ihr Mentor damals alles aufschrieb, was sie sagte und dann Punkt für Punkt nach Lösungen mit ihr suchte, um sie, so gut wie möglich, auf diese Fortbildung vorzubereiten.
In entspannter Haltung lehnte sie sich wieder im Stuhl zurück. Die Nase genussvoll in die Sonne gereckt, erzählte sie weiter: „Er schob mir die Liste rüber und hinter jeden Punkt musste ich notieren, was wir für Lösungen erarbeitet hatten."
„Verstehe ich nicht!", warf Inge jetzt ein. „Wenn er die Punkte aufgeschrieben hat, warum musstest du die Liste dann weiterführen? Die Idee war doch auf seinem Mist gewachsen."
„Lass mal Inge, so wie ich Olivia inzwischen einschätze, hat das bestimmt einen Grund.", bemerkte Harald.
Fröhlich schaute Olivia zwischen den beiden hin und her, als sie voller Zustimmung nickte und antwortet: „Stimmt Harald, hat es. Denn genauso wie Inge, habe ich damals auch gefragt, warum ich das jetzt machen soll. Hinterher war ich schlauer.
Während ich notierte und wir Pläne ausfeilten, wie wir welchen Punkt umsetzten wollten, hatte ich keine Zeit an meine Ängste zu denken."
„Cool", unterbrach Inge sie erneut, verstummte aber sofort, als Orla sie mahnend von der Seite ansah. Schmollend fing sie wieder an mit ihren Beinen zu wippen, aber daran hatten wir uns inzwischen gewöhnt. Sowohl an das Schmollen, als auch an das Wippen der Beine. Wir wussten ganz genau, dass sie innerhalb kürzester Zeit wieder die fröhliche und offene Inge sein würde, die wir alle mochten.
Olivia nahm inzwischen ihren Erzählfaden wieder auf: „Am Ende hatten wir organisiert, dass ich vorher an einem Rhetorikseminar teilnehmen konnte. Dort habe ich unter anderem gelernt und geübt, wie ich auf bestimmte Situationen und Einwände reagieren kann. Wie ich nach außen wirke, was gut und was nicht so gut rüberkommt. Das hat mir nicht nur für den Beruf geholfen.
Weil wir Einfluss auf die zeitliche Gestaltung nehmen konnten, war es mir möglich einen Tag vorher anzureisen, mich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut zu machen und die Technik auszuprobieren.
Mit meiner Internistin stimmte ich noch einmal die Dosierung der Medikamente ab und ich konnte an einer Asthmaschulung teilnehmen. Dort lernte ich, ähnlich wie es uns auch hier in der Reha beigebracht wurde, wie ich meine Wahrnehmung schärfen kann um erste Anzeichen für einen Anfall zu erkennen.
Am Ende war es das Gesamtpaket, das dazu führte, dass ich mich sicher fühlen konnte. Denn mit einer Aussage hatte mein Mentor schon damals recht, fachlich konnte mir keiner der Teilnehmer das Wasser reichen. Sie waren alle da, um etwas Neues zu erfahren und in dem Thema, war ich die Fachfrau."
Enthusiastisch rückte sie sich wieder auf ihrem Stuhl in eine aufrechte Position und schaute einmal in die Runde, bevor sie fragte: „Und? Wollen wir das mal so versuchen Rebecca?
Wie sie mich danach alle mit einem aufmunternden Blick in ihren erwartungsvollen Augen anschauten, war ich mir sicher, am Morgen das Richtige getan zu haben. Langsam nickte auch ich.
Energisch nahm Olivia daraufhin den Stift in die Hand und stellte mir die erste entscheidende Frage dieses Tages: „So Rebecca, dann sag mal bitte, was wäre zurzeit dein persönlicher Super Gau?"
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