Zugfahrt

Henrys Sicht:

„Wow!" Ich höre Gabriel mit den Zähnen knirschen und muss kichern, als Donald seine Arme zur Begrüßung um mich legt. Seit ihrer Auseinandersetzung sind einige Monate vergangen und irgendwie ist es mir gelungen, meinen Freund davon zu überzeugen, dass Donald eigentlich ein Guter ist. Ab und zu kommt er zu uns zu Besuch und die beiden unterhalten sich angeregt schon wie bei unserem ersten Besuch bei meinem Chef. Am Ende des Abends habe ich mehr mit Eifersucht zu kämpfen als Gabriel, was meist in sehr detaillierten Bekundungen seinerseits endet, dass er mit niemand anderem sein Bett teilen will als mit mir. Auch, wenn es mir von Zeit zu Zeit noch immer schwerfällt, das zu verstehen, und er etwas nachdrücklicher werden muss.

Donald ist es auch, der mich auf die Veranstaltung aufmerksam gemacht hat und mich überredet, mitzukommen. Abgesehen von meiner Outfit-Wahl, die zugegebener Maßen doch etwas gewagt und dem vorfreudigen Moment am Morgen entsprungen ist, hatte Gabriel an dem Vorhaben nichts auszusetzen. Als Donalds Finger nach der Umarmung ganz beiläufig die nackte Haut an meiner Flanke streifen, weiß ich allerdings genau, wie mein Freund sich hinter mir versteift. Sein lautes Räuspern veranlasst Donald, sich zurückzuziehen und seiner Staunensbekundung eine Erklärung beifügen. „Du siehst fantastisch aus, Henry. Richtig heiß." Sein Blick schwenkt zu Gabriel, der fest die Zähne aufeinanderbeißt und den Dritten eisig anfunkelt. „Ihr beide.", stellt er weiter fest, doch die Relativierung genügt nicht, um Gabriels Reaktion abzumildern.

„Ich weiß, es ist schon eine Weile her, Donald.", beginnt er mit erschreckend ruhiger Stimme. Obwohl ich keinen Streit zwischen den beiden will, schon gar nicht heute, an einem Tag, an dem wir uns vorgenommen haben, ausgelassen Spaß zu haben und uns selbst zu feiern, gefällt es mir gut, wie Gabriel seinen Besitzanspruch anmeldet. Die Muskulatur seiner Arme ist lauernd gespannt, ebenso sein Kiefer. Er klingt ganz ruhig, doch man kann genau hören, wie er sich bereit macht, den anderen anzuspringen und mich zu verteidigen. Ich schlucke überschüssigen Speichel und betrachte diesen schönen Mann weiter von der Seite. Möglicherweise ist seine Eifersucht leicht übertrieben, nicht ganz normal. Aber dann ist es auch nicht normal, wie sehr mich das jedes Mal anmacht. Kurz bin ich selbst genervt von dem Plan, nun noch zwei Stunden lang in proppenvollen öffentlichen Verkehrsmitteln herumzustehen, um dann erst viel später wieder zuhause zu sein, wo wir übereinander herfallen können.

„Aber vielleicht erinnerst du dich ja an diese Unterredung, die wir mal hatten." Gabriel führt wie beiläufig seine Hände vorm Körper zusammen, die eine zur Faust geformt, die andere streicht sanft deutend über die zu einer Ebene geschlossenen Fingerrücken. Das Blau in Donalds Augen blitzt amüsiert auf und er hebt in gespielter Unschuld die Hände empor. „Ist ja schon gut! Ich hab' ja gar nichts gesagt."

Gabriel wirkt nicht gänzlich zufrieden, als er meine Hand umschließt und mit sich in Richtung der Haltestelle zieht, an der unsere Reise beginnt. Er sieht nicht, wie Donald mir noch spielerisch zuzwinkert. Belustigt schüttele ich über ihn den Kopf. Er kann es einfach nicht lassen, obwohl er genau weiß, wie Gabriel reagiert. Dabei ist uns allen klar, dass es für ihn nur ein harmloser Spaß ist und er niemals weitergehen würde, als ein bisschen zu flirten. Dass wir zusammengehören, das weiß er mit Sicherheit und Gabriel wird nicht müde, es ihm unter die Nase zu reiben.

Der Bus zum Hauptbahnhof unserer Kleinstadt ist noch leer genug, um Sitzplätze für uns drei zu ergattern, doch schon in den Zug darauf müssen wir uns quetschen. Gabriel legt beschützend seine Arme um mich und schafft es dennoch sich einhändig an einem der Haltgriffe einzuhaken. Lächelnd lehne ich mich zurück gegen seine warme Brust. Ein perfekter Tagesbeginn, stelle ich fest. Unterwegs mit meinem wunderbaren Freund – immer wieder betone ich seit Monaten in Gedanken diese Bezeichnung. Würde ich es so oft sagen, wie es mir trällernd durch den Kopf geht, würde niemand sich mehr mit mir unterhalten. Und mittlerweile bin ich besser darin geworden, mich zu unterhalten. Ich überlasse noch immer anderen gerne das Reden in Gruppensituationen, aber ich traue mich immer mehr, meine Sicht hinzuzufügen oder jemanden anzusprechen. Ich bin aufmerksam, erinnere mich an Dinge, die jemand vor längerer Zeit nebenbei erwähnt hat. Das kann ich mir zunutze machen und erhalte dafür immer wieder erfreutes Lächeln.

„Wieso wolltest du das nochmal machen?", seufzt Gabriel nach einer Weile an meinem Ohr. Er ist nicht so genervt, wie er klingt, aber die Enge setzt ihm zu, genau wie mir. Ich bemühe mich, mein Strahlen aufrecht zu erhalten, als ich meinen Kopf zu ihm herumdrehe. „Weil es bestimmt guttut, einfach mal zu feiern, dass wir wir selbst sind. Stolz auf uns sein können.", erkläre ich den scheinbar banalen Gedankengang.

Gabriel schmunzelt, seine Augen funkeln verschmitzt. „Dabei bist du ja nicht mal schwul.", betont er belustigt, scheint mich auf den Arm nehmen zu wollen, doch ich erwidere bloß sein Grinsen. Stolz sein kann ich doch trotzdem, egal, wie ich bin. Donalds gerunzelte Stirn gerät in mein Blickfeld und ich lache über seinen angestrengten Gesichtsausdruck. „Was geht denn in dir vor?", will auch Gabriel wissen. Donald schüttelt sich bei seiner Erklärung, als sei er durch ein Spinnennetz gelaufen, das noch kitzelnd an ihm haftet. „Ich habe versucht, mir Henry mit einer Frau vorzustellen." Wieder entlockt er mir ein Lachen. Er hat ja Recht, die Vorstellung behagt auch mir nicht. Gabriel aber ist ganz ernst. „Na und? Nur weil er sich nicht für Frauen interessiert, muss er ja nicht schwul sein.", verteidigt er mich, obwohl er gerade selbst noch eher veralbernd davon angefangen hat. Beruhigend streiche ich über seinen Arm, drehe mich ganz zu ihm herum, versuche, seinen Blick aufzufangen. „Ist doch egal.", bitte ich ihn sanft.

„Ich versteh's nicht.", meldet sich Donald von hinter mir. Bevor Gabriel ihn anpflaumen kann, ergreife ich das Wort. Noch immer bin ich in dieser Sache unsicher, bekomme das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Nur mit Gabriel und meinen liebgewonnenen Kolleginnen habe ich bislang darüber gesprochen und alle waren sehr verständnisvoll. Vor Allem Gabriel, der von der Schikane durch meine Cousins weiß und der negativen Behaftung, die der Begriff „schwul"für mich innehat. Dabei ist es doch genau das, worum es heute gehen soll: Man selbst zu sein, zu sich zu stehen, ohne sich erklären zu müssen, bis jemand anderes es vielleicht versteht. Aber Donald ist ein Freund und ich möchte es ihm gerne erklären.

„Ich habe mich nie für jemanden interessiert, bevor ich Gabriel getroffen habe. Mir war Sex immer egal. Dann hab' ich mich verliebt, aber ich finde nicht, dass das pauschal bedeutet, dass ich auf Männer stehen muss. Nur auf diesen hier." Ich zucke die Schultern, denn das ist doch die ganze Geschichte. Ich weiß nicht, ob der Tag kommt, an dem ein anderer Mann meine Aufmerksamkeit weckt, an dem ich mir einen Porno zum Vergnügen ansehen kann, ohne dabei an Gabriel denken zu müssen, oder ob ich mich vielleicht doch eines Tages in eine Frau vergucke. Aber eines Tages zählt für mich nicht. Ich bin jetzt und ich liebe diesen Mann an meiner Seite. Nur diesen. Das ist das einzige, was ich definiert wissen will.

Donald senkt die Mundwinkel zu einem nachdenklich-anerkennenden Ausdruck und nickt dann langsam. „Das ist beeindruckend, Henry. Wo es doch noch so viel mehr hübsche Männer da draußen gibt." Ich lache auf, spüre Gabriels warme Arme, die sich erneut haltgebend um mich schlingen. Mit den Haltestellen ist das Publikum in der Bahn zunehmend bunter geworden und mich ergreift die Vorfreude. Kurz wird sie ernüchtert, als ein stämmiger Typ mit Bürstenschnitt Donald gegen uns schubst.

„Halt's Maul, Schwuchtel!", brummt er. Mein Mund klappt auf und ich bin völlig verdattert. Sowas ist mir noch nie passiert, geschweige denn einer Person in meiner Umgebung. Die Sprüche meiner Cousins kommen mir mit einem Mal berechenbar und harmlos vor. Denn wer ist dieser Homophobe, der sich einfach in unser Gespräch einmischt und Donald tätlich angeht? Ist er gefährlich?

Donald setzt schon zu einer Antwort an, ehe er die Lage überhaupt sondiert hat. „Oh, hey, fährst du auch zur Pride-Parade?", säuselt er zuckersüß und dreht sich zu dem Schläger um, der ihn kurz verdattert ansieht, bis ihm eine Erwiderung einfällt. „Ganz sicher nicht, du Freak." Donald lacht glockenhell auf und ich bin verwundert, dass ich ihn so gar nicht kenne. Er gibt sich irgendwie damenhaft, klimpert sogar mit den Wimpern, aber hinter dem Schauspiel verbirgt sich der Schalk.

„Schade, wenn dir nichts einfällt, auf das du stolz sein kannst." Ich presse mir die Hand vor den Mund, um nicht zu lachen. Mir macht der Fremde nämlich Angst. „Was?", blafft er und baut sich bedrohlich vor Donald auf, den er um eine Kopflänge überragt. „Willst du Stress?" Wieder lacht Donald, selbstsicher wie kein anderer in einer solchen Situation. „Schau dich mal um, Süßer.", flötet er. „Du bist in der Unterzahl." Er deutet um uns herum und erst jetzt werden mir die vielen Menschen bewusst, die mit expliziten Sprüchen bedruckte Shirts und regenbogenfarbene Accessoires tragen. Nicht unweit von uns steht ein hagerer Junge, auf dessen Oberteil in grellpinken Lettern „Steh' deine Frau!" zu lesen ist. Wieso auch nicht?

Der Unruhestifter scheint das gleiche zu erkennen wie ich, bevor er zwischen den stolzen Mitfahrern hindurch davonwieselt und seine Niederlage im Wortgefecht somit schmachvoll eingesteht.

Wie in Trance kann ich Donald nur anstaunen, während Gabriel wesentlich geistesgegenwärtiger reagiert und ihm anerkennend auf die Schulter klopft. „Wow.", sagt er, worauf ich nur zustimmend nicken kann. „Das war ja heiß." Das Erstaunen in seiner Stimme macht das Kompliment zunichte, ehe es an Donalds Ohren dringt, und obwohl ich weiß, dass es bloß die Retourkutsche für vorhin ist, drehe ich mich mit erbost geblähten Wangen wieder herum.

Gabriels Blick ist erschrocken, als staune er selbst darüber, das gesagt zu haben. Dann schüttelt er eilig den Kopf, ohne den Blick aus meinen Augen zu lösen. „Nein, so hab' ich das nicht gemeint, Baby.", flüstert er mir dringlich entgegen. Obwohl ich weiß, dass er es als Spaß gemeint hat, gebe ich noch nicht nach und mime weiter den Gekränkten. „Du weißt, ich würde niemals..." Ich schmelze unter seinem leicht verzweifelten Blick, der ein Feuer auf meinen vom Gedränge erhitzten Wangen entfacht. Er kann so niedlich sein. Ich will ihn erlösen, aber da sind seine Lippen näher an meinem Ohr, er flüstert weiter Beteuerungen. „Du weißt, ich will keinen anderen. Ich will nur dich, Liebling. Glaubst du mir?" Ich kann mich eines fröhlichen Grinsens nicht erwehren, als mein Gesicht wieder in sein Blickfeld gerät. Dann beuge ich mich meinerseits zu seinem Ohr vor. „Vielleicht glaube ich dir... Wenn du es mir später nochmal ganz anschaulich beteuerst." Dabei drücke ich mich ihm enger entgegen, spüre die Hitze, die sich mittig an seinem Körper bündelt. Triumphierend registriere ich, dass ich im Stande bin, ihn zu erregen. Nur ein paar Worte, mitten in der vollgestopften Bahn, und sein Ständer presst sich durch ein paar Stofflagen an meine Mitte. Was für ein Gefühl, dafür verantwortlich zu sein. Gabriel sieht ein bisschen kläglich aus, beißt sich auf die Unterlippe und nickt eilig. „Versprochen.", höre ich ihn noch sagen und ärgere mich selbst darüber, dass es bis dahin noch so lange hin ist.

„Ihr seid ja nicht zum Aushalten. Zum Glück sind wir gleich da!", verkündet Donald mit aufgesetzter Genervtheit. Und tatsächlich rollt der Zug ein paar Augenblicke später in den Bahnhof ein, an dem wir von einer bunten, fröhlichen Masse aus dem Wagon gespült werden.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top