Kümmern (immer noch 30. Januar)


Nachdem ich noch ein paar Augenblicke auf der Straße gestanden habe, was mir erschrockene Blicke eines Hundespaziergängers eingebracht hat, da ich nicht mehr als meine Boxershorts am Leib trage, bin ich bestimmt eine Stunde lang im Wohnzimmer herumgetigert. Henry hatte nicht einmal Socken an oder ein Hemd. Nur meine verdammte, zu große Hose und einen Wintermantel. Sein Handy liegt auf dem Couchtisch und schon mehrfach habe ich es angeschielt, zuletzt sogar in meiner Hand gewogen und es dann doch zurückgelegt.

Er hat jedes Recht, wegzulaufen. Wenn er nicht will, dass ich weiß, wo er ist, dann muss ich das akzeptieren. Wobei ich mir lange nicht mehr sicher bin, ob er überhaupt wusste, wohin er wollte. Seit über fünf Monaten wohnt er in unserer Stadt, hat aber außer, um zur Arbeit zu gehen, oder für Spaziergänge und Einkäufe kaum je die Wohnung verlassen. Sich nie mit jemandem getroffen oder sich mit Kollegen angefreundet. Sicherlich kennt er ein paar schöne Orte in der Stadt, aber ich hoffe doch, dass er nicht ohne Socken in einen Park flieht. Auch wenn die Vorstellung, er würde Trost bei jemand anderem suchen, vermutlich noch schlimmer ist.

Ich stehe noch neben dem Tisch mit seinem Handy, als der Bildschirm aufleuchtet und ich Donalds Namen sehe. Eine Nachricht. Und plötzlich, noch mit dem Gedanken im Kopf, Henry würde so bekleidet und in dieser Stimmung vor der Tür eines anderen stehen, sehe ich rot. Wieso schreibt Donald ihm? Abends? Am Wochenende? Wieso hat er überhaupt seine Handynummer? Schreiben sie sich? Mir ist mehr als klar, dass Donald immer noch scharf auf Henry ist, aber geht es Henry vielleicht ähnlich? Ohne zu zögern gebe ich Henrys Code ein, den ich vor Wochen nicht ganz so zufällig aufgeschnappt habe, und sehe mir die Nachricht an. Zu meiner Überraschung ist sie an mich gerichtet. Während sich zuerst Erleichterung breit macht, dass es außer zwei „Hallo, hier ist Henry"- und „Danke, jetzt habe ich deine Nummer auch 😉"-Nachrichten die erste Konversation zwischen den beiden ist, irritiert mich der Inhalt nur noch mehr.

„Gabriel? Ich hoffe, du liest das. Henry ist bei mir, du musst dir keine Sorgen machen. Lass ihm ein bisschen Zeit, ich kümmere mich solange um ihn." Uff. Er kümmert sich um ihn? Und wieso ist Henry zu ihm gegangen? Ausgerechnet! Während ich noch über seine Worte grübele, erscheint eine zweite Nachricht. „Also du weißt sicher, dass es ihm nicht gut geht gerade und er dich nicht sehen will. Aber er ist körperlich unversehrt und ich respektiere eure Beziehung, also mach dir wirklich keine Sorgen."

Das einzige, das zuerst zu mir durchdringt und mir das Atmen erschwert, ist das „Er will dich nicht sehen". In dem Moment, in dem Henrys Augen sich mit Tränen gefüllt haben, habe ich gewusst, dass es passiert war, dass ich ihn verletzt hatte, obwohl das das letzte ist, das ich je beabsichtigen könnte. Und dennoch treffen mich die Worte unvorbereitet. Mich nicht sehen?

Dann sickert auch der Rest der Nachricht zu mir durch. Donald respektiert unsere Beziehung? Obwohl ich ihn nicht für ein riesiges Arschloch halte und nicht glaube, dass er Henrys Situation ausnutzen würde, kann ich dieser Aussage nicht viel abgewinnen. Ich bin noch versucht, ihm zu antworten, da kommt mir eine andere Idee. Dass Henry mich nicht sehen will, heißt nicht, dass ich nicht auf ihn aufpassen darf. Nur zur Sicherheit.

Während ich mich anziehe, kommen mir verrückte Gedanken. Will Donald sich Zeit mit Henry verschaffen, wenn er mir mehrfach versichert, ich müsse mir keine Sorgen machen? Denn ich sorge mich verdammt noch mal sehr! Und wenn er mir schreibt, dass Henry mich nicht sehen will, ist das dann etwas, das Henry gesagt hat? Oder das, was er hinter Henrys Erzählung zu erkennen meint? Oder einfach nur ausgedacht, damit ich auch wirklich hierbleibe? Obwohl ich mich sonst für sehr gelassen halte und Donald als halbwegs vertrauenswürdig beschrieben hätte, kann ich nicht aufhören, ihn mir mit Henry vorzustellen. Mit meinem Henry.

Ausnahmsweise nehme ich das Auto, das unten in der Tiefgarage steht und dessen Batterie trotz der langen Ruhephase zum Glück noch intakt ist. Ich biege um ein paar Kurven, fahre über eine nicht mehr ganz so gelbe Ampel und merke erst da wirklich, wie ich meinen Verstand verliere. Vor der bekannten Adresse halte ich am Straßenrand an und lehne den Kopf gegen das Lenkrad.

Ich bin doch nicht mehr ganz dicht. Ich habe Henry verletzt, vor mir ist er weggelaufen. Wenn Donald sich nun um ihn kümmert und ihn tröstet, ist das ein Freundschaftsdienst. Etwas, für das ich ihm dankbar sein sollte, weil ich ihm gerade nicht helfen kann. Es ist doch nur verständlich, dass Henry mich nicht sehen will. Es gibt keinen Grund, dass Donald sich das ausdenken müsste. Es muss meine rasende Wut auf mich selbst sein, dass ich im Stande war, Henry so zu verletzen, die ich auf Donald projiziert habe. Donald, der Henry einfach nur ein guter Freund ist.

Langsam lehne ich mich wieder zurück, den Kopf gegen die Stütze und überlege, einfach zurückzufahren. Dennoch gleitet mein Blick aus dem Fenster über die recht teuer aussehenden Häuser in der Siedlung, bis zu dem, vor dem ich zum Stehen gekommen bin. Durch das hell erleuchtete Fenster neben der Tür blickt man in den Wohnraum – ungünstig, dass er im Winter von der Straße aus so gut einsichtig ist, und nachlässig, dass niemand Gardinen angebracht hat – in dem ein junger Mann auf dem Sofa sitzt. Kurz bin ich überrascht, als ich ihn wiedererkenne, doch dann erinnere ich mich, dass ich ja selbst seine Adresse herausgesucht habe und hergefahren bin. Doch wenn Donald alleine auf dem Sofa sitzt, wo ist dann Henry? Ob er schon wieder aufgebrochen ist? Zu mir zurück? Ich will den Motor starten und heimfahren, als ich die Bewegung näher am Boden sehe.

Eiskalte Wut flutet meinen Körper, als ich registriere, was vor sich geht. Kurz darauf kann ich mir selbst nicht erklären, wie ich den Weg um das Haus herum und zur Terrassentür gefunden, oder wieso ich solches Glück habe, dass sie angelehnt ist. Einen Moment lang bemerken sie mich gar nicht, was mir genug Zeit gibt, um das Bild ganz in mir aufzunehmen und zu meinem Unglück vermutlich nie wieder vergessen zu können. Henry kniet vor seinem Chef auf dem Boden und bewegt seinen Kopf in seinem Schoß auf und ab. Wobei das nicht ganz richtig ist. Es ist Donalds Hand, die - in die Haare an Henrys Nacken gekrallt - seinen Kopf über seiner Leistengegend auf und ab führt. Seine Oberarmmuskulatur ist angespannt, sodass die zarte Gestalt am Boden keine Chance hat, sich zu befreien. Während Donalds Kopf mit geschlossenen Augen auf der Sofalehne ruht, sind Henrys Augen zusammengekniffen und ich höre den krächzenden Laut, der sich an dem Hindernis in seinem Rachen vorbei herausdrängt.

„Lass ihn los!"

Ich muss nicht brüllen, damit sie sich augenblicklich voneinander lösen und beide ihrerseits mit verschieden angsterfüllten Blicken zu mir aufsehen. Henry löst sich dann als erster aus der Erstarrung und krabbelt, den Rücken zur Wand, von mir davon, bis er in einer Raumecke verharrt und in seine Armbeuge hustet. Sein Blick fällt von mir ab und fixiert den Boden, sein Ausdruck ist leer.

Zwar verspüre ich den wilden Drang, erst zu Donald herüber zu gehen, doch eile ich fünf Schritte auf Henry zu und falle vor ihm ebenfalls auf den Boden. „Ba-... Henry, bist du okay? Hat er dir wehgetan?" Ich will die Hand ausstrecken, ihn wenigstens am Knie oder Schienbein tröstend berühren, doch ebenso wie der Kosename bleibt sie in der Luft hängen. Ich habe kein Recht dazu. Ich habe ihn verletzt. Henry antwortet nicht, sieht mich nicht an. „Bitte, es tut mir so Leid, Henry. Ich wollte nicht, dass sowas passiert!", flehe ich. „Bitte komm mit mir nach Hause und ich erkläre dir alles." Kurz flackert sein Blick auf, in Richtung meiner Augen, bis er sich zu zwingen scheint, ihn wieder auf die Fliesenfugen zu richten. War da Hoffnung in seinem Blick? Oder ist es nur meine Hoffnung, dass noch alles wieder gut werden könnte, die sich das einbildet?

„Scheiße, Gabriel, tut mir Leid. Ich hab' nichts getan, ehrlich! Er hat das von sich aus vorgeschlagen und du könntest diesen Augen doch auch nicht widerstehen, oder?", ertönt eine Stimme hinter mir und ich fahre herum, meine Besorgnis mit einem Mal abgelöst von Wut. Er irrt sich, ich kann, geht mir durch den Kopf, doch stolz darauf bin ich nicht. Immerhin war das der Grund für das Ganze.

Ich drücke mich vom Boden ab und richte mich über Donald auf. „Ist das dein Scheiß-Ernst?", fahre ich ihn an. „Er wollte das!", wimmert er eine Rechtfertigung und ich zeige in die Richtung, in der Henry noch immer an der Wand kauert. „Hast du nicht gemerkt, dass du ihm wehtust?" Ich schreie. Erschrocken blickt er zu Henry herüber, scheint dieses Detail wirklich nicht beachtet zu haben. „T-tut mir Leid, Henry.", murmelt er und scheint es ehrlich zu meinen. Ich blicke zu Henry, der den Blick erhebt und mich endlich wieder ansieht. „Er hat Recht, Gabriel.", flüstert er heiser. „Ich hab' das angefangen." Ich schlucke. Er wollte das. Oh Gott, hat ihm das gefallen? Mag er das, wenn... Will er mich nicht mehr? Gedanken rasen durch meinen Kopf, bis mir eines wieder glasklar einfällt und ich Henry ignorierend Donald anfunkele. „Eine Viertelstunde vorher hast du mir geschrieben, du respektierst unsere Beziehung. Dass ich mir keine Sorgen machen soll. Und dann vergreifst du dich an ihm, weil er dich darum bittet?", halte ich ihm vor. Ich wende mich wieder Henry zu, will kein Wort mehr hören von dem anderen, doch der blickt erschrocken zu Donald herüber.

„W-warum hast du Gabriels Handynummer?", fällt ihm dazu ein. Misstrauisch sieht er den Blonden an, der sich eben noch um ihn „gekümmert" hat. Er rappelt sich vom Boden auf und tritt mit merklicher Distanz neben mich, schaut dann aber auch auf Donald herunter. Woher er meine Nummer hätte, das interessiert ihn genug, um sich wieder zu Wort zu melden? „Henry, bitte komm mit mir nach Hause.", murmele ich in seine Richtung und will ihn doch einfach nur in die Arme nehmen. Mit seinem undeutbaren Blick bedenkt er nun mich statt Donald. „Ha-habt ihr...? Also, du... Nachdem wir neulich..." Hilflos versuche ich seine Satzanfänge in Gedanken zu vervollständigen und habe eine Ahnung, was er meinen könnte, auf die ich antworte.

„Was? Nein, Henry! Er hat meine Nummer doch gar nicht, er wusste bloß, dass ich an dein Handy gehen würde, wenn er dir da schreibt.", erkläre ich ihm, um ihn zu beschwichtigen. „Woher?", flüstert er. Woher Donald das wusste? Ja, woher? Erneut sieht Henry ihn an und obwohl man sich vor ihm wirklich nicht fürchten kann, kriecht Donald unter seinem Blick. „Ach, weil er dich liebt, du Idiot. Du bist klasse, Henry, und ich könnte mich echt in dich verlieben und dir ein gutes Leben bieten und all das. Aber ich weiß genau, ich würde nicht aufhören, anderen Kerlen hinterherzugucken, so bin ich halt. Aber Gabriel ist dir doch komplett verfallen, er würde alles tun, um zu wissen, dass es dir gut geht.", erzählt er und ich merke, wie sich meine Stirn genauso in Falten legt wie Henrys. Für jemanden, der gerade meinen Freund vögeln wollte, sind das ganz schön nette Worte über mich. „Blödsinn.", kommt es schroff aus Henrys Mund und dann geht er zur Haustür. Blitzschnell bin ich bei ihm und drücke ihm die Autoschlüssel in die Hand. „Bitte geh nicht wieder zu Fuß. Du kannst im Auto warten und dir die Heizung anmachen." Zögerlich und ohne mich anzusehen schließt er die Finger um das Metall und verlässt das Haus.

Ich warte einen Augenblick, dann drehe ich mich zu Donald um, der von der Couch aufgestanden ist, seinen Reißverschluss zuzieht. „Es tut mir so Leid, Gabriel, ehrlich. Ich hab' ihm gesagt, wir können das nicht machen und dass dich das verletzt, aber er hat gesagt, das wäre nicht wahr, und da dachte ich, vielleicht habt ihr euch ja getrennt oder so. Dann war er plötzlich an meiner Hose und, Mann, du weißt doch, wie niedlich er ist, da will man einfach..." Ich unterbreche ihn, als er sich in Rage redet, mit meinem Blick. Er schließt den Mund und sieht mich angstvoll an. Dabei weiß er, was jetzt kommt.

„Du wirst Henry nie wieder anfassen, ist das klar? Du wirst ihn nicht mehr angaffen, weil er so niedlich ist oder weil du untervögelt bist. Du wirst ihn auf der Arbeit genauso behandeln wie immer und dafür sorgen, dass ihm das hier nicht unangenehm vor dir ist. Er mag seinen Job verdammt gerne und ich möchte, dass das so bleibt." Donald sorgt dafür, alles rasch mit einem Nicken zu bestätigen. Ohne ein weiteres Wort drehe ich mich zur Tür. „Es tut mir Leid.", höre ich ihn hinter mir noch einmal sagen. Und obwohl ich ihm glaube, dass seine Absichten ursprünglich ehrlich waren, ich ihm eigentlich gar nicht böse sein kann und mich an seiner Stelle vermutlich ähnlich verhalten hätte, spüre ich wieder diese Wut in mir hochkochen. Wut, die eigentlich mich selber meint. Also donnere ich meine Faust in sein Gesicht.

Als ich zu Henry ins Auto steige, sitzt er zusammengekauert auf dem Beifahrersitz und ich fühle seinen ängstlichen Blick auf mir. Wovor hat er Angst? Um wen? Dass das die bessere Frage ist, stelle ich fest, als er raunt: „Hast du ihn geschlagen?"

Ich beiße die Zähne zusammen und starre aus der Windschutzscheibe. Ich kann es nicht fassen. Donald hat das mit ihm getan und Henry macht sich Sorgen um ihn. Ich antworte kühl, ohne ihn anzusehen, obwohl ich nach wie vor nicht ihm böse bin, sondern nur mir: „Er wird es verkraften."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top