Im Büro (7. Januar)
Henrys Sicht:
„Henry, da bist du ja. Ich habe ein paar Kollegen für Freitag zum Abendessen zu mir eingeladen. Komm doch auch vorbei!"
Donald hat mich im Flur aufgehalten und lehnt sich lässig an den Türrahmen seines Büros. Wie eingefroren bleibe ich stehen, nur meine Augenlider flattern wild auf und ab. Ein paar Kollegen, wiederholt mein Gehirn seine Worte, bevor es mich auf das Detail Freitagabend aufmerksam macht. Freitagabende halte ich frei für Gabriel. Erleichtert atme ich auf, taue langsam auf aus der Erstarrung. Ich kann sogar lächeln, als ich erkläre: „Vielen Dank, Chef, aber freitags geht es bei mir nicht." Froh darüber, einem unangenehmen Abend ausgewichen zu sein, möchte ich mich wieder in Bewegung setzen, aber seine Hand an meinem Ellbogen hält ich erneut zurück.
Ich atme tief durch, bevor ich ihn wieder ansehe. Ich mag Donald. Nicht nur, weil er ein guter Vorgesetzter ist, der mit jedem seiner Mitarbeiter einen freundlichen Umgang pflegt. Auch, weil er jetzt dieses warme Lächeln im Gesicht hat, und ich ihm gegenüber, anders als bei anderen Menschen, nur selten das Gefühl habe, unfähig zu sein. Er hat etwas an sich, das mir Sicherheit gibt, dass er mich nicht verurteilt, für das, was ich sagen oder tun – oder in meinem Fall eben nicht sagen oder nicht tun – könnte. „Henry...", sagt er, worauf ich sein Lächeln unwillkürlich ehrlich erwidern muss. „Nächste Woche Samstag?" Er wartet einen Moment ab, bis die Verwirrung bei mir einsetzt. „Ohne Kollegen.", fügt er hinzu.
Und sofort schrillt ein Alarmton durch meine Gedanken. Ich höre Gabriels Warnung in meinem Kopf, sehe seinen eisigen Blick vor mir, am Abend der Weihnachtsfeier. Will er... Will Donald sich mit mir allein treffen? Was hat das zu bedeuten?
Nachdem zuerst die Furcht in mir aufkeimt, keine Ausrede für einen Samstag zu finden, der ich ausreichend selbst Glauben schenken kann, beruhigt mich der Nachsatz ungemein. Ohne Kollegen. Nur Donald und ich, also ganz unkompliziert. Keine Angst, dass irgendjemand mich schief ansieht oder etwas Schlechtes über mich denkt. Keine Gefahr, am Ende alleine und stumm in einer Ecke zu stehen.
Nur der aufblitzende Gedanke an das, was Gabriel davon denken würde, hält mich davon ab, überschwänglich zuzusagen.
Ich schlucke. „A-also ich würde gerne zusagen. Aber... D-du erinnerst dich bestimmt an Gabriel. Ich sollte dich lieber nicht alleine besuchen." Ich beiße die Zähne aufeinander und hoffe, dass er es versteht. Es ist ja nicht, dass ich nicht will, aber auch nicht so, als würde ich nur wegen Gabriels potentieller Bedenken absagen. Ich möchte ihm einfach keinen Anlass geben, sich schlecht zu fühlen.
Donald überrascht mich, als er seine Hand in meine legt und mich in sein Büro zieht. Ein ersticktes Lachen überkommt mich, als er die Tür leise ins Schloss drückt und mich an den Schultern zu dem weichen Sessel dirigiert, der vor seinem Schreibtisch steht. Fügsam lasse ich mich in das weiche Polster sinken und beobachte, wie er sich einen Metallstuhl neben mich heranzieht. Dann legt er seine Hände auf die Armlehne meiner Sitzgelegenheit, blickt mir von unten ernst in die Augen.
Nanu? Was wird das denn jetzt? Geht es noch um das Abendessen?
„Hör mal Henry, ich bin wirklich nicht in der Position, so ein Gespräch mit dir zu führen. Wir sind nicht befreundet, auch wenn ich mir Mühe gebe." Er schmunzelt mich an, wird dann aber schnell wieder ernst. „Ich habe einfach die Sorge, dass es niemand anderen gibt, der mit dir darüber spricht, also wollte ich es zumindest ansprechen."
„Ähm...", unterbreche ich ihn, ohne wirklich etwas sagen zu wollen. Bloß eine Pause schaffen zwischen dem, was er sagt, und dem, was er sagen will, denn diese Ansprache verwirrt mich wirklich sehr. Er will über ein heikles Thema mit mir reden, für das ich möglicherweise keinen Gesprächspartner habe? „Also ich wurde aufgeklärt, als ich elf war.", witzele ich nervös und erinnere mich, dass die Aufklärung meiner Eltern darin bestand, dass sie mir ein Buch in die Hand gedrückt haben.
Donald grinst mich an, und da ist es wieder: Dieses warme Gefühl, dass er nicht einmal dann über mich lachen würde, wenn ich einen eindeutig schlechten Witz gemacht habe. Stattdessen gibt er mir das Gefühl, einfach vollkommen in Ordnung zu sein.
„Das ist gut zu wissen.", behauptet er und legt seine Hand auf meinen Unterarm. „Aber es geht um was anderes. Ich weiß nicht richtig, wie ich es sagen soll." Mit der freien Hand streicht er sich übers Gesicht und scheint dann zu beschließen, es einfach zu wagen. „Ich habe dich jetzt schon seit ein paar Wochen mit den Kollegen beobachtet. Und ich war auf der Weihnachtsfeier, da war es das gleiche. Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht mal mit jemandem reden möchtest." Mit jedem Wort wird er leiser und mir mulmiger zu Mute. Ich spüre, wie diese vorwitzige Hitze in mit emporsteigt und oberhalb meines Hemdkragens sichtbar wird. Darum geht es.
Donald nestelt an einem Stapel auf seinem Schreibtisch herum und zieht eine Visitenkarte hervor. „Ich kenne das von meiner Nichte. Mir ist schon klar, dass manche Menschen einfach schüchtern sind, und das ist auch überhaupt nichts Schlimmes. Du bist wunderbar, ganz egal, ob du gerne mit anderen Menschen sprichst oder dich lieber zurückziehst. Aber ich weiß, dass es einigen Menschen nicht immer gut damit geht, dass sie so schüchtern sind. Und ich möchte, dass es dir gut geht."
Bei den letzten Worten drückt er sanft meinen Arm, im selben Moment, in dem mir eine Träne über die Wange rollt. Mit allem hätte ich gerechnet, aber nicht damit. Und irgendwie will ich ihm widersprechen. Ich muss mit niemandem sprechen, mir geht es nicht schlecht.
Und dann denke ich an den erwähnten Abend der Weihnachtsfeier. Denke daran, wie Magda nicht einmal meinen Namen wusste. Wie es sich angefühlt hat, dass sie sich alle so gut mit Gabriel verstanden haben, für den das alles nur ein Zeitvertreib war, während es für mich nützliche Beziehungen sein könnten. Ich denke an die Feier bei seiner Freundin, an das kleine Baby, das mich so aus der Bahn geworfen hat. An meine fiesen Cousins.
Erst da wird mir so richtig klar, dass er recht hat. Dass ich eben nicht nur schüchtern bin, sondern dass es mich belastet. Ehe ich richtig realisiere, dass ich weine, haben zwei erstaunlich starke Arme mich vom Sessel und an eine warme Brust gezogen. Die Arme legen sich über meinen Rücken, ziehen mich näher. Der gemächliche Rhythmus, mit dem das zweite Herz von außen gegen meine Brust pocht, beruhigt mein eigenes.
„Tut mir Leid, Henry. Ich wollte dir nicht wehtun.", murmelt Donald. Ich schüttele den Kopf an seiner Schulter. „Hast du nicht. Mir war nur irgendwie nicht klar..." Ich spüre ihn nicken. Und dann hält er mich noch eine Weile. Warm und fest und mit dem beruhigenden Herzschlag, der meinen eigenen nach und nach synchronisiert.
Als er mich loslässt, steht ein Grinsen in seinem Gesicht. „Du solltest Gabriel einfach mitbringen. Nächste Woche Samstag.", schlägt er vor. Ich muss lachen, während ich mir mit dem Hemdsärmel das Gesicht trocken tupfe. Der Stoff saugt die Feuchtigkeit nur dürftig auf. Dann nicke ich. „Okay. Ich frage ihn.", versichere ich. Bevor ich sein Büro verlassen kann, steckt er die Visitenkarte in meine Hemdtasche und klopft mit der flachen Hand von außen dagegen.
Mit einem Schritt rückwärts trenne ich seine Hand von meiner Brust und nicke ihm zu. Ich bin zittrig, als ich auf den Flur trete. Sicherlich kommt das von der unerwarteten Offenbarung, dass ich tatsächlich leide. Doch in dem Moment kann ich nur über Donalds seltsame Berührungen nachdenken. Wie er mich Hand in Hand in sein Büro zieht. Meinen Arm streichelt. Die wirklich angenehme, tröstende Umarmung. Und die Hand an meiner Brust. Die Bilder huschen in wilder Folge durch meinen Kopf, gemeinsam mit dem Gedanken an Gabriel und wie wenig ihm das gefallen wird.
Es hört sich ein bisschen panisch an, als ich zu hastig einatme. Gabriel. Mein lieber Gabriel. Ob er mir vertrauen wird, dass das nichts zu bedeuten hat?
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