Großmutter (24. Oktober)


Als Henry abreist, winke ich dem Zug nach. Irgendwie weiß ich nicht, wie ich drei Tage ohne ihn überstehen soll, obwohl das wirklich lächerlich klingen muss. Abends denke ich an ihn und wie er mit nichts als diesem roten Spitzenhöschen am Körper unter meine Decke gekrochen ist. Wie süß er gestöhnt hat für mich. Und sich in der Nacht warm an mich gekuschelt. Am nächsten Morgen wache ich mit einem Ständer auf und versuche, ihn durch eine kalte Dusche zu beruhigen. Ich telefoniere sogar mit meiner Schwester, die mir von irgendeinem „schnuckeligen Typen" aus der Schule erzählt und mich dann ihrerseits fragt, ob es „jemand Besonderen" gibt.

„Ach, lass mich bloß in Ruhe, Tina.", murmele ich patzig, merke selbst, dass ich wie ein kleines Kind klinge. Ich mag nicht über Henry reden, kriege meine Gedanken ja sowieso schon nicht von ihm los.

„Oh, Liebeskummer?", säuselt sie höhnisch und ich schnaube in den Hörer. Als ich keine differenziertere Antwort gebe, fragt sie etwas ernsthafter nach. „Aber es gibt jemanden, oder? Wer ist er?"

Ich atme einmal tief durch und entscheide dann, dass ich um das Gespräch ohnehin nicht herumkommen werde. Vermutlich ist es besser, ihr die groben Fakten jetzt zu berichten, als es zu tun, wenn Henry wieder hier ist und jederzeit an meiner Zimmertür klopfen kann. Und allemal besser, als es gar nicht zu tun, sodass sie mich ausfragt, wenn sie mich das nächste Mal besuchen kommt und er dabei ist.

„Ich habe doch vor ein paar Monaten einen Mitbewohner gefunden?", erinnere ich sie. Sie kichert leise, tut dann aber reifer, als sie ist. „Ach ja, dieser Langweiler, der sich immer in seinem Zimmer versteckt, wenn wir da sind." Ich verdrehe die Augen. „Er ist nur sehr schüchtern." Unwillkürlich muss ich an sein hilfloses Gestammel in meinem Zimmer denken. Wie zaghaft er eingefordert hat, dass ich währenddessen mit ihm rede. Mit Zeigefinger und Daumen reibe ich mir den Nasenrücken, um mich wieder auf mein Telefonat zu konzentrieren. „Du meinst, er ist hässlich.", erwidert Tina und gackert wie das kleine Teenagermädchen, das sie nun einmal ist. Traurigerweise kann ich nicht mit ihr rumalbern. Nicht, wenn es um Henry geht. „Ich könnte dir ein Foto schicken, aber ich lasse es. Du siehst ihn ja irgendwann und dann wirst du dich echt ärgern, das auch nur vermutet zu haben."

„Ohhh... Du bist ja richtig verliiiebt!", quietscht sie. Und dann: „Warte, wenn ich ihn irgendwann sehen werde, heißt das, dass er dich echt als Freund haben will? Seid ihr zusammen?"

Ich seufze. „Mann, Tina, du sollst mich ablenken. Können wir nicht wieder über deinen Tim sprechen?"

„Tom.", korrigiert sie. „Und nö. Dein Leben ist viel spannender. Da passiert ja immerhin mal was."

Ein erneutes Seufzen entweicht mir. „Na dann... Tschü-hüß" Ich lege auf, wissend, dass sie mir nicht böse sein wird.

Auch auf die Arbeit kann ich mich nicht besonders konzentrieren, obwohl ich tatsächlich ein Projekt für einen Stammkunden abschließe. Und dann ist Samstag und Henry wird um 15:23 am Bahnhof ankommen.

Ungeduldig warte ich am Bahnsteig auf den Zug, für den bereits zehn Minuten Verspätung angekündigt sind. Zum Glück bleibt es dann bei sieben Minuten, die mir wie mindestens dreißig vorkommen, und hinter zahllosen Damen und Herren in Business- Kleidung steigt mein fröhlicher Lockenschopf aus einem der Abteile. Zuerst kommt er noch ziellos in meine Richtung gelaufen, die Reisetasche über seiner Schulter zieht seinen Körper in eine Schieflage. Als er mich ebenfalls erblickt, läuft er los. Wie in einem dieser kitschigen Liebesfilme lässt er sein Gepäck kurz vor mir fallen und springt – ein Glück, dass ich genug solcher Filme gesehen habe, um zu wissen, was folgt, und mein Gewicht rechtzeitig zu verlagern – in meine Arme. Seine Hände verschränkt er fest in meinem Nacken, die Beine oberhalb meiner Hüfte, während sich meine ganz automatisch stützend unter seine Oberschenkel legen. Dann endlich liegen seine drei Tage lang vermissten Lippen auf meinen und es ist, als gehörten sie genau dahin.

Nach einer Weile löst er sich von mir, lehnt sich ein wenig zurück, um mein Gesicht zu betrachten, grinst mich an. Ich schiele kurz nach seiner Tasche, die noch immer vor mir auf dem Bahnhofsboden liegt. Seine Lippen finden meinen Hals und knabbern selbstsicher an der Stelle unter meinem Ohr, was mich leise aufstöhnen lässt. Mein Blick flackert über das Gleis, das sich mittlerweile gelichtet hat. Henry summt neben meinem Kopf, seine Locken kitzeln meine Wange. „Hab' dich vermisst, Daddy.", murmelt er und bringt mich damit gnadenlos aus der Fassung.

Ich stelle ihn ab und umfasse sein Gesicht, ziehe es wieder nah zu meinem heran. „Und ich hab' dich vermisst, Liebling. Aber du solltest meine Geduld nicht strapazieren. Bahnhoftoiletten sollen ganz schön ungemütlich sein.", erkläre ich ihm schmunzelnd, worauf er niedlich die Nase rümpft. „Nach Hause?", frage ich. Dabei hebe ich seine Tasche auf, lege mir den Riemen über die Schulter und halte ihm die Hand hin. Er ergreift sie, ohne zu zögern. „Nach Hause!", entscheidet er.

Nachdem Henry seine Tasche ausgepackt hat, kommt er zu mir ins Wohnzimmer und kuschelt sich auf dem Sofa an mich. Ich lege meinen Arm um seinen Körper und ziehe ihn näher, vergrabe mein Gesicht in seinen Locken. „Hmmm.", seufze ich, einfach froh, dass ich ihn wiederhabe, ihn berühren kann. „Du riechst anders.", fällt mir auf. Henry kichert. „Hoffentlich nicht nach Omas Alte-Frauen-Seife." Ich schüttele unsichtbar für ihn den Kopf und überlege, woher ich den Geruch kenne. Irgendwo ist er mir schonmal begegnet. „Nein, eher nach... nach Frau.", stelle ich fest, auch wenn mir nicht klar ist, was an diesem Geruch ihn zur Weiblichkeit qualifiziert. Irgendwie erinnert er mich an eine gute Freundin aus Studienzeiten. Und an eine Klassenkameradin meiner Schwester, die sich mir immer ungefragt auf den Schoß gesetzt hat, ehe Tina ihr erklärt hat, dass das nichts werden würde.

Ich schüttele den Gedanken ab und erinnere mich an das, was er über seine Oma und die Seife gesagt hat. „Wie... wie war die Beerdigung?", frage ich nach und hoffe, dass ich damit nichts Falsches sage. „Großartig!", zerstreut Henry mit ehrlicher Begeisterung meine Bedenken. „Ich bin so froh, dass ich da war. Ich konnte sogar ein paar Worte sagen."

Ich schmunzele, richte Henry ein wenig auf, damit ich ihn ansehen kann. Dass er zu der Beerdigung wollte, hatte ich zunächst für Pflichtgefühl gehalten, denn zu seiner Familie hat er nur sporadisch und eher neutralen Kontakt. Doch seine Großmutter scheint ihm wirklich wichtig gewesen zu sein. Dass er vor seinen Verwandten sogar eine kleine Rede für sie gehalten hat, beeindruckt mich. Er muss sie sehr gemocht haben.

„Was hast du gesagt?", wage ich mich vor. Henry lächelt mich an und erzählt: „Naja, dass meine Oma einfach super war. Als ich ein Kind war und wir sie besucht haben, da habe ich einmal ihren Schmuck angezogen. Ich habe mich richtig vollgehängt mit ihren Ketten, alle übereinander. Papa hat dann irgendwas geschimpft und ist weggestürmt und Mama hat versucht, mir ganz ruhig zu erklären, dass Jungen keinen Schmuck tragen. Aber Oma hat mir über den Kopf gestreichelt und gesagt: ‚Die blaue steht dir ganz besonders gut, Kleiner'. Sie hat sie mir geschenkt. Und von da an bin ich immer zu meiner Oma gegangen, wenn ich mal das Gefühl hatte, anders sein zu wollen und keiner versteht es." Sein Blick driftet ab und ich kann förmlich zusehen, wie eine andere Sequenz aus seiner Erinnerung vor seinen Augen sichtbar wird, während seine Mundwinkel in Zeitlupe herabsinken. Ich drücke seine Schulter und versuche, aufmunternd zu lächeln. „Gut, dass du sie hattest." Henry nickt, dann lehnt er seinen Kopf erneut an meine Schulter und reibt wie ein verschmustes Kätzchen seine Wange an mir. „Und gut, dass ich wieder hier bin.", murmelt er.

Sein Kopf wippt, als ich unter ihm lache. Ich ziehe ihn auf meinen Schoß und halte sein Gesicht Zentimeter vor meinem, schaue endlich in die riesigen, dunklen Augen, die ich so liebe. „Ich hätte es nicht mehr länger ohne dich ausgehalten.", behaupte ich und überbrücke die restliche Distanz für einen Kuss.

Sonderbarerweise wird der neue Geruch an Henry stärker, als ich ihn ganz dicht vor mir habe. Testweise lasse ich meine Lippen über seine Kieferpartie und an seinem Hals hinab wandern. Der Geruch wird schwächer. Ich lehne mich zurück und mustere ihn irritiert. „W-was?", flüstert Henry verunsichert.

Henry

„Das erfindet er doch. Wer sollte mit dem zusammen sein wollen?" Die Stimme meines Cousins geht mir wieder durch den Kopf, als Gabriel sich von mir weglehnt, anstatt den Kuss zu vertiefen.

Schon früher haben meine Cousins sich über mich lustig gemacht, mehr noch als die Kinder in der Schule. Weichei, Schwächling, Tunte, ... Dabei habe noch nicht einmal ich selbst damals gewusst, dass ich mich einmal in einen Mann verlieben würde. Und als meine Tante bei der Trauerfeier ihre gemachte Nase in die Höhe reckt und spitz fragt: „Na, wann tanzen wir denn wohl auf deiner Hochzeit, Henry?" - bloß weil ihr Sohn auf der Beerdigung allen seine Verlobte vorstellen musste -, weiß ich, was sie damit eigentlich sagen will. Dass sie nicht glaubt, dass ich jemanden finden werde, für immer allein bleibe, weil ich ein Sonderling bin und all das. Irgendwie überkommt es mich in dem Moment. Auch, weil ich an meine Oma denke und daran, wie wenig sie die Frau ihres Sohnes leiden konnte. „Ach, nach drei Monaten kann ja noch nicht von Hochzeit die Rede sein.", sage ich möglichst flapsig daher und greife mir ganz beiläufig das letzte Brötchen aus dem Korb. Während meine Tante und ihre Söhne mich verblüfft anstarren, meldet sich meine Mutter mit ihrer Säuselstimme von der Seite zu Wort. „Oh, du hast gar nicht erzählt, dass du jemanden gefunden hast, Schatz!" Ich wende mich ihr zu und sehe die Hoffnung in den Augen.

Ich erinnere mich gut daran, wie ich mit fünfzehn Jahren zuhause einen rosafarbenen Schlafanzug mit Kätzchen darauf getragen habe und sie mich entsetzt angesehen hat. „Den ziehst du nur zuhause an, Henry!", hat sie geschimpft. „Du kannst lieben, wen du willst, aber du machst unserer Familie um Himmels Willen keine Schande!" Ob sie da auch schon geahnt hat, dass es niemals eine Frau an meiner Seite geben würde?

Ich nicke und erkläre mit fester Stimme: „Ich habe einen Freund." Erstaunt sieht sie mich an, meine Tante verschluckt sich auf der Gegenüberliegenden Seite des Tisches an ihrem Rotwein und mein Cousin sagt diesen einen schlimmen Satz. Wer sollte mit dem zusammen sein wollen?

In dem Moment ist mir dann ein ganz ähnlicher Gedanke gekommen. Nicht Gabriels Gefühle oder seine Ehrlichkeit habe ich hinterfragt, sondern bloß diese dumme Behauptung, die ich meiner Familie aufgetischt habe. Einen Freund. Sind wir denn überhaupt offiziell zusammen? Ist es okay für ihn, wenn ich meiner Mutter das erzähle? Oder will er das nur zwischen uns halten? Innerhalb der Wohnung lassen, wo in der Regel niemand reinschneit und hinterfragt, ob ich beim Sex durchbrechen könnte.

„Sag mal, dieser Geruch...", lenkt Gabriel mich ab und streichelt über meine Stirn, meinen Nasenrücken, spart äußerst gekonnt meine linke Wange aus. Als ob er wüsste... Aber seine Vermutungen gehen in eine ganz andere Richtung. „Hast du... Hast du mit einer Frau rumgeknutscht?" Belustigt sieht er mich an, worauf sich meine Augen weiten. „W-was? Nein! Wieso... Natürlich nicht!", empöre ich mich und brabbele noch weiter Versicherungen, bis er mich beschwichtigt. „Schon gut, Henry, tut mir Leid. Du riechst nur irgendwie so..." Ich schüttele den Kopf. „Du denkst wirklich, dass ich sowas machen würde, bloß weil ich anders rieche?", hake ich nach und frage mich wirklich, wie er mir das zutrauen kann. Nicht nur, dass er wissen müsste, dass ich an niemandem Interesse habe, als an ihm, muss ihm doch klar sein, dass keine Frau... Denn wer will schon mit dem was anfangen?

„Ich kann es mir einfach nicht erklären." Gabriel zuckt entschuldigend mit den Schultern. Ich schüttele noch einmal den Kopf, dann lehne ich mein Gesicht an die Stelle über seinem Schlüsselbein und küsse seinen Hals.

Wieder schiebt er mich ein kleines Stück von sich weg, um mich anzusehen, und wieder versetzt es mir einen kleinen Stich. „Aber du kannst es. Du weißt, was ich meine, oder?" Schnell schüttele ich den Kopf und will ihn auf andere Gedanken bringen, als ich den Fleck sehe, den ich mit meiner Wange auf seinem schwarzen Shirt hinterlassen habe. Was jetzt? Früher oder später wird es ihm auffallen, dann erfährt er es sowieso. Gabriel bemerkt mein Zögern und packt mein Gesicht etwas gröber als zuvor für den Kuss. Seine Handwurzel drückt gegen meine Wangenknochen und ich verziehe unwillkürlich das Gesicht.

„Was ist?", Gabriel zieht seine Hände weg und betrachtet mich genauer. Ich beiße die Zähne zusammen und senke den Blick. Ich habe wirklich gedacht, dass ich es ihm nicht unbedingt erzählen muss. Die optische Täuschung scheint mir auch gut gelungen zu sein, aber an den Geruch des farbigen Zeugs habe ich nicht gedacht. Blitzschnell hebt er mich von seinem Schoß und stellt mich auf die Beine, nur um mich dann über den Flur ins Badezimmer zu ziehen. „Geht das mit Wasser ab?", fragt er. Ich schüttele den Kopf und krame aus meiner Schrankseine das Reinigungs-fluid (oh man, heißt das so?) hervor, ohne ihn anzusehen. Während ich mir unter Gabriels musterndem Blick das Make-up vom Gesicht wasche, überlege ich, wie ich die Geschichte erzählen soll. Gibt es irgendeine Möglichkeit, bei der ich nicht wie der absolute Verlierer dastehe?

Ich tupfe mir mit dem Handtuch das Gesicht trocken und lasse ihn die dunkle Stelle unter meinem Wangenknochen betrachten.

Plötzlich bin ich in seinen Armen und werde an seine starke Brust gedrückt. „Oh, Henry!", seufzt er. „Sowas kannst du mir doch erzählen! Wer war das? Wer hat dir wehgetan?"

Ich atme seinen Duft ein und schmiege mich noch etwas enger an seine Muskeln. Erst jetzt merke ich, wie sehr ich das brauche. Dass er mich hält und meinen Namen seufzt und fragt, wer mir wehgetan hat. Mit diesem lieben, arglosen Klang in der Stimme, aber der Verheißung, dass denjenigen nichts Gutes erwartet.

„D-das war nicht weiter schlimm.", stottere ich, weil ich ja auch nicht will, dass er es für eine große Sache hält. „Victor hat..." „Wer ist Victor?", unterbricht er mich. Und wieder höre ich, wie er am liebsten vor Wut knurren würde, aber er bleibt ganz sanft. „Mein Cousin."

Gabriel hält mich auf Armeslänge von sich weg.

„Pass auf: Ich mache dir einen Kakao und dann erzählst du mir alles ganz in Ruhe, okay?"

Also erzähle ich es ihm. Wie Victor nachts an meine Zimmertür geklopft hat und einfach hereingeplatzt ist. Dass er wahrscheinlich betrunken war. „Blas mir einen!", hat er gesagt und ich habe verblüfft nachgefragt, was er meint. „Du hast doch gesagt, du bist schwul. Also los, blas mir einen!" Ich habe durchgeatmet und ihm meine Meinung gesagt. „Das habe ich nie gesagt. Und wenn du schon keine Frau findest, die was mit deinem Schwanz zu tun haben will, was bringt dich dann auf die Idee, dass ich das will?" Statt mich, betrunken und wesentlich stärker als ich, zu irgendetwas zu drängen, hat er nur seine Faust auf mein Gesicht krachen lassen.

Gabriel betrachtet mich geschockt. „Ein Glück, dass er es damit hat gut sein lassen, Baby.", flüstert er und streichelt hauchzart über mein Veilchen. „Wenn er dir irgendwas Schlimmeres angetan hätte, ..." Ich greife seine Hand und küsse seine Fingerspitzen. „Es ist ja nichts weiter passiert." Gabriel nickt abwesend, dann lacht er kurz. „So aufmüpfig kenne ich dich gar nicht." Ich grinse ihn an. „Ich hab' meine Momente.", gestehe ich und verdiene mir sein wunderschönes Lächeln, das mich innerlich wärmt.

„Henry?" Eine Weile später liegen wir nebeneinander auf dem ausgezogenen Sofa im Wohnzimmer, weil wir noch nicht getrennt voneinander ins Bett gehen wollen, und Gabriel malt Muster auf meine Brust. „Mh?", brumme ich müde. „Wieso hast du es überschminkt?" „Hm?", entgegne ich, komme nicht ganz hinterher, was er meint. „Du wolltest nicht, dass ich das sehe. Aber du sagst doch, es sei nichts Schlimmes passiert. Du hättest es mich ja gleich am Bahnhof sehen lassen können.", erklärt er sich. Ich beiße mir auf die Lippe und verfolge seinen Finger bei einer Halbkreisbahn über meinem linken Rippenbogen. „I-ich wollte nicht, ... dass du denkst..." „Was denn?", hilft er mir, als ich stocke. „Da-dass ich mich nicht verteidigen kann." Waschlappen, höre ich meine Cousins im Chor rufen. Weichei. „Dass ich ein Schwächling bin, weißt du?"

Mit meinem Ohr auf seiner Brust sendet sein tiefes Lachen Vibrationen durch meinen Körper. „Ach Henry.", sagt er. „Nichts an dem, was du mir erzählt hast, lässt dich schwach aussehen. Du hast ihm doch die Stirn geboten. Und dich vor deine ganze Familie hingestellt und etwas über deine Großmutter erzählt. Das war mutig." Ich versuche zu lächeln, aber es gelingt mir nicht richtig.

„Und hier bei mir musst du nicht stark sein.", fährt er fort. „Hier sollst du dich sicher fühlen und einfach sein können, wie du willst." Bei den Worten zieht er mich fester an seine Brust und mir entfährt ein wohliges Seufzen.

Erst da merke ich, dass ich keine Angst davor hatte, dass er denkt, ich wäre nicht stark. Sondern nur davor, dass er das von mir erwarten würde.

„Danke, Gabriel.", flüstere ich und lasse ihn meinen Kopf küssen.

Danach ist die Stimme in meinem Kopf zumindest für eine Weile verstummt. Die, die mich fragt, wer mich denn schon wollen könnte.

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